Repression & Widerstand unter Hartz IV

Was so geschah...

von Anne Seeck

04/11

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Am Dienstag, d. 29.3. trat die Hartz IV- Reform in Kraft, das nötige Bundesgesetz wurde veröffentlicht. Nach diesem Gesetz können ab sofort und rückwirkend zum 1. Januar Anträge auf Zuschüsse zu den Kosten für Sportvereine, Musikschulen, Schulessen, Schulbedarf, Nachhilfe, Schulausflüge und BVG-Tickets gestellt werden (Bildungspaket). Übrigens 10 Euro pro Monat sowie Schulessen, eine Schulbeihilfe und eine eintägige Klassenfahrt. Anspruchsberechtigt sind die Kinder von Hartz-IV-Empfängern, Wohngeld- und Kinderzuschlagbeziehern. Jede Kommune entscheidet selbst, wie die Hartz IV-Reform umgesetzt wird.

In Berlin mit einem Senat aus SPD und LINKE gibt es bisher noch nicht einmal Formulare für die Beantragung. Dabei läuft aber am 30. April für die rund 200.000 Anspruchsberechtigten die Frist für eine rückwirkende Beantragung ab....  

Veranstaltung des Erwerbslosentreffes in der Lunte  

Am 21. März hatte der Erwerbslosentreff in der Lunte eine Veranstaltung zur Organisierung von Hartz IV- BezieherInnen in Neukölln. Eingeladen war ein Vertreter der linken Gruppe FelS, die im Jahre 2010 sehr aktiv in Neukölln war. (http://fels.nadir.org/) 

Das Jobcenter Neukölln befindet sich nach seinem Umzug in die Mainzer Str./ Hermannstr. im Zentrum von Nord- Neukölln mit einer großen Armutsbevölkerung. Oft wird dieser Ort verdrängt, viele wollen sich damit nicht beschäftigen. Die Menschen werden individualisiert, zudem in verschiedene Gruppen gespalten. Das Jobcenter ist dabei ein Ort des sozialen Konfliktes.

Hier wollte die linke Gruppe FelS mit einer „militanten Untersuchung“ ansetzen. Militante Untersuchungen stammen aus der autonomen Arbeiterbewegung in Italien. Mehr zur „militanten Untersuchung“ in der Zeitschrift arranca: http://arranca.org/ausgabe/39  und bei der Gruppe FelS: http://fels.nadir.org/de/mu

Die FelS-AktivistInnen haben viel mit den Hartz IV- BezieherInnen vorm Jobcenter gesprochen. Ende März bis November 2010 standen sie 2x in der Woche vor dem Jobcenter. Dabei stand vor allem die Frage im Mittelpunkt: Wie wehrt ihr euch? Es ging um die Weitergabe von Widerstandswissen. Die Erwerbslosen wurden über ihre Probleme und ihre Handlungsmöglichkeiten befragt.

Gesprochen haben die AktivistInnen aber auch mit Sachbearbeitern und Fallmanagern, z.B. über ihre Arbeitsbedingungen, das System der Kontrolle, die Vermittlungs- und Sanktionsquote usw.

Allein der Bau des Jobcenters verrät die Herrschaftsarchitektur. Allerdings wurde die Anordnung auch so gestaltet, dass die Warteschlangen kleiner sind. Mc Kinsey ist dafür bekannt, das System so anzuordnen, das es gut funktioniert, die Kontrolle über den Raum gegeben ist.

Die FelS-AktivistInnen führten auch Sachbearbeiterbewertungen durch. Auf einer Tafel wurden die Sachbearbeiter aufgeschrieben und Noten vergeben. Bei den Herbstaktionstagen wurden dann die miesesten Sachbearbeiter „gekürt“. Der mieseste Sachbearbeiter meldete sich übrigens krank. Die Personalisierung wird in der Linken allerdings immer in Frage gestellt.

FelS hatte vor dem Jobcenter auch mit Repression zu tun. So gab es Polizeieinsätze, sie mußten die Personalausweise vorlegen. Sie bekamen einen Brief wegen Hausfriedensbruch. Ihnen wurde der Verstoß gegen das Datenschutzgesetz vorgeworfen.

Von April bis Oktober 2010 gab es regelmäßig alle zwei Wochen Jobcenterversammlungen, die von einem kleinen Kreis kontinuierlich gemacht wurden. Mehr über die Initiative Zusammen gegen das Jobcenter Neukölln: http://zusammendagegen.blogsport.de/  

Es kamen unorganisierte Hartz IV- Bezieher, die ein konkretes Problem hatten. In diesem Kreis bildete sich auch eine Videogruppe.  

Inspiriert sind sie vor allem vom Community und gewerkschaftlichen Organizing. Sie wollen jetzt nicht nur einzeln Leute am Jobcenter herausgreifen, sondern Menschen über Treffpunkte, Vereine etc. ansprechen.

Die Frage lautet, wie kann man das Jobcenter unter Druck setzen? Welche Macht hat man?

  • Da ist zunächst die Unterbrechungsmacht, den Ablauf stören, Ärger schaffen.

  • Das Jobcenter soll mehr zum öffentlichen Thema im Stadtteil gemacht werden.

  • Sie wollen Öffentlichkeitsarbeit, z.B. Plakate machen.

  • Zudem wollen sie einen lokalen Begleitpool aufbauen.

Folgende Themen wollen sie weiter bearbeiten, die bei ihren Befragungen am meisten genannt wurden:

  • der Rassismus im Jobcenter

  • Maßnahmen

  • Kosten der Unterkunft/ Mieterhöhungen

Was noch so geschah, möchte ich nach der Zeitungsauswertung hier zusammenfassen:

Mit dem Bescheid zur Lottobude 

Absurd wurde es, als ein Gericht den Lotto-Verkauf an Hartz IV- Bezieher verbieten wollte. Danach outeten sich Erwerbslose. Achtung! Demnächst den Bescheid zur Lottobude mitnehmen.

Befristet... 

Auch bei der Bundesagentur tut sich etwas. Die Bundesagentur hatte tausenden Jobcenter- MitarbeiterInnen fehlerhafte befristete Arbeitsverträge erteilt. Jetzt entschied das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, dass die BA nicht die Stellen von eigenen Mitarbeitern mit dem Argument knapper Haushaltsmittel befristen dürfe und dabei gleichzeitig als Arbeitgeber selbst den Haushaltsplan aufstellen kann. Daher sei die Befristung unwirksam. Haben die Mitarbeiter spätestens nach Ende der Befristung eine Klage eingereicht, so müssen sie unbefristet weiter beschäftigt werden.  

Schuldenfalle... 

Nach der Hartz IV- Reform droht eine Schuldenfalle bei der Bundesagentur, da der Bund den Kommunen zugesagt hat, stufenweise die Kosten der Grundsicherung der Rentner zu übernehmen. Bis 2015 sollen die Kommunen um 12 Mrd. Euro entlastet werden. Geld dafür soll zum Teil der Bundesagentur für Arbeit weggenommen werden. Eine Finanzeinschätzung der BA prognostiziert, dass sich bis 2015 bei der Agentur ein Defizit von 10 Millionen Euro anhäufen würde. Arbeitgeberpräsident Hundt plädiert deshalb dafür, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu kürzen, alle Arbeitslosen sollen max. 12 Monate ALG I bekommen. Derzeit sind für Menschen über 58 Jahren bis zu 24 Monate möglich. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen fürchtet, dass bei den Eingliederungsmaßnahmen gespart werden soll. Bereits mit dem Sparpaket sollten alle „Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik“ überprüft und dort gespart werden.  

Mehr atmen.... 

Das Forschungsinstitut der Arbeitsagentur (IAB) stellt fest, dass es immer mehr Leiharbeits-, Teilzeit- und befristete Beschäftigungsverhältnisse gibt. Fast jede zweite Neueinstellung ist befristet, vor zehn Jahren war es jede 3. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Auch die Normalarbeitsverhältnisse sehen heute anders aus als vor 20 Jahren, so der Vizedirektor der IAB. Nach Ansicht der IAB würde dieser Bereich „mehr atmen“ durch flexible Lohn- und Arbeitszeitmodelle, Arbeitszeitkonten und die Nutzung von Kurzarbeit.

Schlechter atmen....

Umweltbelastungen sind unterschiedlich verteilt. Während die Mehrheit der Hartz IV- Bezieher sich kein Auto leisten kann, haben sie oft unter dem Autoverkehr zu leiden. Familien mit weniger Geld wohnen häufiger an stark befahrenen Straßen als bessergestellte Familien. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Dresden spricht von einer „sozialen Schieflage in der Belastung“. Umweltbeeinflusste Gesundheitsstörungen seien in den unteren sozialen Schichten häufiger. Soziale Merkmale wie Bildung und Einkommen beeinflussen die Gesundheitsrisiken. Soziale benachteiligte Kinder sind z.B. von Luftschadstoffen stärker belastet.

Schulden bei der Krankenkasse...

Privatversicherte Hartz IV- Bezieher haben es schwer. Das sollte sich mit einem Urteil vom 18.1.2011 ändern. Seit dem Grundsatzurteil müssen alle Jobcenter höhere Zuschüsse für die Krankenversicherung zahlen. Allerdings nur rückwirkend ab dem Tag der Urteilsverkündung, so das Ergebnis einer kleinen Anfrage der Linksfraktion. Inzwischen haben aber viele Hartz IV- Bezieher bereits tausende Schulden bei ihren Kassen angehäuft. Es sind ca. 3700 Euro, die ein Hartz IV- Bezieher in 24 Monaten selbst aus dem Regelsatz hätte bezahlen müssen. Wenn jemandem es gelingt, aus Hartz IV herauszukommen, aber den Rückstand nicht zahlen kann, sinkt sein Versicherungsschutz auf eine Notversorgung.

Der Wahlkampf in Berlin beginnt

In Berlin streiten die Regierenden, also SPD und Linkspartei, um den öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS). Die SPD blockiert Gelder für das Prestigeprojekt der Linkspartei. Die LINKE will, dass ÖBS-Stellen existenzsichernd sind. Allerdings nimmt sie in Kauf, dass man nach der ÖBS- Beschäftigung sofort wieder in Hartz IV fällt.

Arm, aber sexy

Berlin rühmt sich mit seiner Kultur. Wie aber leben Künstler? Das zeigt der Ende 2010 erschienene „Report Darstellende Künste“. Laut der Untersuchung, die von der Berliner Soziologin Susanne Kreuchel vorgenommen wurde, sind Regisseure und Schauspieler, Tänzer und Choreografen außerordentlich gut ausgebildet. 62 Prozent von ihnen haben ein Studium beendet, weitere 24 Prozent Abitur oder Fach(hoch)schule besucht. Nur 17 Prozent sind ohne Hochschulreife. Sie verdienen pro Jahr zwischen 11 856 und 12 822 Euro (abhängig davon, ob sie bei der Künstlersozialkasse versichert sind), während das Durchschnittsnettoeinkommen aller Arbeitnehmer bundesweit im Vergleichsjahr 2006 genau 17 463 Euro betrug. In einem Vergleich mit einer Studie aus dem Jahre 1973 fand Kreuchel heraus, dass die Künstler in den letzten dreieinhalb Dekaden stärkere Einbußen erleiden mussten als die Gesellschaft insgesamt. Künstler seien nicht automatisch arm, aber von der Politik gestaltete und verantwortete Rahmenbedingungen würden ihre Situation erheblich beeinflußen. Günter Jeschonnek, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste und Mitherausgeber des Reports, sagte dem ND: „Angesichts der erschütternden Tatsachen insbesondere des Einkommensniveaus unterhalb der Armutsgrenze, der sozialen Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten sowie der sehr niedrigen Alterseinkünfte ist die Politik aller Ebenen gefordert, sich für bessere Rahmenbedingungen und somit langfristige Perspektiven für die hoch qualifizierten und motivierten Theater- und Tanzschaffenden einzusetzen.“

Traurige Geschichte: Marzipan geklaut: Mutter in den Knast
Quelle: BARBARA KIRCHNER - Düsseldorf – 28.02.2011

Wegen zehn Marzipan-Schweinchen von Heinemann (30 Euro) muss Gisela F. (49/ Name geändert) jetzt 14 Monate in den Knast.

Ihr 15-Jähriger Sohn Dennis (Name geändert) kommt ins Heim. Eine traurige Geschichte um den hoffnungslosen Kampf für etwas Würde und Ansehen. Trotz Armut.

Gisela F. und Dennis leben von Hartz IV. Zum Leben bleiben ihnen nach Abzug aller Nebenkosten 173,77 Euro. Manchmal arbeitet Gisela F. auf dem Markt. Ihr Lohn: Gemüse, das nicht verkauft wurde. Kleidung gibt es nur Second Hand.

Genau deshalb wurde Dennis in der Schule gehänselt, an seinem gebrauchten Pulli von Mitschülern an den Kleiderhaken gehängt. Die Ex-Altenpflegerin Gisela F.: „Er leidet darunter, dass wir arm sind. Nichts kann ich ihm bieten.“

Deshalb ging sie immer wieder klauen. Meist zu Weihnachten. Mal etwas Wurst, Käse oder Fleisch. Und sie wurde erwischt. Nicht nur einmal. Dafür standen wegen Diebstahl geringwertiger Sachen neun Monate Bewährungsstrafe offen.

Auf der neuen Schule bekam der Junge den Auftrag, sich an einem Klassenfrühstück zu beteiligen. Marzipanschweine sollte er mitbringen. „Ich wollte ihm was besonderes bieten. Damit ihn die anderen nicht wieder hänseln.“

Da stand sie bei Heinemann an der Kasse. Zehn Marzipan-Schweinchen in der Tüte, 30 Euro in der Geldbörse. Doch dann kam der Gedanke an das Monatsende. Und das sie die 30 Euro bis dahin dringend für andere Dinge braucht. „Da habe ich die Türe genommen und bin einfach rausgelaufen.“ Und wurde wieder erwischt.

Vergeblich hatte sie Jobs gesucht. „Mit den Vorstrafen ist das nicht leicht.“ Einen Job hatte sie in Aussicht, wenn sie sich wegen Nachtarbeit eine Wohnung in der Nähe der Firma besorgt hätte. Doch das klappte nicht. Dann der Ärger mit der Arge. Ihre Wohnung ist zu groß, deshalb gibt's bei Hartz IV noch Abzüge. Selbst ihre Bewährungshelferin bestätigt: „Ich verstehe diese Bescheide auch nicht.“

Am Ende verurteilte der Richter sie zu fünf Monaten Haft. Die Bewährungen werden widerrufen. Der Richter: „Es war ihre wirtschaftliche Notlage. Wir haben lange überlegt, ob es richtig ist, dem Jungen seine Mutter weg zu nehmen. Aber was ist das für ein Vorbild für ihn, wenn er denkt, dass man einfach klauen kann und nichts passiert.“


Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir  von der Autorin.