Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Strasburg an den Tagen danach
Knaststrafen, Klagen gegen die „Sicherheits“kräfte und Polemik um die Polizeistrategie

 

04/09

trend
onlinezeitung

Die französische Innenministerin nutzt die Gunst der Stunde, um die Einführung eines Vermummungsverbots zu fordern. Am Mittwoch Abend demonstrierten Bewohner/innen des Hafenviertels von Strasbourg, die sich durch die Polizeistrategie „geopfert“ fühlten.

Drei junge Deutsche im Alter von 23 bis 26 Jahren sind am Montag in Strasbourg zu drei- bzw. sechsmonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt worden. Die Urteile haben nichts mit den - tatsächlich kriminellen - Brandstiftungen vom Samstag zur Mittagszeit zu tun. Sie betreffen vielmehr ausschließlich Vorwürfe, die mit (behauptetem oder stattgefundenem) militantem Vorgehen bei Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, die in Strasbourg anlässlich des NATO-Gipfels zusammengezogen worden waren, zusammenhängen.

Einem 25jährigen, der zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde, wird etwa zur Last gelegt, er sei am Samstag „dabei gesehen worden“, wie er Steine auf die Polizei geworfen habe. Dem 23jährigen (er erhielt drei Monate Haft ohne Bewährung) wird vorgeworfen, er sei am Freitag im Besitz einer Eisenstange festgenommen worden. Ein dritter Verurteilter (sechs Monate ohne Bewährung), im Alter von 25 Jahren, soll ebenfalls am Freitag im Besitz einer Axt gewesen sein. Solche Werkzeuge dürften aber wohl zum Errichten von Barrikaden oder für andere Arbeiten, und nicht zum Zuschlagen, benutzt worden sein.

Die Vorwürfe betreffen also nicht die wirklich kriminellen Handlungen in Gestalt von Brandstiftungen, sondern lediglich reale oder behauptete Zusammenstöße mit den uniformierten Ordnungshütern. Insofern ist Solidarität mit den Angeklagten nötig und legitim. Zwei der o.g. Verurteilten haben angekündigt, unmittelbar in den Hungerstreik zu treten. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com )

Insgesamt wurden bei den Ereignissen Ende vergangener Woche 300 Personen in Strasbourg festgenommen, und 49 verletzt. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/web/) Am Sonntag - dem Tag, an dem die „Ordnungshüter“ auch das Camp der Antimilitaristen im Süden von Strasbourg durchkämmten und die Personalien der Anwesenden überprüften - befanden sich zwölf Personen in Polizeigewahrsam. Unter ihnen sollten sechs ab Anfang der Woche im Eilverfahren den Richtern vorgeführt werden. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr)

Unterdessen tobt die Polemik um den Polizeieinsatz vom Samstag. Der ‚Mouvement de la Paix’ (traditionelle Friedensorganisation aus KP-nahen Leuten und Christen, deckt in etwa das deutsche Ostermarschspektrum ab, ausgesprochen gewaltlos) hat am Montag angekündigt, aufgrund der Tränengasangriffe auf seinen Lautsprecherwagen Strafanzeige gegen die Sicherheitskräfte zu erstatten, und sucht nach Augenzeugen dafür. Zudem stellt der ‚Mouvement de la Paix’ die Auswahl der Angriffsziele der Polizei in Frage: Während man die Brandstifter am Samstag im Rheinhafen - einem der mit Abstand ärmsten Viertel von Strasbourg - habe anderthalb Stunden lang gewähren lassen, seien friedliche Teile der Großdemonstration massiv attackiert worden. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/ ) Unterdessen sprach Olivier Besancenot, Sprecher des Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA, ‚Neue Antikapitalistische Partei’) als stärkster Organisation der undogmatischen radikalen Linken, von einer „Falle“ für das Gros der Demonstration. Der NPA fordert die Freilassung Aller, die bei den Protesten festgenommen worden seien. Angesichts der Tatsache, dass die Repression vor allem gezielt den Ausdruck von - friedlichem oder militantem - Protest getroffen hat und dass der Apparat offenkundig keinerlei Interesse an der Verhinderung der tatsächlich kriminellen Brandstiftungen hatte, ist diese Forderung absolut legitim. (Ebenso legitim wie aber auch jene, den Brandstiftern tüchtig auf die Fresse zu hauen - wüsste man denn genauer, wer dahinter steckt…)

Unterdessen demonstrierten am Mittwoch Abend mehrere Hundert Bewohner/innen des Rheinhafens (Port du Rhin) von Strasbourg, eines der ärmsten Quartiere der ostfranzösischen Stadt. Diese Menschen beklagen sich, dass ihr Stadtviertel am Samstag durch die Polizeistrategie „geopfert“ worden sei, die anderthalb Stunden lang die „Gewalttäter“ in diesem peripheren Teil der Stadt gewähren ließ, während ein aufgeblähter militarisierter Sicherheitsapparat das Zentrum und den Gipfel (dafür allein 10.000 Polizisten und 1.500 Soldaten) schützte. Die DemonstrantInnen vom Mittwoch - die das Gefühl hatten, dass sie und ihre Interessen den Apparat nicht interessieren - forderten keine generell repressivere „Sicherheits“politik, etwa in Gestalt von allgemeiner stärkerer Polizeipräsenz. Vielmehr warfen sie überwiegend soziale Forderungen auf: Verlangt wurden „Arbeitsplätze (in diesem Außenbezirk) und eine Straßenbahnlinie, um zu vergessen“ (im Origintalton: ‚Des emplois et un tram, pour oublier’). Das weit außerhalb des Stadtkern gelegene frühere Hafen- und Zollviertel soll laut offiziellen Plänen ab 2013 durch eine Straßenbahn, die bis ins deutsche Kehl auf dem gegenüberliegenden Rheinufer verkehren soll, an das Zentrum von Strasbourg angebunden werden. Noch ist es aber weitem nicht so weit. (Vgl. http://www.lemonde.fr/web )

Staatsmacht höchst zufrieden - also mutmaßlich keine „Polizeipanne“

Präsidentenberater Claude Guéant hat unterdessen am Montag früh im Radiosender ‚Europe1’ die Einsatzstrategie klar gerechtfertigt, auch die Tatsache, dass man die Brandstifter 60 bis 90 Minuten lang ungestört am Werk ließ. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr) Le Parisien' vom Montag präzisiert übrigens auch, dass die Feuerwehr ihrerseits 90 Minuten zum Anrücken benötigte - was im letzteren Fall vielleicht mit Schwierigkeiten beim Durchkommen durch die Demo zu tun hatte, wie ‚Le Parisien' hinzufügt, aber dennoch irgendwo merkwürdig vorkommt. Guéant sagte dazu nur: „Die Polizei konnte eben nicht überall sein“, der Einsatz sei trotzdem gut gewesen, punktum. Das klingt schon seltsam, denn würde es sich wirklich um eine „Panne" handeln, würde die Staatsmacht mutmaßlich eher anders damit umgehen, nämlich Panik schüren und „Selbstkritik" üben nach dem Motto: ‚Der Polizeieinsatz war nicht genug, nächstes Mal benötigen wir noch mehr, noch ausgedehntere und noch härtere Repression(s-Vollmachten).’

Schon seit Sonntag hat sich auch das französische Innenministerium in die Polemik eingeschaltet und den Polizeieinsatz und die -taktik vom Wochenende gerechtfertigt. Innenministerin Michèle Aliot-Marie antwortete am Sonntag auf Vorhaltungen des Bürgermeisters von Strasbourg, Roland Ries (eines rechten Sozialdemokraten, der zufrieden darüber war, den NATO-Gipfel in „seiner“ Stadt zu beherbergen, während Teile der örtlichen Sozialdemokratie und kommunal mitregierenden Grünen die Proteste unterstützten), wonach das Hafenviertel in der Polizeitaktik vernachlässigt worden sei. Die Ministerin erwiderte auf ihn: „Die Sicherheitskräfte haben ihre Arbeit perfekt verrichtet.“ (Vgl.
http://abonnes.lemonde.fr )

 Am Montag präzisierte sie dann: „Die Sicherheitskräfte haben nicht alles verhindern können“, da sie es mit kleinen hochmobilen Gruppen gegenüber zu tun gehabt hätten, „aber sie konnten die Personen schützen und die (Sach-)Schäden begrenzen.“ - Unterdessen nutzt die französische Innenministerin auch die Gunst der Stunde, um (am Mittwoch) die generelle Einführung eines Vermummungsverbots auf Demonstrationen zu fördern. Bislang gibt es im Land kein solches Vermummungsverbot, wie es nach (west)deutscher Gesetzeslage - strafbewehrt - seit 1988 besteht. Allerdings weist Frankreich auch traditionell völlige andere Erfahrungen und Strukturen im Zusammenhang mit Demonstrationen und sozialen Protesten auf. (Vgl. http://www.lemonde.fr)

Unterdessen läuft innerhalb der Polizei von Strasbourg am Mittwoch eine Polemik ab: Beamte der unteren Ränge warfen ihrer Hierarchie vor, „verheizt“ worden zu sein, indem man das Hafenviertel zuerst zeitweise aufgegeben habe und - als die Lage einmal „heiß“ geworden sei - Beamten völlig unvorbereitet dorthin gesandt habe. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ )

Vorläufiges Fazit

Statt also eine „Selbstkritik“ aus Sicht des Staates über „mangelnde Repressionsbereitschaft“ zu üben, signalisiert ein hoher Staatsrepräsentant wie beispielsweise Claude Guéant, als Chefberater Sarkozys, eher Selbstzufriedenheit, die er nach dem Motto ausdrückt: ‚Der Einsatz war in Ordnung und die Polizei konnte eben nicht mehr tun’... Das sieht doch sehr danach aus, als habe es zumindest die klare politische Strategie gegeben, die Zone „Hafenviertel" (also das ärmste Viertel von Strasbourg) vorübergehend „aufzugeben“, so nach dem Motto: „Sollen die Krawallheinis und die Banlieuebewohner sich doch untereinander amüsieren, und wir zählen die Punkte… Um hinterher den Legitimationsgewinn einzustreichen, um über die ganze Demo herzufallen…“ Die Verrücktesten unter den Polit-Hooligans, die da wohl am Werk waren, versetzte dieses temporäre „Sich-selbst-überlassen-werden“ des Stadtteils aber mutmaßlich in einen rauschähnlichen Zustand der Besoffenheit über ihren vermeintlichen „Sieg“. Auch so kann man in die Falle tappen, wenn man mangelnde Hirnzellen und fehlende politische Intelligenz durch besonders rrrrrrradikale Formen der „Aktion“ ersetzt. Es fehlte aber wohl auch an einem funktionsfähigen Ordner/innen/dienst, der etwa in der Lage gewesen wäre, die größten Idioten entweder von ihren Aktionen - insbesondere vom Brandstiften inmitten eines Wohnbezirks von ärmeren Leuten - abzuhalten, oder aber ins Abseits, notfalls auch ins Krankenhaus zu befördern.

Viel Genaueres lässt sich im Augenblick nicht ausdrücklich affirmieren, etwa dass es wirklich ‚Agents provocateurs' gegeben hätte. Das scheint durchaus möglich (Bullen, Nazis, ...), aber es ist auch nicht auszuschließen, dass es tatsächlich Vollidioten und Deppen gegeben hat, die sich für wahnsinnige Revolutionären halten, wenn sie Hotels & Apotheken anzünden. - Betreffend das Hotel, und die Hintergründe des Brandes in ihm; gibt es ansonsten widersprüchliche Aussagen: ‚Le Figaro' vom Montag meint, es sei angezündet worden, damit der Rauch die Hubschrauber stören könne - was ein bisschen an den Haaren herbeigezogen vorkommt, zumal die Rauchentwicklung kaum vorherzusagen war. Und manche Presseorgane behaupten abwechselnd, es seien dort nächtens entweder Polizisten (vgl. http://www.google.com ) oder Journalisten zum Gipfel untergebracht gewesen, während wieder anderswo steht, es habe leer gestanden. Wobei ja durchaus mehrere Sachen davon gleichzeitig zutreffen können: Entweder waren die Polizisten und Gipfeljournalisten in einem anderen Hotel derselben Kette beherbergt (insofern lag eine Verwechslung seitens der Presse vor); oder aber diese Personen befanden sich in der Nacht zuvor im Hotel, aber dieses war dennoch zu dem Zeitpunkt, als dort Feuer gelegt wurde, leer.

Was man aber affirmieren kann, ist, dass die Staatsmacht das Treiben in dem Hafenviertel circa anderthalb Stunden lang in Kauf genommen hat, ungefähr nach dem Motto: „Das betrifft uns nicht, die Banlieusards sollen sich mit den Randalierern amüsieren, Hauptsache Sarkozy & Obama geht's gut und es kracht weit weg von den Staatschefs" - bevor dann sozusagen die Falle zuschnappte. Nicht über den Brandstiftern, sondern über der gesamten Demonstration…
 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.