Aussprache über Hegel (Jena 1951)

von
Ernst Bloch

04/11

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Es liegt uns heftig daran, gegenwärtig zu sein. Nur ein echter Genosse seiner Zeit ist auch für die kommende da. Vor allem, wenn er von einer Höhe unserer Tage in die kommenden hineinsehen kann.

Es bewegt uns überdies alle, daß wir uns heute und hier im alten Jena befinden. Unausweichliche Erinnerung taucht damit auf, Verpflichtung und Hoffnung, Kritik an unserer Arbeit und Richtlinien der Ermunterung. Vor hundertzwanzig Jahren, nicht zu lange her, ist Hegel gestorben, und wir sind in der Stadt versammelt, wo er die entscheidenden ersten Produktions- und Gestaltungsjahre verbracht hat. Hier entstanden die Jenenser Logik, die Vorlesungen über Naturphilosophie und vor allem die Phänomenologie des Geistes, das Werk, das nach der Analyse und klassischen Definition von Marx die Entstehung des Menschen und seiner Welt durch Arbeit darstellt. Es reflektiert die fortschreitend und wechselseitig dialektische Veränderung des Subjekts am und durch das Objekt, des Objekts an der historisch-dialektischen Genesis, mit der Kraft, den Satz zu bewahrheiten: Das Geheimnis der Erscheinung löst sich durch ihre Geschichte. Engels sagt und schärft ein, wir deutschen Sozialisten seien stolz darauf, nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen abzustammen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel. Nun fiel gestern und heute sehr oft das Wort: rationeller Kern; was ist das in Ansehung der gesamten Überlieferung der Philosophie? Es ist das wissenschaftlich Lebendige und weiter Progressive unabhängig von seiner zeitbedingten, idealistischen Hülle. Es ist das Unabgetane und Unabgegoltene in der Vergangenheit, also dasjenige in den großen Problemen und Gedanken einer Zeit, was nicht mit der Geschichte und mit der Zuordnung zu seiner Gesellschaft selber vergeht und im abgetanen Sinne historisch wird. Rationeller Kern ist zuletzt dasjenige, was sich gerade auch für ein späteres, fortgeschrittenes Bewußtsein durch sein Element konkreter Vernunft, konkreter Abbildung der Wirklichkeit rechtfertigt.

Solche Kerngedanken sind nie vergangen, und wer sich ihnen zuwendet, blickt nicht rückwärts. Ich glaube, die erstaunlichen Formulierungen Stalins über die Sprache als ein nicht schlechthin an den jeweiligen Unterbau fixiertes und mit ihm vergehendes Gebilde, sie gelten sehr anderer Weise auch für das Bleibende, besser: für das mit uns Ziehende großer Geisteswerke. Diese gehören zu dem, was man mit einem - nur dem Historismus fremdartigen Ausdruck -Zukunft in der Vergangenheit nennen kann und muß. Scharfe ökonomisch-soziale Analyse hat alles Vergänglich-Ideologische an diesen Werken aufzulösen, damit es nicht weiter störe und verführe, sondern eben als bloße Hülle auf der historischen Strecke bleibe. Jedoch desto unverwechselbarer bleibt eben das, was dann, jenseits der bloßen Zeitideologie, auch des durchschauten Scheinproblems, hervortritt, ja überhaupt erst nach der historisch-materialistischen Kritik hervorzutreten vermag: das Unabgegoltene, das echte Problem, die weiterdeutende Richtlinie seiner Lösung. Da hören dann bedeutende Teile der Geschichte auf, nur vergangen zu sein. Da wird die Erinnerung an große Denker ebenso Erinnerung an eine noch fortbestehende, wenn auch umfunktionierende Aufgabe. Und das festliche Gedenken an diese Männer setzt keine kontemplative Festrede mit einem Erbbegräbnis, sondern die Denker sind hier, mitten unter uns, im gleichen Saal, sprechen zu unseren Problemen mit, man kann sagen, sie sind zu ihren Enkeln versammelt. Wir selber aber sind keine Enkel im Sinn von Epigonen, vielmehr, wir greifen auf die großen Denker, nach Maßgabe des Nicht-Vergangenen in ihnen, nur deshalb zurück, weil sie selber auf uns vorgreifen und Mitarbeiter in jenem Raum sind, der nicht der Raum der Vergangenheit ist. So bei Hegel, so bei Leibniz, so bei Aristoteles, so bei Heraklit: de nobis res agitur, von uns, von den Beziehungen der Menschen zu Menschen und zur Natur wird hier gehandelt, auf zeitgebunden-ideologische und doch auch, dem Wichtigsten nach, auf weiterlehrende, selber zukunfthaltige Weise. Das Substrat des Kulturerbes überhaupt ist diese Zukunft in der Vergangenheit. Sie ist das letzthin Progressive in ihr und dasjenige, was aus der ideologischen Hülle zum rationellen Kern hinführt, ihn entdecken läßt.

So wollen wir hier, mit Logischem beschäftigt, des nicht toten Hegel gedenken. Seine härteste und wohl fruchtbarste Arbeit hat der dialektischen Durchdringung und ungeheuren Erweiterung der Logik gegolten. Die formale Logik hat er darin zwar ans Ende gesetzt, wo sie nicht hingehört, nämlich in die bei ihm so genannte subjektive Logik, als die des Begriffs im Hegeischen Sinn, nämlich des Letzten nach Sein und Wesen oder der schließlichen Einheit von Sein und Wesen. Wir hier geben dem Begriff und dem Formallogischen nicht diese hochidealistische Ehre; er ist nicht das, was Sein und Wesen krönt. Aber Hegel hat der formalen Logik auch einen anderen Rang gegeben und das gerade hinsichtlich ihres Erziehungs-, weiterhin ihres methodologischen Werts. Sie ist dann zunächst jene Schule der Vernunft, welche zur inhaltlich sich entwickelnden Dialektik unumgänglich hinleitet und sie sachlich präformiert. So empfiehlt Hegel die alles übrige einleitende Kenntnis rein formallogischer Beziehungen, weil, wie er sagte, »der Jugend erst einmal Hören und Sehen vergehen muß«. Das bedeutet: die unmittelbare Gewißheit, wie sie die Sinnlichkeit gibt, muß gebrochen und durch die Erkenntnis logisch abbildbarer Zusammenhänge überboten werden. Statt in der sinnlichen Gewißheit und auch im sogenannten gesunden Menschenverstand zu kleben, müssen die Menschen erfahren haben, »was es bedeutet, förmliche Gedanken im Kopf zu haben«, also Gedanken der formalen Logik. Und noch ein Wort Hegels gehört hierher, es ist gewissermaßen allen jenen zugeeignet, die sich für zu vornehm oder zu tief zu halten gedenken, um formale Logik zu treiben und sie so sehr ernst zu nehmen, wie sie verdient. Hegel vergleicht die formale Logik mit der Grammatik in der Hand von Kindern oder mit Weisheitssprüchen im Mund von Unmündigen, Altklugen. Die gleichen Weisheitssprüche aber im Mund erfahrener Frauen und Männer, sagt Hegel, zeigen plötzlich Substanz und Gehalt. Ebenso sieht die Grammatik anders drein, je nachdem, ob man sie vor der wirklichen Erfahrung der Sprache betreibt oder aber nach dieser Erfahrung mit wahrer Betroffenheit der Sprachlehre sich hingibt. Die formale Logik aber, sagt Hegel, gehört durchaus in diese Reihe. Im Maße, wie Wissen und Denkerfahrung steigen, wird gerade dieser Lehrgegenstand wachsend bedeutsam, er wird außerordentlich interessant, und sein förmlicher Inhalt wird kostbar. Lenin hat sich diese Hegelstelle besonders exzerpiert und nannte ihren Gedanken »fein und tief«. Und was die formallogische Gegenstandsbeziehung selber angeht, so nennt sie Hegel bei Aristoteles zwar nur eine »Naturgeschichte des endlichen Denkens, eine Logik des Endlichen«, das heißt hier, des Nichtdialektischen, jedoch er fügt hinzu: »Aber man muß sich damit bekannt machen, denn im Endlichen findet sie sich überall.« Die Schöpfung des Aristoteles bleibt auch für Hegel eine höchst wichtige Vorlage, ja notwendige Bedingung und dankbar anzuerkennende Voraussetzung. Erst recht aber bleibt uns das alles und mehr an Hegels Logik, am dialektischen Reichtum dieser noch idealistischen, jedoch bereits konkret gezielten Philosophie. Die Phänomenologie, die hier in Jena geschriebene, nannte Hegel seine »Entdeckungsreisen«. Das bedeutet objektiv: sie ist Wahrheit auf dem Marsch. Und gerade, weil die Wahrheit seitdem so entscheidend weitergekommen ist, als materialistische, ist Hegels Prozeßgedanke und Humanum ihr neu lebendig, ein echtes Erbe.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:
Ernst Bloch, Über Methode und System bei Hegel, Ffm 1970, S.7-10
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