Peter Trotzig
Kommentare zum Zeitgeschehen

Sind AKWs „systemrelevant“?
Da ist er wieder, der Ruf nach dem Staat.
 

04/11

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Tokyo Elektronic Power, kurz Tepco, Betreiber von 10 Atomkraftwerken in Fukushima 1 und 2 soll vor der Pleite stehen. Der Ruf nach Verstaatlichung wurde jedoch schon vorher laut. So schreibt beispielsweise die Frankfurter Rundschau vom 30. März:

„In Japan mehren sich die Rufe, den Stromversorger Tokyo Elektronic Power (Tepco) zu verstaatlichen, um die Atommeiler von Fukushima schneller unter Kontrolle zu bringen und dem Konzern unter die Arme zu greifen.“

Hört sich das alles nicht an wie dazumal beim Höhepunkt der „Finanzkrise“? „Unter Kontrolle bringen“ indem man „Konzernen unter die Arme greift“??

Auch die „Finanzkrise“ drückte gesellschaftlichen „Kontrollverlust“ aus. Die „Kernschmelze“ bestand in rapidem Wertverlust von Wertpapieren, „Panikverkäufen“. Es bedurfte der Kontrolle durch Verstaatlichung und Finanzspritzen für Not leidende Banken.

Sollte und soll der Finanzmarkt durch Vergabe von Krediten Geld im Überfluss bereit stellen, so die AKWs Energie. Handelt es sich im ersten Fall um Tauschwert, den es durch „Kernspaltung“ (grenzenlos kreativ konstruierte, verkäufliche Wertpapiere, die selbst Schulden in Kapital umdichten) beliebig zu vermehren gilt, so handelt es sich bei Strom aus der Kernspaltung von Atomen um einen Gebrauchswert (Energie), den es beliebig zu vermehren gilt. Das Versprechen der Atomlobby lautete:

Wenn die fossilen Energiequellen ausgebeutet sind, dann steht durch AKWs jede Menge Strom zur Verfügung, billig und umweltfreundlich.

Beides, grenzenlos zur Verfügung stehende Finanzen wie grenzenlos zur Verfügung stehende Energie sind von grundlegender Bedeutung für eine Produktionsweise, die nur dann funktioniert, wenn sie beständig wächst, wie eine Krebsgeschwulst. Ein offenbar krankes und menschenfeindliches Funktionsprinzip, das weder Rücksicht nehmen kann auf die Natur des Menschen (man denke an die „grenzenlose“ Entwicklung von Nacht- und Schichtarbeit etc.), noch auf die natürlichen Grundlagen seiner Existenz. Für den Bestand der kapitalistischen Produktionsweise gleichermaßen „systemrelevant“ ist sowohl die Finanzindustrie wie die Atomindustrie:

Ohne kreditvermittelt-“grenzenlose“ Geldvermehrung keine die Produktion erweiternde Investition und Reproduktion und ohne „grenzenlose“ Bereitstellung von Energie kein „grenzenloser Fortschritt“ in der Arbeitsproduktivität. Jeder Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch technischen Fortschritt verlangt den Einsatz nicht menschlicher Energie. Wo die Verdrängung menschlicher Arbeitskraft zum Prinzip wird, um den Profit in Gestalt des relativen Mehrwerts zu steigern, da tritt an die Stelle des Heißhungers nach menschlicher Arbeitskraft der Heißhunger nach Energie.

Die Abschaltung aller AKWs würde der Maßlosigkeit der Kapitalverwertung von der Gebrauchswertseite her zunächst Schranken setzen, ganz so wie eine rigorose allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden. (Menschliche Arbeitskraft ist und bleibt der entscheidende Gebrauchswert des Kapitals!) Es wäre eine Reform, die notwendig ist, aber keine „heile Welt“ schafft. Sie würde die Widersprüche, in denen sich das Kapital bewegt, verschärfen … was manchen Anti-AKWlern nicht klar sein dürfte! In der „bedingungslosen“ Forderung nach Abschaltung der AKWs lauert, wie in jeder konsequenten vorgetragenen Forderung nach sozialer Reform, die die Freiheit des Kapitals zur Ausbeutung von Mensch und Natur beschränkt, die Systemfrage!

Das Kapital ist in jeder Hinsicht maßlos: seine erweiterte Reproduktion verlangt nicht nur die grenzenlose Vermehrung des Tauschwerts, sondern auch die des Gebrauchswertes.

Indem das kapitalistische Privateigentum das Privatinteresse nach Bereicherung entfesselt, beschwört es soziale Katastrophen herauf, sei es unter dem Druck „normaler“ ökonomischer Rationalisierung, sei es als Folge seiner ökonomischen Krise.

Indem das kapitalistische Privateigentum nicht nur vorhandene Naturkräfte nutzt, sondern neue „Naturkräfte“ schafft  (Kernspaltung des Atoms, analog zur „kreativen“ Vervielfältigung von Tauschwert durch die Finanzindustrie), um sein grenzenloses Bedürfnis nach Energie zu befriedigen, beschwört es die ökologische Katastrophe herauf bzw. spitzt sie zu.

Letztere hat genau so ihre Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise, wie erstere. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die menschlichen Charaktermasken des Kapitals (private und institutionelle Anleger, Manager) von der ökologischen Katastrophe letztlich genau so betroffen sind, die die Lohnabhängigen. Hier gibt es keine sozialen Gewinner und Verlierer … alle gehen gemeinsam drauf, wenn die Welt durch Plutonium verseucht wird.

Unter dem Eindruck der aufkommenden Forderung nach Verstaatlichung von Tepco müssten die Verfechter der freien Marktwirtschaft jetzt eigentlich wieder auf den Plan treten und vor zu starker staatlicher Einmischung, gar sozialistischen Experimenten, warnen. (Vielleicht bringen die Wahnsinnigen auch das noch!) Die private Initiative des Marktes soll es richten und wenn Tepco die Kosten davon laufen, dann soll der Konzern doch Pleite gehen. Das wär doch was: Der Konzern Pleite,  Einstellung aller Arbeiten an den Reaktoren … und man hinterläßt nur wieder eine weitere Industrieruine!?? Oder??? Mit welcher Konsequenz? ….

Vorerst jedoch herrscht an der Front der Ritter vom „gesunden“ Marktverstand Ruhe. Vielleicht erahnen sie die ganze besonders geartete „Systemrelevanz“ der Energieversorgung mittels Atomstrom?

Wenn im Zusammenhang mit dem Atom-Desaster in Japan jetzt wieder der Ruf nach Verstaatlichung laut wird, dann zeigt das erneut das Eingeständnis des Versagens des kapitalistischen Privateigentums. Die Logik des Ablaufs ist die gleiche wie bei der „Finanzkrise“: die Gesellschaft soll einspringen und Kosten tragen, wo Privateigentum und Markt versagen.

Da den Herrschaften aber gesellschaftliche Kontrolle und Einflussnahme – und sei es über ihren Staat - an und für sich als „kommunistisches“ Grundübel schlechthin erscheint, dient ihnen diese „Kontrolle“ durch den Staat nur als Mittel, um Konzernen unter die Arme zu greifen, damit sie möglichst bald wieder auf die Beine kommen, um ihr Geschäft, das vor allem einigen wenigen Betuchten nutzt, fortzusetzen.

Für seine Entwicklung aus nicht-kapitalistischen Verhältnissen brauchte und braucht das kapitalistische Privateigentum den Staat: für seine Durchsetzung und für die Realisierung von Großprojekten der Infrastruktur. In dem Maße jedoch, wie das Kapital sich entwickelt, ein Bankensystem und Kreditwesen nach seinem Bilde und Bedarf erzeugt, versucht es staatliche Einflussnahme auf Sankt Markt, die „freien Produzenten“, zu reduzieren und auszuschalten. Es nimmt die staatliche Einflussnahme erst wieder hin, wenn es gilt Verlust zu vermeiden bzw. der Allgemeinheit von Steuerzahlern aufzuhalsen.

Es wird wirklich Zeit, nicht nur die AKWs sondern auch das Kapital „abzuschalten“!!

Editorische Hinweise

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.