Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

04/10

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 Perzeption [lat] - eigtl: Wahrnehmung.

Im engeren Sinne derjenige Teilprozeß der Wahrnehmung, in dem die durch die Sinnesorgane aufgenommenen Informationen den Projektionszentren des Großhirns übermittelt werden, aber durch die Apperzeption noch nicht derjenige Teil der Informationen ausgewählt ist, der ins Bewußtsein tritt. Nach ARISTOTELES hat alles Denken und Wissen seinen Ursprung in der Perzeption, womit er der Ansicht PLATONS von der Existenz eingeborener Ideen entgegentritt. Mit dem Aufkommen des Sensualismus LOCKES, BERKELEYS und anderer rückte die Perzeption in neuerer Zeit abermals in den Mittelpunkt des Interesses. Im Kampf gegen die Annahme eingeborener Ideen durch den Rationalismus (DESCARTES, Cambridger Schule), deren Vorhandensein oftmals mit dem Argument verteidigt wurde, sie existierten unbewußt, bestreitet LOCKE die Existenz unbewußter, außerhalb des Bewußtseins verbleibender Perzeptionen:

Alles Wahrgenommene gelange ins Bewußtsein; der Umfang des Bewußten sei - weil die Seele als «tabula rasa» angenommen wird - identisch mit der Gesamtheit der Perzeptionen. HUME und BERKELEY teilen diesen Standpunkt. HUME versteht unter «perceptions» Bewußtseinsinhalte schlechthin, und für BERKELEY bedeutet perzipieren, eine Vorstellung unmittelbar erleben. LEIBNIZ unterscheidet - im Kampf sowohl gegen den englischen Sensualismus als auch gegen den Cartesianismus - als erster von den Perzeptionen die Apperzeptionen. Im Zusammenhang mit seiner
Lehre vom Stufenreich der Monaden, die durch den Grad an Klarheit und Deutlichkeit ihrer Vorstellungen geordnet sind, schuf er den Begriff der unbewußten Wahrnehmungen oder Vorstellungen (petites oder insensibles perceptions), deren Bereich er für wesentlich größer hielt als den Bereich derjenigen Perzeptionen, die durch Apperzeption ins Bewußtsein gelangen. Diese Entdeckung LEIBNIZ' negierte die für den Rationalismus und Empirismus bis dahin gleichermaßen gültige These, daß der Geist nur so viel in sich enthalte, als im Selbstbewußtsein enthalten sei, und nahm die in der späteren Psychologie gewonnene Erkenntnis von der Existenz unbewußter psychischer Vorgänge vorweg: «Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblick in uns eine unendliche Menge von Perzeptionen ohne bewußte Wahrnehmung und Reflexion gibt, d.h. Veränderungen in der Seele selbst, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu gering und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Nichtsdestoweniger können sie zusammen mit anderen ihre Wirkung tun und sich insgesamt wenigstens in verworrener Weise zur Wahrnehmung bringen. So führt die Gewohnheit dazu, auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht mehr zu achten, wenn wir eine Zeitlang ganz nahe dabei gewohnt haben» (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Vorwort).

Die Unterscheidung des Wahrnehmungsvorgangs in Perzeption und Apperzeption in dem von LEIBNIZ induzierten Sinne fand - vermittelt vor allem durch WUNDT, der unter Perzeption den Eintritt von Wahrnehmungen ins Blick/e/rf des Bewußtseins (Perzeptionsschwelle) und unter Apperzeption den Eintritt der Wahrnehmung in den Blick-punkt des Bewußtseins (Apperzeptionsschwelle) verstand - Eingang in die Psychologie und konnte durch die Anwendung der Informationstheorie auch quantitativ faßbar gemacht werden (H.FRANCK u.a.).

Eine Verabsolutierung der Wahrnehmung nimmt der sog. Perzeptionalismus vor (E. J. HAMILTON, Perzeptionalismus und Modalismus 1911), indem er behauptet, daß alle Erkenntnis lediglich auf der Wahrnehmung beruhe und daß die Dinge so beschaffen sind, wie sie wahrgenommen werden.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.830
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