Zwischen Selbstmord, Klagen und Bossnapping
Ein Buch gibt Einblick in den Stand der Klassenkämpfe China

von Peter Nowak

04/11

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„Sie setzten den Direktor auf die Ladefläche eins Pritschenwagens und zwangen ihn, die schmerzhafte und erniedrigende Flugzeug-Haltung einzunehmen – vorgebeugt und mit den Armen zur Seite ausgestreckt“. Diese Informationen über ein Bossnapping bei einem Streik von Seidenweberinnen in der chinesischen Provinz Sichuan verdanken wir dem Hongkonger Sozialwissenschaftler Chris King-Chi Chan. Sein Bericht findet sich in einen kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenen Sammelband zur aktuellen Situation der Arbeiterklasse in China. Vor zwei Jahren war im gleichen Verlag ein Buch über die chinesischen Wanderarbeiterinnen erschienen, die aus ihren Dörfern in die Weltmarktfabriken zum Arbeiten kommen. In dem neuen Band wurde das Blickfeld erweitert. 9 WissenschaftlerInnen und ein politischer Zusammenhang aus dem operaistischen Spektrum analysieren die Situation der unterschiedlichen Sektoren der chinesischen ArbeiterInnenklasse. So widmet sich die US-Anthropologin Zhan Tiantian den chinesischen Sexarbeiterinnen, die offiziell als Hostessen bezeichnet werden. Sie zeigt auf, dass die regierungsoffizielle Anti-Prostitutionskampagne ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern. Über Formen des Widerstands gibt es in dieser Branche im Gegensatz zu den anderen Sektoren der chinesischen Arbeiterklasse wenig zu berichten.
Die unterschiedlichsten Formen der ArbeiterInnenresistenz, von individuellen Verzweiflungstaten bis zu kollektiver Gegenwehr werden im Buch vorgestellt. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein Streik beim Autokonzern Honda im Mai und Juni 2010 in chinesischen Hondawerken. Die Hintergründe dieses Ausstands werden detailliert untersucht. Dabei wird betont, dass die Arbeitsniederlegungen ohne jegliche gewerkschaftliche Unterstützung von den Arbeitern selbst organisiert worden ist. Beim Autokonzern Foxconn hingegen lenkten mehrere Selbstmorde von Beschäftigten den Blickpunkt auf die schlechten Arbeitsbedingungen in dem Autokonzern.

Bei ihren Protesten benutzten die Beschäftigten oft Losungen aus der maoistischen Tradition. „Die Arbeiter sind die Herren des Staates. Nieder mit der neu entstandenen Bourgeoisie. Ja, zum Sozialismus. Nein, zum Kapitalismus“, lauteten die Parolen auf Transparenten, mit denen Arbeiter aus der Eisen- und Stahlindustrie in der Provinz Liaoning auf die Straße gegangen sind. Mehrere Autoren berichten über maoistische Bezüge auch bei anderen Kämpfen.

Auch die Hongkonger Anthropologin wirft einen erfreulich differenzierten Blick auf die maoistische Vergangenheit Chinas: „Der Sozialismus der Mao-Ära war ein Prozess sozialer Experimente, der Versuche und Irrtümer. Altes und Neues lag im Wettstreit und mischte sich mit nationalen politischen Erneuerungen und Anleihen aus der Sowjetunion“. Ching Wang Lee schreibt über die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in China: „Fast jeder Reformschritt Richtung Marktwirtschaft bedeutete für den Status und die Existenzbedingungen der staatlichen ArbeiterInnen einen Rückschlag. Das begann mit der Reform der Unternehmerautonomie und der Verantwortlichkeit für die Fabrikdirektoren im Jahr 1984, die den Weg ebnete für die diktatorische Macht der Manager über die ArbeiterInnen, die Gewerkschaft und sogar die Partei“. Diese erfreulich nüchterne Beurteilung der Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen unterscheidet sich von manchem Freiheitsgesäusel, wie es auch in Teilen der sogenannten undogmatischen Linken über die Entwicklung im Nominalsozialismus zu hören ist. Es bedeutet aber keineswegs nun das hohe Lied vom verlorenen kommunistischen Paradies anzustimmen, das es bekanntlich weder in Osteuropa noch in China je gegeben hat.

Die in Hongkong lehrende Sozialwissenschaftlerin Pun Ngai zeigt in einem kurzen historischen Abriss auf, dass bis Ende der 70r Jahre der Klassenkampf in der offiziellen chinesischen Politik eine große Rolle spielte. Erst in den 80er Jahren sei auch in China offiziell Karl Marx durch Max Weber ersetzt worden. Ngai betont, dass ein aktueller Klassenbegriff sinnvoller Weise nur als Waffe von unten in den Fabriken und Arbeiterwohnheimen neu begründet werden kann. Dafür liefert das Buch viele Beispiele.

Mehrere AutorInnen setzen sich in dem Buch kritisch mit unterschiedlichen Integrationsversuchen der Arbeiterkämpfe auseinander. Dazu gehört für sie auch der veränderte Diskurs der chinesischen Regierung, die für ihr Konzept einer harmonischen Gesellschaft Gewerkschaften als Sozialpartner akzeptiert. Dazu gehören auch die neu eingerichteten und von den Beschäftigten häufig genutzten Schlichtungsverfahren bei Problemen am Arbeitsplatz. Kritisch wird auch der Versuch bewertet, aus kämpferischen ArbeiterInnen BürgerInnen mit Rechten zu machen. Genau so kritisch müssen auch die falschen Freunde der chinesischen Arbeiter in den westlichen Ländern eingeschätzt werden, die die berechtigen Kämpfe der chinesischen Beschäftigten gleich zu einem Kampf gegen das chinesische Gesellschaftssystem hochstilisieren wollen.

Ein Dilemma des Operaismus

Es ist den HerausgeberInnen nicht anzulasten, dass in dem Buch überwiegend nicht die Stimmen der ArbeiterInnen sondern von mehr ohne weniger solidarischen WissenschaftlerInnen zu Wort kommen, die die Situation dieser ArbeiterInnen untersuchen. Trotzdem sollte hier ein Dilemma aufgezeigt werden, vor dem Operaismus nahestehende GenossInnen, aus deren Umfeld ein Teil der HerausgeberInnen stammen, stehen. Einerseits lehnen sie vehement die gewerkschaftliche Repräsentanz der ArbeiterInnen ab. Andererseits sind es dann eben solidarische WissenschaftlerInnen, die die Lage der ArbeiterInnen vorstellen. Dass sie die natürlich auch interpretieren, was kein Vorwurf sondern eine Feststellung ist, sei an einem Beispiel aus dem Buch dargelegt. Während Zheng Tiantian in ihrem informativen Beitrag über Sexarbeiterinnen zunächst von der von vielen NGOs vertretenen These ausgeht, dass die Hostessen durch wirtschaftliche Not und Zwang in diesen Job getrieben werden, heißt es am Schluss ihres Beitrags: “Das hierarchische Verhältnis von ländlichen Migrantinnen und städtischen Männern wurzelt in der ländlichen Herkunft und kulturellen Überlegenheit. Die Arbeit als Hostess bietet die Möglichkeit, die Unterordnung zu überwinden. Die Hostess-Arbeit wird bezahlt und ist damit ein Akt der Auflehnung gegen die frauenverachtenden städtischen Männer, die meinen, die Körper und Gefühle der Frauen ausbeuten zu können. Es finden sich in dem Buch weitere Beispiele dieser Art, die den Wert dieser Arbeit überhaupt nicht mindern, aber den Leser trotzdem bedauern lassen, dass es nicht möglich ist, die ArbeiterInnen im operaistischen Sinne ohne wissenschaftliche Vermittlung zu Wort kommen zu lassen.
 
 

Pun Ngai | Ching Kwan Lee
Aufbruch der zweiten Generation
Wanderarbeiter, Gender und Klassenzusammensetzung in China Berlin/Hamburg 2010,
Verlag Assoziation A, 294 Seiten,
18 Euro, ISBN: 978-3-935936-93-4