Tagebucheintragung
Notizen zu
Ernst Bloch

von Rudi Dutschke

04/11

trend
onlinezeitung

23. März. 1963
Berlin


Fühle mich ausgezeichnet zur Zeit; die tägliche 10-12stündige Studiererei, die »Anzapferei« u[nd] Exzerpiererei finden mich unersättlich; Jörg(2) ist ein sehr angenehmer, weil sich frei in der Bindung an das Streben fühlender Zeitgenosse, wir sind und bleiben auf dem Wege, dringen immer tiefer in die uns bewegenden Sphären des Seins, das noch nicht erschienen ist, ein - das Sein west(3) nicht nur - nicht - an u[nd] ab, das Sein ist, wie Bloch(4) sagt, immer ein »Im-Auf-gang-Sein«, die Kategorie des »Noch-Nicht«, die Kategorie der Möglichkeit wird von Heidegger bei seiner ontologischen Auslegung der Welt nicht benutzt. Mir scheint Bloch ein treuer Hegelianer mit durchgeführter »Umstülpung«=Marxist zu sein, ein Denker, der mir in seiner sprachlichen Gewalt u[nd] seiner gedanklichen Schärfe u[nd] Tiefe, Tiefe in Schärfe, lieber ist als ein Heidegger(5), der sein Sein in der Sprache begründen will.

Hegel ist ein sehr schwer in den Griff zu bekommender »freier Geist«; mit Hilfe von Lukács (6) u[nd] Bloch, ein wenig schon durch Landgrebe(7), sind mir seine verschlungenen Pfade, die aber immer ein ganz konkretes Zentrum haben, vertrauter geworden: Hegel -> Marx -> Lukács - Bloch <- Kant <- Nietzsche Heidegger ++ Loewith(8) , der wohl beste Philosophiegeschichtler, dessen System ich noch nicht kenne; System ist falsch, dessen Denkweise ich noch nicht kenne.

Anmerkungen der Herausgeberin Gretchen Dutschke

2) Ein Kommilitone.

3) Die Äußerung bezieht sich auf Martin Heideggers Satz, »daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein«. (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik, 5. Aufl. [i. Aufl.: 1929], S. 41)

4) Ernst Bloch (1885-1977), bedeutender deutscher Philosoph, der versuchte, Marxismus und Christentum in Übereinstimmung zu bringen. Sein Hauptwerk ist »Das Prinzip Hoffnung«.

5) Martin Heidegger (1889-1976), bedeutender deutscher Philosoph. Bekannte sich zum Nationalsozialismus. Hauptwerk: »Sein und Zeit«.

6) Georg Lukács (1885-1971), marxistischer ungarischer Literaturhistoriker und Philosoph. So umstritten wie bekannt war sein Werk » Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik«.

7) Ludwig Landgrebe (1902-91), die längste Zeit in Köln lehrender österreichischer Philosoph, der sich vor allem mit Gesellschaft und Geschichte befaßte.

8) Karl Löwith (1897-1973), Philosophiehistoriker, der sich vor allem mit den christlichen Wurzeln des Abendlands auseinandersetzte.

 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:
Rudi Dutschke, Jeder hat sein Leben zu leben, Die Tagebücher 1963-1979, Köln 2005
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