Klassikertext
Fünfzig Jahre Kampf um
den Marxismus 1883-1932


von Henryk Grossmann (1932)

04/09

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A. Die Marxisten der Frühperiode

Bis zum Ausgang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die Umstände für das Verständnis der Marxschen Ideen – auch innerhalb des sozialistischen Lagers – wenig günstig. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich schon daraus, daß das Kapital zunächst nur als Torso, als nur einer von mehreren Bänden, vorlag. Es vergingen noch fast drei Jahrzehnte, ehe die das System zum Abschluß bringenden Bände (von Engels aus dem Nachlaß herausgegeben) erschienen (Bd.II 1885, Bd.III 1895). Und es vergingen noch weitere fünfzehn Jahre, ehe Karl Kautsky den letzten Band der Theorien über den Mehrwert herausgegeben hatte (1910). Diese, von Marx als vierter Teil des Kapital gedacht, sind eine großartige Geschichte der politischen Ökonomie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, der die bürgerliche Geschichtsschreibung nichts Gleichwertiges zur Seite stellen kann.

Noch während des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung konnte in Deutschland vom
„Marxismus“ kaum die Rede sein (viel weniger noch in den anderen Ländern). Zwischen der
Arbeiterbewegung und den Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus bestand nur ein sehr
lockerer Zusammenhang. Noch lange Jahre nach dem Tode Lassalles stand die deutsche Arbeiterbewegung unter dem Einfluß der Lehren und des Wirkens Lassalles. Im übrigen schöpfte sie ihre Gedanken und Empfindungen aus den Erinnerungen an 1848, aus Proudhon, Rodbertus und Eugen Dühring. Viele Sozialisten begründeten ihre Forderungen mit der Berufung auf Ethik und Humanität oder orientierten sich an den Veröffentlichungen der „Internationalen Arbeiter-Association“. Als auf dem Kongreß zu Gotha (1875) die beiden Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung (die sog. „Lassalleaner“ und die marxistischen „Eisenacher“) sich vereinigten, wurden in das neubeschlossene Gothaer Programm die Ideen und Forderungen Lassalles zu seinen Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei, Berlin 1922). In beiden Parteien organisierten sich zuerst nicht die Arbeiter der großen Industrie, sondern das Gros der Bewegung bildeten jene Arbeiter wie Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tabakarbeiter usw., die mit dem Kleinbürgertum noch in engeren Beziehungen blieben. Die Broschüren und Losungen Lassalles, seine verschwommenen Auffassungen vom Staat, die vollkommene Unklarheit über das Ziel der Partei, entsprachen offenbar der damaligen Unreife der Arbeiterbewegung viel mehr als das geschlossene und großartige Gebäude der Marxschen Theorie. Selbst die führenden Köpfe der Arbeiterbewegung waren lange nicht imstande, die eigentlichen Schwerpunkte der Marxschen Lehre zu erfassen. Charakteristisch dafür ist das Ersuchen W. Liebknechts (1868), der doch während seines Londoner Aufenthaltes in engen Beziehungen zu Marx gestanden hatte, Engels möge in einem Aufsatze für das Parteiorgan klarmachen, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen Marx und Lassalle liege. Aus der Korrespondenz zwischen Marx und Engels ist zu ersehen, wie peinlich Marx die Tatsache empfand, daß die deutschen Parteikreise eine fast unglaubliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Kapital zeigten.

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Editorische Anmerkungen

Zuerst veröffentlicht in dieser Form als die Broschüre Fünfzig Jahre Kampf um den Marxismus 1883-1932, Fischer, Jena, 1932
und auch als der 7te Teil des Aufsatzes Sozialistische Ideen und Lehren I in Ludwig Elster (Hrsg.) Wörterbuch der Volkswirtschaft, Dritte Band vierte Auflage, Fischer, Jena 1933, S.272-341.

Die Erstveröffentlichung im Netz erfolgte bei http://www.marxists.org