Beispiel „Eurozentrismus“
In
Wikipedia steht folgende Definition des Eurozentrismus:
“Unter Eurozentrismus versteht man die Beurteilung
außereuropäischer Kulturkreise nach europäischen (westlichen)
Vorstellungen auf der Grundlage der in Europa entwickelten Werte
und Normen. Eurozentrismus ist somit eine Einstellung, die
Europa unhinterfragt in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns
stellt.“
„Europa“ ist ein geographischer Begriff und kein sozialer. Was
mit dem Begriff „Eurozentrismus“ aber ausgesagt werden soll ist
eine bestimmte soziale Sichtweise der Verhältnisse auf dieser
Erde. Diese Sichtweise ist eine bürgerlich-kapitalistische
Sichtweise, die in Europa entstanden ist, hier ihre sozialen
Wurzeln im „Kapitalismus“ hat. Dass diese Verhältnisse und diese
Sichtweise in Europa und nicht in Asien oder Afrika etc.
entstanden ist, ist eine „historische Fundsache“, in der Sprache
der Regulationstheorie ausgedrückt. Will sagen, die Verhältnisse
und die entsprechende Sichtweise hätten grundsätzlich auch in
Asien entstehen können, weil der geographische Begriff „Asien“
kapitalistische Entwicklung und bürgerliche Ideologie nicht
ausschließt. (Das schon mal rein begriffslogisch)
Das
Geographische ist nicht kennzeichnend, nicht wesentlich.
Wesentlich ist das Soziale. Vereinfacht ausgedrückt: auf der
Suche nach Gold und anderen Reichtümern unterwarfen Europäer die
Welt, und das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit konnte sich
nur behaupten auf Basis einer tatsächlichen z.B.
waffentechnischen Überlegenheit, letztlich einer „sozialen
Überlegenheit“, die sich in besonderer Aggressivität, besonderer
Heimtücke etc. ausdrückte. Kennzeichnend an dieser in
entscheidenden Dingen auch technischen Überlegenheit war und ist
die soziale Charakteristik und Aggressivität des Kapitals.
Die
Erfolge bei der Unterwerfung bestärkten die in aggressiver
Absicht der Unterwerfung und Eroberung aufgebrochenen Europäer
in dem Bewusstsein ihrer Überlegenheit, bestärkten rassistisches
Denken etc. Der Aufbruch und die Aggressivität ist aber nur
Ausdruck der sich entwickelnden Geldwirtschaft und des
aufkommenden Kapitals, auch wenn sich dieser Aufbruch und diese
Aggressivität auf Ideologien stützt, die bereits unter
vorkapitalistischen Verhältnissen entwickelt wurden. Das Kapital
entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern unter ganz konkreten
historisch vorgefundenen Bedingungen, die in allen Ländern ihre
Besonderheiten aufweisen. Diese je historischen Besonderheiten
besagen aber nichts über die wesentliche soziale Qualität.
Der
Begriff des „Eurozentrismus“ verschleiert die wirklichen
Triebkräfte und Ursachen von kapitalistischer Expansion und
Unterwerfung und entsprechender Sichtweisen auf Völker, in denen
sich die sozialen Verhältnisse nicht soweit in eine bürgerliche
Richtung entwickelt hatten und haben. Der „Eurozentrismus“ ist
in Wirklichkeit eine „Kapitalzentrismus“, der sich eben in
bestimmten Sichtweisen nicht nur auf die Klassen in den bereits
kapitalistisch entwickelten Gesellschaften, sondern auch auf die
Völker der Welt ausdrückt. Völker, die das Kapitalverhältnis
nicht soweit entwickelt haben, werden eben als unfähig,
minderwertig, weniger fortschrittlich und entwickelt angesehen,
wie die „eigene“ Arbeiterklasse als minderwertig angesehen wird,
weil sie es nicht zu privatem Reichtum bringt. (Die Arbeiter
selbst sehen sich als minderwertig an, weshalb sich niemand gern
als Arbeiter bezeichnet.) Die Überlegenheitsvorstellung und
„Ichbezogenheit“ der Europäer ist eine Überlegenheit und
Ichbezogenheit der Geldwirtschaft und des Kapitals, seiner
Selbstreflexivität. Das macht die besondere soziale Qualität
des „europäischen“ Rassismus, Nationalismus etc. aus, der
übrigens in den USA oder Japan nicht wesentlich anders aussieht.
(Gehören auch die USA und Japan zu Europa oder warum blicken die
Leute dort in gleicher Weise auf die Völker der Welt? Japan
hatte den „Eurozentrismus“ vor seinem Überfall auf China und
Pearl Harbour zu besonderer Blüte entfaltet. Ein Rassismus, eine
Verachtung anderer Völker, eine „japanzentrierte“ Sichtweise,
die ihresgleichen suchte.)
Wenn
hier der Begriff der Nation eingeführt wird, dann müsste auch
der in seiner sozialen Qualität entwickelt werden. Die Nation
ist ihrer sozialen Qualität nach zunächst ein geographischer,
kultureller Raum, in dem sich ein innerer Markt für die
Kapitalakkumulation entwickelt. Ohne einen solchen inneren,
geschützten Markt keine Akkumulation von Kapital (historisch
betrachtet) und daher auch keine Expansion von Kapital. Diese
Expansion folgt einer ökonomischen Logik, beschränkt sich aber
nicht auf „ökonomisch-friedliche“ Maßnahmen des Handels. Sie
muss sich ausdrücken in politischer Gewalt, wo sie auf Schranken
stößt, die nicht auf rein ökonomische Weise niedergerissen
werden können. Das Kapital entwickelt eine aggressive
imperialistische Tendenz. usw.
Die
Borniertheit und rassistische Aggressivität, das
Überlegenheitsgefühl von Europäern kann ebensowenig mit dem
Begriff des „Eurozentrismus“ erfasst und charakterisiert werden,
wie die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Begriff
„europäische Entwicklung“ zu fassen wäre. Die Wurzeln des
Kapitalismus liegen in der Entwicklung der vorkapitalistischen
Gesellschaften. Dass deren Auflösung in Europa am weitesten
fortgeschritten war und dass hier die Voraussetzung für
kapitalistische Entwicklung am weitesten gediehen waren, ist
„historische Fundsache“, in der sich keinerlei soziale
Entwicklungsgesetzlichkeit ausdrückt, die man mit dem Begriff
„europäisch“ erfassen könnte.
Ich
bin Geiste des „ländlichen Idiotismus“ (Marx) unter ganz
bornierten Bedingungen groß geworden, aber ich verfolge heute,
soweit ich kann, die Entwicklung in der Welt und leide und freue
mich mit den Menschen in anderen Ländern. Ich freue mich
wahnsinnig, dass die Venezulaner sich einen Scheißdreck um
„postkommunistische“ linke Staatskritik kümmern, und die
Staatsmacht nutzen, um die Gesellschaft in ihrem Interesse zu
verbessern, das Elend wenigstens ein Stück weit zu lindern. (Von
den Venezulanern und Bolivianern, auch den Argentiniern, können
wir einiges lernen! Da sollte man sich drum kümmern! Überhaupt
die Entwicklung in Südamerika aufmerksam verfolgen.) Ich freue
mich wahnsinnig, wenn es den Buschmännern in Afrika gelingt,
ihre Vertreibung rückgängig zu machen, und den „Diamantenjägern“
ein Schnippchen zu schlagen usw. Auch China hat da seinen Platz,
übrigens unabhängig davon, wie wichtig die Entwicklung der
chinesischen Gesellschaft für die Entwicklung der Gesellschaft
hier ist. Es interessiert mich im Interesse der Chinesen, unter
dem Gesichtspunkt der internationalen Solidarität. Für die
chinesische Bevölkerung sehe ich da aber im Moment ganz schön
schwarz, trotz oder gerade wegen all des kapitalistischen
Wachstums und der stattlichen Anzahl an „Gewinnern“, die große
genug sein dürfte, um das Kapitalverhältnis fest zu
installieren. Bin gespannt, wann und mit welchem „Paukenschlag“
der „normale“ kapitalistische Zyklus sich übermächtig zu Wort
meldet. Da steht ordentlich Kapitalismus ins Haus, eine momentan
unaufhaltsame Entwicklung!
Die
Bedeutung der Entwicklung in China ergibt sich für mich nicht
erst daraus und nicht primär daraus, dass sie unter
ökonomisch-sozialen Gesichtspunkten für die hiesige Entwicklung
wichtig ist. Die „eigene Betroffenheit“ ist aus meiner Sicht
unzureichender Leitfaden für kommunistisches Denken und
wissenschaftlich-theoretische Kritik. Mir hat die Beschäftigung
mit der allgemeinen Kapitaltheorie von Marx (zu mehr ist
er nicht gekommen) den „ländlichen Idiotismus“ ausgetrieben
(siehe meinen Anfang zum „Eurozentrismus“) und einen anderen
Blick auf die Welt eröffnet. Nicht die Tatsache, dass uns die
Entwicklung in anderen Ländern betrifft, sondern, dass das
Kapital alle Völker betrifft und überall die gleichen
Prozesse anstößt und auslöst, lässt mich die weltweiten
Entwicklungen in meinen engen Grenzen verfolgen. Daher ist bzw.
wird es grundsätzlich möglich eine weltweite gemeinsame Bewegung
gegen das Kapital zu entwickeln, im Geiste der internationalen
Solidarität.
Es
geht immer wie bereits mehrfach betont darum, wie die
allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Kapitals sich durchsetzen, und
nicht ob. (Sieh z.B. meinen Artikel „Linke Kritik und
Kritik der Politischen Ökonomie“) Das hat nichts mit einer
fertigen „Weltformel“ zu tun, sondern aus meiner Sicht mit
wissenschaftlich begründeter Erkenntnis. Der Prozess der
Durchsetzung ist ungeheuer zerstörerisch (und nur in diesem
negativen Sinne spannend) und produziert immer wieder neue
widersprüchliche Formen, je nach den gegebenen Umständen des
Landes, nach dem das Kapital greift. Die Untersuchung und
Verfolgung dieses Prozesses unter der genannten Prämisse kann
natürlich nur der machen, der sich mit den allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten auseinandergesetzt und sie verstanden
hat. (Nur so jemand könnte die allgemeine Kapitaltheorie auch
als falsch zurückweisen. Die meisten Kritiker haben das
„Kapital“ nicht einmal verstanden! Wie sollte da eine richtige
Kritik zustande kommen? Heinrichs Arbeiten sind ein gutes
Beispiel für Kritik, die auf Verständnis beruht, womit man sich
ernsthaft auseinandersetzen muss. Aber sonst? Das meiste ist so
flach und dumm, dass es mich graust.) Für andere Menschen mag
das absurd und dogmatisch erscheinen. Wer meint, das alles sei
Humbug und man solle sich die Frage des „ob“ stellen, auf dessen
Kritik des „Kapitals“ von Marx warte ich. Bisher hat sich das
jedenfalls aus meiner Sicht glänzend bewehrt.
Abschließend:
Die
Kritik am so genannten „Eurozentrismus“ ist für mich auch so
eine moderne linke Marotte, die bestenfalls in moralische
Appelle einmünden kann, aber kaum zum Verständnis von Ursachen
beitragen kann und damit auch keine Ansatzpunkte zu formulieren
vermag, wie man aus der ganzen Scheiße rauskommt. Das geht alles
buchstäblich ins Leere und liefert keinerlei Grundlage für
Verständigung über klare Forderungen und Ziele. Aber diese Leere
ist ja der Nährboden für die heute so geliebte neue
„Unbestimmtheit“ und Vielfalt, die alles zur Meinungs- und
Einschätzungfrage macht. Sich ein bisschen hier bedienen, sich
ein bisschen da bedienen. Irgendeine Politik kann man damit
machen, Ursachenbestimmung im Sinne der Kritik der Politischen
Ökonomie und darauf gegründete Politik nicht.
Editorische Anmerkungen
Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen
Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.
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