Lob der Individualität
Michael Seidman`s  "Gegen die Arbeit "


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esprochen von Peter Nowak

04/12

trend
onlinezeitung

Vor 20 Jahren hatte der US-Historiker Michael Seidman seine Doktorarbeit unter dem Titel „Arbeiter gegen die Arbeit“ herausgegeben. Dass nach zwei Jahrzehnten eine deutschsprachige Ausgabe realisiert werden konnte, ist in erster Line dem Verlag Graswurzelrevolution und dem Übersetzer Andreas Förster zu verdanken.

Das Buch ist eine Fundgruppe für alle, die sich für eine Sozialgeschichte der spanischen Revolution und der französischen Volksfrontpolitik jenseits der Partei- und Organisationsgeschichte interessieren. Seidman untersucht, wie die Mehrheit der Proletarier_innen 1936 in Barcelona und Paris auf die linken Umwälzungen regierten. Die Ausgangsbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein. In Barcelona hatte die anarchosyndikalistische CNT die Kontrolle über einen Großteil der Betriebe übernommen. Im selben Jahr übernahm eine von der Kommunistischen Partei Frankreichs unterstützte Volksfrontkoalition im nördlichen Nachbarland die Regierung.

Da Seidman nicht die Organisationen und ihre Ideologien, sondern deren Politik und ihre Auswirkung auf die Mehrheit der Bevölkerung interessiert, kommt er zu auf den ersten Blick erstaunliche Befunde. Beiden ideologisch so unterschiedlich positionierten Bewegungen ging es um eine Gesellschaft der Produzent_innen. Seidman zeigt an zahlreichen Beispielen aus der anarchosyndikalistischen Presse und anhand von Propagandaplakaten, dass das Ideal der spanischen Anarchosyndikalist_innen eine Gesellschaft der Arbeit war. In harschen Tönen wandten sie sich alle, die nicht durch ihre Arbeit an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligten. “Die Müßiggänger schieb bei Seite“, dieser Satz aus der Internationale wurde von einem großen Teil der CNT-Aktivisten mit voller Überzeugung gesungen. Damit polemisierten sie gegen den Adel und den Spanien damals sehr mächtigen Klerus, aber auch gegen eine Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, Spanien zu einem modernen Industrieland zu formen. Seidman zeigt auf, dass sich die CNT diese Aufgabe übernehmen wollte und dafür die Stachanow-Methoden der Bestarbeiter_innen aus der Sowjetunion zum Vorbild nahm. Auch den Taylorismus, den die CNT anfangs als arbeiterfeindlich bekämpfte, akzeptierte sie schließlich. Die Zergliederung der Arbeit wurde von vielen CNT-Aktivisten als Beitrag zur Verbesserung der Arbeitswelt gesehen. Damit kamen sie bald in Konflikt mit dem Teil der Proletarier_innen, die entweder politisch uninteressiert waren oder in die CNT nur eingetreten sind, weil sie sich 1936 in Barcelona Vorteile erhofften. Auf vielen Seiten zeigt der Historiker auf, wie sich die CNT zunächst mit beschwörenden Appellen, doch bald mit Kontrolle und Überwachung, die Ausgabe von Arbeitsausweisen und bald gar die Errichtung von Arbeitshäusern um die Erhöhung der Produktivität bemühte.
In Paris setzte mit der Volksfrontbewegung die Arbeiterfreizeit- und urlaubsbewegung ein. Seidman sieht hier sogar die Wurzeln des Billigtourismus. Nicht Arbeiterkontrolle, sondern die Entdeckung, dass Arbeiter_innen als Konsument_innen sein können, sei der Kern der Politik der französischen Regierung gewesen. Mag man manchen Thesen Seidmans auch nicht folgen. Die zentrale These vom Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit hat er mittlerweile selber relativiert, was sich auch an der Änderung des Titels zeigte. Auch wenn er die Quellen gelegentlich sehr eigenwillig interpretiert, so ist das Buch ein Stück Arbeitergeschichtsschreibung, die ansonsten ignoriert und vernachlässigt wird.

Ansporn zur Diskussion

Es ist auch ein Ansporn zur Diskussion, der auch in libertären Kreisen schon erfreulich eifrig genutzt wird. Es gibt aus dem Umfeld der libertären Publikation Barrikade gar eine eigene Homepage dazu.

http://syndikalismus.wordpress.com/2011/11/05/gegen-die-arbeit-aufruf-zur-diskussion/

Allerdings finden sich dort merkwürdige Untertöne, wenn suggeriert wird, dass es als Affront empfunden wird, dass ausgerechnet ein FAU-Mitglied das Buch übersetzt hat. Dabei müsste man es begrüßen, dass Buch nun endlich übersetzt worden ist und damit auch in Deutschland die kritische Diskussion beginnen kann. . Und warum soll denn nicht die Theorie und Praxis genau so kritisch diskutiert werden können, wie die der Kommunist_innen? Es gab in Teilen des libertären Spektrums, besonders bei Genoss_innen, die sehr auf die Geschichte fixiert waren, bisweilen den Eindruck, als würde das Bild von den „guten Libertären“ gezeichnet, die von den „bösen Kommunisten“ verfolgt, ermordet und an der Durchsetzung ihrer Vorstellungen gehindert wurden. Es ist auch Seidmans Verdienst diesem binären gut-böse-Schema historische Fakten gegenüber gestellt zu haben.. Denn, auch die meisten Libertären haben sich mehr mit der Verfolgung als mit der realen Politik der anarchistischen Gruppen in Spanien befasst. Völlig recht aber haben die Genoss_innen mit dieser Kritik an Seidman.

„Seidman propagiert ganz offen den Individualismus: »Individualität ist das Einzige, was Menschen gemein haben.« (Leitmotiv seines Buches ‚The Republic of Egos‘, 2002). Allerdings ist das kein „Schlag ins Gesicht“ für Genoss_innen, die weiterhin das Konzept der Selbstorganisation auch im Arbeitsleben vertreten, wie die Libertären von der Barrikade meinen. Vielmehr wird hier die Diskrepanz zwischen einen Anarchismus deutlich, der sich in erster Linie individualistischen Konzepten orientiert und anderen, die eben die selbstbestimmte Kollektivität in den Mittelpunkt stellen.

Seidman und Occupy

Die Kritik an dem Individualismus von Seidman ist völlig korrekt beschrieben. Er durchzieht sein ganzes Buch und ist auch wesentlich für seine Theorie. Für ihn ist der individuelle Lohnabhängige ohne gewerkschaftliche und politische Organisierung der Maßstab und die Norm. Lohnabhängige, die sich in einer Gewerkschaft oder gar in einer politischen Partei organisiert haben, fallen für ihn unter die Rubrik der Funktionär_innen, die den Lohnabhängigen ihre Politik aufdrücken wollen. Nur vor dem Hintergrund dieses politischen Dogmas kann Seidman zu dem Schluss kommen, dass sämtliche politische und gewerkschaftlichen Organisationen die Lohnabhängigen nur zu ihren Konzepten zwingen wollen. Er fragt nicht, ob sich in diesen Organisationen nicht auch Lohnabhängige sich freiwillig organisiert haben, die eben aus ihren Erfahrungen am Arbeitsplatz die Konsequenz gezogen haben, dass der autonome Lohnarbeiter wie ihn sich Seidman vorstellt, ein besonders ausbeutbares Subjekt ist. Bemerkenswert auch, wie er die ganze Masse der Unorganisierten ziemlich undifferenziert zusammen fasst, als Subjekte, die vor der Lohnarbeit flüchteten. Dabei berücksichtigt er die spezifischen historischen Situationen genau so wenig, wie die kulturellen, religiösen und politischen Prägungen dieser Menschen. Denn der autonome Arbeiter, der in keiner Organisation und politischen Gruppierung organisiert ist, ist erst einmal eine Seidmansche Fiktion. Der konnte in Barcelona 1936/37 als Franco-Anhänger, als Falangist oder militanter Katholik seine Arbeitsverweigerung als Teil seines Kampfes für die Reaktion begriffen haben. Es kann aber auch einfach Armut und Hunger gewesen sein, die ihn zur Migration von der Stadt aufs Land veranlassten. Denn in Zeiten der ökonomischen Not gibt es auf dem .Land eben manchmal noch bessere Ernährungsmöglichkeiten als in der Stadt. Auf jeden Fall lohnt eine kritische Auseinandersetzung auch mit Seidmans individualistischen Konzept, weil dass höchst modern erscheint. Findet es sich in großen Teilen der Occupy-Bewegung wieder, wo jeder Teilnehmende auch nur für sich sprechen soll, und auch selbstgewählt Kollektive verdächtig sind.. Auch dort wurden aktive Gewerkschafter_innen schon mal aufgefordert, ihre Gewerkschaftsfahnen einzurollen. Das betraf in Frankfurt/Main linke IG-Metall- und ver.di-Aktivist_innnen. Aber sicher wären auch Kolleg_innen der FAU oder einer anderen Gewerkschaft davon nicht verschont geblieben. Daher hat neben der interessanten Darbietung historischer Dokumente Seidmans Buch auch noch einen weiteren Vorzug. Es kann helfen, Konzepte von selbstbestimmter Kollektivität zu verteidigen und einen reinen Individualismus zurückzuweisen. Denn dahinter verbirgt sich allzu oft das Interesse nach jederzeit flexiblen, beliebig ausbeutbaren Arbeitskräften.

 

Michael Seidman
Gegen die Arbeit
Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38


Verlag Graswurzelrevolution
Heidelberg 2011
480 S., 24,80 Euro