Repression & Widerstand unter Hartz IV

Die von Hartz IV Betroffenen: Die Vergessenen und Verstoßenen einer reichen Gesellschaft?
Ein Bericht aus dem sozialen Alltag einer Kleinstadt

von Dieter Carstensen

04/11

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Zur Zeit rauschen die Meldungen zum “Bildungspaket” für die Kinder von Hartz-IV-Betroffenen durch den Blätterwald. Das Angebot wird von die Betroffenen noch kaum abgefragt, die Medien berichten von bisher gerade einmal zwei Prozent Anträgen aus dem Kreis der Antragsberechtigten für das Angebot. Ich befürchte, dass große Teile der Öffentlichkeit, was von der Regierung durchaus gewollt zu sein scheint, daher zu dem Ergebnis kommen werden, “na so knapp kann es bei den Hartz’lern ja nicht sein, wenn sie jetzt nicht rennen und das Geld einfordern.”

Die Realität vor Ort sieht hingegen völlig anders aus. Seit Jahren engagiere ich mich als Sozialarbeiter ehrenamtlich für Betroffene von Hartz IV und am Wochenende hatten wir ein gemeinsames Treffen in unserer Kleinstadt im südlich-ländlichen NRW. Das Treffen warf ein Schlaglicht auf die reale Situation der hilfsbedürftigen Menschen, die weit entfernt von den Vorstellungen der meisten Politiker, großer Teile der Medien und der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit ist.

Meiner Einladung zu einem Treffen zu dem Thema “Die Veränderungen durch den Gesetzgeber für Hartz-IV-Bedürftige im Jahr 2011″ waren 34 Bedürftige gefolgt, darunter 14 alleinerziehende Mütter, die ohnehin einen Anspruch auf das sogenannte “Bildungspaket” hätten. Insgesamt waren unter den 34 Anwesenden 27 Personen, deren Kinder einen Anspruch auf das “Bildungspaket” haben.

  • Niemand der Anwesenden hat jedoch bisher einen entsprechenden Antrag gestellt

  • Niemand der Anwesenden hat bisher darüber ausreichende Informationen erhalten

  • Niemand der Anwesenden hat jemals an Protestaktionen gegen Hartz IV teilgenommen

  • Niemand der Anwesenden war Mitglied einer Partei, einer Gewerkschaft, eines Vereins oder eines Sozialverbandes

  • Niemand der Anwesenden hat eine Tageszeitung abonniert und über einen funktionierenden Internetzugang verfügten lediglich sechs der Anwesenden

  • Lediglich 15 der Teilnehmer kamen direkt aus dem Ortskern unserer Kleinstadt, in der ca. 8.000 Menschen leben, der Rest kam aus den, zu unserer Stadt gehörigen, umliegenden Dörfern

Diese Informationen sind als Einstieg in den folgenden Erfahrungsbericht deshalb wichtig, um an dem Beispiel unserer Stadt einmal zu verdeutlichen, wie schwer es ist, die Betroffenen überhaupt zu erreichen und sie für gemeinsame Aktionen und Informationen zusammen zu bringen.

Das Treffen erforderte von mir sechs Wochen intensive Vorbereitung, um alle zu erreichen sowie teilweise auch einen kostenlosen Fahrdienst anbieten zu können, da bei uns auf dem Land am Wochenende der öffentliche Nahverkehr dünn gesät ist und schon alleine die Fahrtkosten manchen von der Teilnahme abgehalten hätten.

Von den 34 Personen haben vier gar kein Telefon und 14 nur sogenannte “Prepaid-Handys”, um die Kosten im Griff zu haben, und wenn die Karte einmal wieder gegen Monatsende leer telefoniert ist, können sie nicht zurückrufen, wenn noch Fragen offen sind. Alleine das Kontakt miteinander halten ist also schon schwierig.

Wie sehr die finanzielle Not dieser Menschen ihren Handlungsspielraum einengt, möchte ich einmal an folgender Musterrechnung verdeutlichen, die für alleinstehende Hartz-IV-Bezieher aus meiner praktischen Erfahrung mit diesen Menschen real ist und die Berechnung der Bundesregierung zu den Regelsätzen Lügen straft:

Von 364 Euro Regelsatz muss ein lediger Erwachsener ca. 40 Euro Strom bezahlen, ca. 15 Euro für eine Haftpflicht- und Hausratversicherung, ca. 25 Euro für Telefon, bleibt ein Rest von 284 Euro. Desweiteren muss er 50 Euro monatlich als Reserve zurücklegen, was die ARGEn mittlerweile auch kontrollieren sollen, da die einmaligen Beihilfen, z.b. für einen kaputten Fernseher, Waschmaschine, Herd, Renovierung, eventuelle Reparaturen durch Handwerker etc., gestrichen wurden; sie sind jetzt im Regelsatz mit eingerechnet, im Gegensatz zur früheren Sozialhilfe.

Bleiben bei vernünftiger Haushaltführung also 234 Euro Restbetrag für alles andere, wie z.B. Lebensmittel, Porto, Fahrkarten, Kleidung, Arzt-/Medikamentenzuzahlung, Haushaltsmaterialien etc.!

Alleine eine ausgewogene Ernährung würde übrigens nach Meinung von Ernährungswissenschaftlern bei Ledigen ca. 240 Euro pro Monat kosten. Mein Hausarzt, der auch viele Hartz-IV-Bedürftige unter seinen Patienten hat, fragte mich vor vier Jahren einmal, warum die Zahl der psychosomatisch Erkrankten und vom körperlichen Verfall Betroffenen unter seiner Patientenschaft so rasant zu nehmen würde. Ich habe es ihm dann anhand dieser Musterrechnung erklärt. Als Arzt hatte er sich damit nie beschäftigt, aber danach sah er diese Patienten mit ganz anderen Augen.

Wo das Geld für eine vernünftige Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben, wie es das Grundgesetz vorsieht, herkommen soll, wenn man eine reale Rechnung mit dem Hartz-IV-Regelsatz aufmacht, bleibt das Geheimnis der Regierenden. Als Sozialarbeiter sehe ich täglich, wie sehr die meisten Betroffenen jeden Cent umdrehen. Die Sozialhilfe gab es ja schon vor Hartz IV, ihre Folgen, vor allem für Alleinstehende und Rentner sind gründlich untersucht worden. Im Schnitt sinkt bei diesen armseligen Lebensverhältnissen die Lebenserwartung um 10 Jahre.

Zynisch formuliert heißt Hartz IV- oder Sozialhilfebezug: Früherer, gesetzlich verordneter Tod.

So sieht die Realität aus im Staate Deutschland – und nicht anders.

Wer von 234 Euro monatlich für alles dann noch Kettenraucher oder Alkoholkonsument in größerem Umfang sein möchte, spart sich das beim Essen und der Kleidung ab. Aber das machen – allen soziologischen Untersuchungen nach – höchstens fünf Prozent der Betroffenen, und wer will es Menschen, die in der Hoffnungslosigkeit leben, verdenken, auch mal in eine Scheinwelt zu flüchten? 95 Prozent der Betroffenen hingegen versuchen, bei schmalster Haushaltsführung mit ihrem Geld irgendwie zu überleben, mehr nicht. Und damit sind wir bei unserem Treffen am Wochenende:

Allein die Fahrtkosten oder die zwei Tassen Kaffee in der Gaststätte bei unserem Treffen, spürten die Anwesenden finanziell deutlich und sagten es auch. Einige waren auch mit dem Bus gekommen, Hin- und Rückfahrt je 2,40 Euro, plus zwei Tassen Kaffee a 1,60 Euro, also 8 Euro für ein Treffen, das für einen Nicht-Geringverdiener finanziell nicht spürbar gewesen wäre, für die Anwesenden aber ein finanzielles Problem war.

Von den Dörfern aus kostet jeder Besuch der ARGE also mindestens ca. 5 Euro, ebenso wie jeder Einkauf in der Stadt. An Schwimmbadbesuche mit den Kindern ist da gar nicht zu denken, Fahrt zum nächsten Freibad hin und zurück 4,80 Euro plus Eintritt. Genau diese Fragen bestimmten die Diskussion auf unserem Treffen. Woher kann man überhaupt Zuschüsse für das Nötigste bekommen, um den Kindern wenigstens etwas bieten zu können?

Über das Bildungspaket hatten fast alle Anwesenden keinerlei Informationen erhalten, woher denn auch? Logischerweise wussten sie auch nichts von einer Antragsfrist bis Ende April und einem rückwirkenden Anspruch ab 1.1.2011. Nur einer der Anwesenden wusste darüber hinaus, dass seit Jahresbeginn zusätzlich wenigstens ein rückwirkender Anspruch für die Warmwasseraufbereitung in Höhe von 8 Euro besteht, wenn das Wasser nicht über die Zentralheizung, sondern z.B. mit einem Durchlauferhitzer erwärmt wird. Acht Euro sind viel Geld für diese Menschen, aber die Informationen,über das Wenige, was ihnen zusteht, erreichen sie oft nicht, gerade hier in unseren ländlichen Strukturen. Der Eine, der davon wusste, hatte den Zuschuss beantragt und direkt mitgeteilt bekommen, dass die Rechenprogramme der Behörde wohl erst im Juni so weit wären, dass Geld auch auszahlen zu können.

Die anwesenden Eltern sagten zum Bildungspaket, es wäre ja schön und gut, wenn der Vereinsbeitrag für den Sportverein erstattet werden würde, aber wie die Fahrtkosten zu den Trainingsstunden aufbringen, wie die Sportkleidung für die Kinder finanzieren?

Petra*, 39 Jahre, alleinerziehende Mutter einer zwölfjährigen Tochter, die auf das Gymnasium geht, sagte:

“Dieter, ich spare mir alles für Lisa* vom Munde ab, damit meine Kleine es besser hat, ich selber habe drei Paar Schuhe, eines für den Winter, eines für den Sommer und Sandalen. Eine Jacke für den Winter, eine für den Sommer. Kein Internet oder PC, obwohl die Kleine das gerne hätte, auch für die Schule, um den Anschluss zu halten. Ich drehe jeden Cent zweimal um und nun kommen die mit dem Mogelpaket an? Den Schulzuschuss, den sie da rein gepackt haben und so toll verkaufen, hatten wir vorher auch! Ich fühle mich verar…”

Gerd*, 52 Jahre, arbeitssuchender Techniker, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, sagte:

“Klar, wenn ich mal was mitbekäme, wo eine Demo ist, ich würde mitmachen, wenn es sich lohnt. Aber wenn denn mal was in Köln ist, kostet es über 20 Euro hin und zurück und wenn dann da nur ein paar Hanseln außer mir sind, ärger ich mich über das vergeudete Geld. Die Parteien und Gewerkschaften organisieren da gar nichts, es gab nur eine Demo vor Jahren, kurz vor der Einführung von Hartz, wo auch kostenlose Busse von der Gewerkschaft nach Köln zur Demo fuhren. Da waren wir auch 100.000 Leute, aber dann haben die Gewerkschaftsbosse und der Schröder gekungelt und wir waren die Dummen! Und die Linken? Von denen hörste und siehste hier in Oberberg doch nix. Gibt es die hier überhaupt?”

Jutta*, 49 Jahre, 14-jährige Tochter, verheiratet, der 54-jährige Mann ist seit 9 Jahren arbeitsuchender Metzgermeister und wollte nicht mit zum Treffen, da er meint, “das bringt doch alles nix mehr”, sagte zu ihrer Situation:

“Mein Mann hat resigniert. Der Josef* hat im Laufe der Jahre 356 Bewerbungen geschrieben, vier mal ein Vorstellungsgespräch gehabt. Alle vier Firmen wollten zu einem Lohn, der nur Hohn war, billigst einen gelernten Metzgermeister haben, mit all der Verantwortung und Fähigkeit, aber einem Lohn unter einem Hilfsarbeiterlohn, von dem wir nicht hätten leben können. Ich will aber, dass es unserer Tochter besser geht, ich gebe nicht auf, aber der Josef ist depressiv geworden, muss Tabletten nehmen – ich glaube nicht, dass er sich noch mal aufrappelt. Er ist einfach zu oft getreten worden. Im Dorf sind wir wie Aussätzige, wir können ja an nichts mehr teilnehmen. All die Vereine, die das Dorfleben ausmachen, wo wir früher drin waren, wir können nicht mal für einen den Mitgliedsbeitrag zahlen. Das, was wir übrig haben, investieren wir in unsere Kleine. Die 100 Euro Schulzuschuss waren ja schon ein Hohn! Damit für eine 14-jährige die Bücher, Hefte und alles kaufen? Nee, das sparen Josef und ich uns vom Mund ab.”

Für mich war es beklemmend, die tiefe Resignation der Anwesenden zu spüren, ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Bei den Allermeisten war jede Hoffnung in eine wirkliche und ernsthafte Unterstützung durch die Parteien oder Gewerkschaften geschwunden.

Peter*, 56, arbeitssuchender Chemielaborant, sagte:

“Wenn ich irgendwo spüren würde, da meinen es welche ernst, rufen zu einer großen Demo auf, die dann keine Eintagsfliege bleibt, sondern wo man absehen kann, es geht weiter, bis das Unrecht mit dem Hartz-Verbrechergesetz ein Ende hat, dann würde ich mitmachen, auch wenn es mich mein letztes Hemd kostet. Aber wer von uns Betroffenen soll so was organisieren? Das wissen die Gangster in Berlin genau: Wir Hartz-IV’ler können den Widerstand von uns aus nicht organisieren, dazu halten sie uns mit Absicht finanziell so knapp. Sonst könnten wir ja auf die Idee kommen, Flugblätter zu drucken und sowas und uns auch auf dem Land organisieren, aber wenn es schon an der Busfahrkarte scheitert… Schei… ist das! Von wegen, was manche sagen, wir wollten uns nicht wehren! Können vor Lachen, das ist das Problem, mit den paar Penunzen.”

Besonders kritisch fragten die Anwesenden nach, warum denn nun keine Partei oder Gewerkschaft endlich Klage vor der EU gegen die Hartz-Gesetze einreichen würde, und wenn sie selber nicht klageberechtigt wären, warum sie dann nicht stellvertretend für alle ein paar ihrer Mitglieder den Klageweg finanziell ermöglichen würden und das Ganze durchziehen.

Gabi*, 52 Jahre, alleinstehende Schneidermeisterin, seit der Pleite ihrer Textilfabrik vor neun Jahren arbeitssuchend, sagte:

“Bisher bin ich immer wählen gegangen. Ob ich das nochmal mache, weiß ich nicht. Nazis wähle ich sowieso nicht, aber die anderen, was tun die denn wirklich für uns? Ich will Taten sehen, keine Sprüche hören, davon kann ich mir nichts kaufen. Geld ist doch genug da, für Banken, Atomkonzerne, Hoteliers – nur wir gehen immer leer aus. Mich ko… das an, jetzt labert alles über Öko und Atom und wir wissen am Ende des Monats nicht mehr weiter, wir leben nur noch vom Ersten bis zum Letzten, immer die finanziellen Löcher von Monat zu Monat schieben. An uns denkt doch keiner, weil sie wissen, wir können uns nicht richtig wehren.”

Als Quintessenz, dieses mich persönlich berührenden Treffens, nahm ich für mich mit:

Die Betroffenen sehen ihre Situation sehr realistisch. Viele haben noch längst nicht resigniert, aber wenn sie ihre Kraft und ihr weniges Geld einbringen, dann nur in Aktionen, die wirklich etwas bewegen versprechen. Es gab ja voriges Jahr z.B. eine überall großspurig angekündigte “Großdemo” gegen Hartz in Oldenburg, wo dann tatsächlich nur knapp 8.000 Leute da waren, da kann ich verstehen, wie solche Fehlplanungen bei den Betroffenen ankommen.

Klar wurde auch, dass sich niemand der Anwesenden vor den Karren einer Partei oder Organisation spannen lassen will, dazu sind die gemachten Erfahrungen zu schlecht. Dass eine solche Rechnung nicht aufgeht, beweist das Beispiel der Linken.

Als einzige Partei lehnt sie die Hartz-IV-Gesetze ab. Aber sie wird von den Betroffenen nicht als Sachwalterin ihrer Interessen angesehen. Das zeigen sowohl ihre Wahlergebnisse bei den jüngsten Landtagswahlen, mit knapp 3 %, und ihr Stimmanteil bei den jüngsten bundesweiten Wahlumfragen mit knapp 7 % – wohlgemerkt bei ca. 25 % sozial verarmter Menschen in der Bundesrepublik.

Die Geschichte der Weimarer Republik hat es bewiesen: Die “Verelendungstheorie” der Kommunisten, die davon ausging, dass Verarmte links wählen, war ein historischer Fehler sondergleichen und trug mit bei zum Untergang der Weimarer Republik. In unserer Runde setzten die meisten Anwesenden in der abschließenden Diskussion darauf, dass SPD und Grüne ihre Fehler mit Hartz IV, dem Niedriglohnsektor, der Leiharbeit, den Steuererleichterungen für Reiche, der Einführung der Hedge-Fonds usw. einsehen und korrigieren werden.

Ich will das nicht werten, ich beschreibe nur, aber in meinen Gedanken war:

"Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt."

Soweit meine jüngsten Erfahrungen und meine Gedanken dazu.

Editorische Hinweise

Den Artikel spiegelten auf Empfehlung des Autors von dessen Homepage.