Zehn Kandidatinnen und Kandidaten können zur französischen
Präsidentschaftswahl antreten: fünf auf der Linken im weiteren
Sinne, einer in der rechten Mitte, vier auf der politischen
Rechten. Der erste Wahlgang um die französische
Präsidentschaft findet am 22. April 2012 statt, und die beiden
bestplatzierten Bewerber – in diesem Jahr werden
voraussichtlich beide männlich sein – ziehen am 06. Mai dieses
Jahres in die Stichwahl ein. Am 10. und 17. Juni 12 folgen
dann die Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung.
Wer
antreten durfte, darüber entschied die Frage, welche
BewerberInnen mindestens 500 Unterstützungsunterschriften von
Mandatsträgern der Republik erhielten. Zu den
Unterzeichnungsberechtigten zählen BürgermeisterInnen und
Angehörige von Regionalparlamenten, nationalem und Europäischem
Parlament. Aufgrund des auf den meisten Ebenen geltenden
Mehrheitsrechts gelingt es den VertreterInnen kleinerer Parteien
oft nicht, die Hürde zu nehmen. Aus Gründen „der Demokratie und
des Pluralismus“ unterzeichnen vor allem Bürgermeister kleinerer
Kommunen letztendlich immer wieder für Kandidaten, deren
Programm sie nicht unterstützen.
Ein
besonderes Symbol kam dabei der rechtsextremen Kandidatin Marine
Le Pen zu gute. Ihr 500. Unterzeichner war ausgerechnet ein
Abgeordneter der Auslandsfranzosen in – Israel, der im
französischen Parlament sitzt. Es handelt sich um den rechten
französisch-israelischen Politiker Sylvain Semhoun. Um einen
Parlamentarier der Regierungspartei UMP, welcher dem Vernehmen
nach über die „zu araberfreundliche Politik von Nicolas
Sarkozy“ enttäuscht sein soll (obwohl Sarkozy etwa
anlässlich des Libanonkriegs im Juli/August 2006 als beinharter
Unterstützer des Kriegskurses der israelischen Rechtsregierung
auffiel), nachdem er Nicolas Sarkozys politischen Aufstieg
ursprünglich unterstützt hatte. Innerhalb der extremen Rechten
nutzten die offen antisemitischen „Dissidenten“ gegen den
„Modernisierungs“kurs Marine Le Pens jedoch die Episode, um
einmal mehr der aktuellen Parteiführung des FN ideologischen
Ausverkauf und Anpassung ans System zu unterstellen,
insbesondere im Blog der altfaschistischen Wochenzeitung
Rivarol.
Auf
der Linken – im weitesten Sinne - finden sich insgesamt fünf
KandidatInnen: der Sozialdemokrat François Hollande; die
Kandidatin eines Bündnisses aus Grünen und Linksliberalen, die
norwegischstämmige Französin Eva Joly; der gemeinsame Bewerber
von französischer KP und LinkssozialistInnen, Jean-Luc
Mélenchon; und zwei Bewerber aus dem trotzkistischen oder
historisch vom Trotzkismus geprägten Spektrum der radikalen
Linken: Philippe Poutou (NPA, „Neue Antikapitalistische Partei“)
und Nathalie Arthaud (LO, Lutte Ouvrière,
„Arbeiterkampf“).
Ein
sechster Bewerber steht in der rechten Mitte: der zur Zeit in
der Opposition befindliche Mitte-Rechts-Politiker François
Bayrou von der christdemokratisch-liberalen Kleinpartei MoDeM (Mouvement
démocrate).
Die übrigen vier
Kandidaten stehen, mit Abstufungen, auf der politischen Rechten.
Es handelt sich um Amtsinhaber Nicolas Sarkozy vom
konservativ-wirtschaftsliberalen Bürgerblock rund um die
Regierungspartei UMP; die Kandidatin des rechtsextremen Front
National, Marine Le Pen-; den rechtsbürgerlichen EU-Kritiker
Nicolas Dupont-Aignan; und den Sektenkandidaten Jacques
Cheminade. Letzterer, der bereits zur Präsidentschaftswahl 1995
antreten konnte (und damals 0,28 % der Stimmen erhielt), ist der
französische Repräsentant des US-amerikanischen Publizisten,
angeblichen oder tatsächlichen Milliardärs und
Verschwörungstheoretikers Lyndon LaRouche.
Der
„soziale Gaullist“ und EU-Skeptiker Nicolas Dupont-Aignan
seinerseits setzt zwar zum Teil auf nationalistische Rhetorik
gegen die EU, ist jedoch anders als die rechtsextremen
Unions-Gegner im Prinzip ein bürgerlicher Demokrat und
kritisierte im Juli/August 2010 die damalige heftige
rassistische Kampagne der Sarkozy-Regierung. Allerdings
antwortete er der Zeitschrift Figaro-Magazine – in
ihrer Ausgabe vom 10. März d.J. - auf die Frage,
wen er als Premierminister nehmen würde, falls er zum
Präsidenten gewählt wurde: „Marine Le Pen“. Zwar
hatte er laut eigenen Angaben noch die Namen „Arnaud
Montebourg“ (sozialdemokratischer
Globalisierungskritiker) und „Jean-Pierre Chevènement“
(Linksnationalist, EU-Skeptiker und Innenminister zwischen 1997
und 2000) hinzugefügt, diese wurden jedoch durch die Zeitschrift
nicht mit veröffentlicht.
François Hollande:
Langweiler & Sozialdemokrat
Unter
der beiden gewichtigsten BewerberInnen hatte François Hollande
seine Kandidatur bereits am 16. Oktober 2011 erklärt, nachdem er
an jenem Tag die élection primaire – die „Vorwahl“
unter den AnhängerInnen der Sozialdemokratie und der etablierten
Linken, nach dem Vorbild der primary elections in den USA – mit
rund drei Millionen TeilnehmerInnen gewonnen hatte.
Seitdem bröckelte seine Unterstützung jedoch im Laufe der Monate
zunehmend ab: Von anfänglich rund 35 Prozent voraussichtlichen
Stimmen, die ihm in ersten Vorwahlumfragen prognostiziert
wurden, sank er innerhalb von fünf Monaten allmählich bis auf
rund 27 Prozent ab. Hauptgrund dafür ist sein zum Teil
inhaltsleerer Wahlkampf. Hollande setzte vor allem auf die,
durchaus reale, starke persönliche Ablehnung Nicolas Sarkozys
und seiner arroganten, in den Anfangsjahren durch neureiches
Geprotze – im Französischen hat sich dafür seit 2007 der
Ausdruck bling-bling eingebürgert – geprägten
Amtsführung. Doch was die konkreten eigenen Vorschläge betrifft,
findet man bei ihm vor allem einige technische Reformen (etwa
eine Steuerreform, die natürlich „mehr Steuergerechtigkeit für
die Einkommensschwachen“ verspricht, aber eher technokratisch
daherkommt). Aber keinerlei Ansätze zu strukturellen
Veränderungen, wie sie noch der letzte „sozialistische“
Präsident – François Mitterrand, Amtsinhaber von 1981 bis 1995
und einziges „linkes“ Staatsoberhaupt seit Bestehen der Fünften
Republik – programmatisch vor seiner Wahl versprochen hatte.
Lange
Monate hindurch unterbreitete Hollande seinem Publikum überhaupt
keine detaillierten Vorschläge, sondern beschwor in seinen Reden
und Ansprachen eher „Werte“ und „Visionen für Frankreich“. Am
22. Januar 12 präsentierte der Kandidat dann in der Pariser
Vorstadt Le Bourget zum ersten und einzigen Mal eine Reihe von
Programmpunkten, insgesamt 60 Vorschläge. Bis auf die
Einrichtung von jährlich 180.000 durch die öffentliche Hand
geförderten Arbeitsplätzen für Jugendliche (unter der letzten
sozialdemokratischen Regierung Lionel Jospins in den Jahren 1997
bis 2002 waren es aber 350.000 pro Jahr gewesen, u.a. im
sozialen und Umweltbereich) sieht das 6O Punkte-Programm wenig
Aufsehen Erregendes vor. Seitdem hat Hollande inhaltlich wenig
Neues gebracht.
Rechter Hardliner
Nicolas Sarkozy
Nicolas Sarkozy, als sein stärkster Widersacher bei dieser Wahl,
erklärte seine Bewerbung am 15. Februar 12 anlässlich eines
TV-Auftritts. Zuvor hatte er am Wochenende des 11./12. Februar
d.J. ein langes Interview im konservativ-reaktionären
Wochenmagazin Le Figaro magazine erscheinen
lassen, das die Kandidaturerklärung vorweg nahm. Es erschien
unter dem Titel „Meine Werte für Frankreich“ und
war von einem Foto begleitet, das Sarkozy beim Gebet in einer
Kapelle vor einer Statue Jeanne d’Arcs zeigt. Diese
„Nationalheilige“, die ab dem 19. Jahrhundert durch die
nationalistische Rechte verehrt wurde und um die in den letzten
Jahren vor allem der Front National einen Kult betrieb, soll im
15. Jahrhundert im Hundertjährigen Krieg zur „Befreiung
Frankreichs von den Engländern“ beigetragen haben. Schon am 06.
Januar dieses Jahres hatte Sarkozy in ihrem Geburtsort Domrémy
in Lothringen den sechshunderten Geburtstag der späteren
„Jungfrau von Orléans“ mit einer amtlichen Zeremonie begangen.
Dies war ein Ausdruck seines offenkundigen Bemühens, der
extremen Rechten auf ihrem eigenen ideologischen Terrain
Konkurrenz zu bereiten. Am folgenden Tag, dem 07. Januar 12,
konterte der FN mit einer kleinen Kundgebung in Paris, wo sein
früherer Chef Jean-Marie Le Pen wetterte, Sarkozy stehe
„für das Gegenteil jener Werte, die Jeanne d’Arc verkörperte“.
In
dem oben erwähnten Interview machte Sarkozy vor allem zwei
Vorschläge: Er wollte eine Volksabstimmung zu den Rechten von
Arbeitslosen abhalten, konkret zu der Frage von Sanktionen,
falls sie Job„angebote“ oder Fortbildungen ausschlagen – und
eine weitere über die Behandlung „illegaler Ausländer“
in Frankreich. Diese Benutzung des politisches Instruments
Referendum – die grundsätzliche Möglichkeit zur Abhaltung
solcher Abstimmungen ist in Frankreich in der Verfassung
verankert – zu dem Zweck, demographische Mehrheiten über
existenzielle Rechte von Minderheiten abstimmen zu lassen, war
neu und unerhört. Sofort erklärte der Vizepräsident des Front
National, Louis Aliot, die rechtsextreme Partei mache ihr
Copyright geltend, da Marine Le Pen seit Jahren eine „Republik
der Referenden“ fordere.
Polemik um Halal-
und Koscher-Speisen
Die
darauffolgenden Wochen waren zunächst durch die Polemik um
halal-Speisen, also um Fleisch von nach moslemischen
Glaubensvorschriften geschlachteten Tieren, geprägt. Marine Le
Pen hatte beim „Präsidentschaftskonvent“ ihrer Partei in Lille
vom 18./19. Februar ein gehöriges Echo ausgelöst, indem sie
behauptete, im Großraum Paris seien „100 Prozent allen
gehandelten Fleisches halal“. Viele Franzosen
müssten also nach moslemischen Vorschriften zubereitetes Fleisch
essen, ohne es zu ahnen. Die Behauptung stimmte zwar nicht:
Tatsächlich trifft es zu, dass die vier Schlachthöfe im Raum
Paris aus Kostengründen gleich alle Tiere nach denselben
Methoden – für die sie die Zulassung als halal
erhalten können – schlachten. Allerdings decken sie nur 2,5
Prozent des Bedarfs der Hauptstadtregion. In Wirklichkeit liegt
der Anteil von Halal-Speisen bei rund zehn Prozent
des Fleischhandels.
Nicolas Sarkozy, der kurz darauf den Pariser Schlachthof von
Rungis besuchte – um „jenes Frankreich, das früh aufsteht
und hart arbeitet, zu grüßen“ – tat die Polemik zu dem
Zeitpunkt als unsinnig ab. Anfang März 12 wurde sie jedoch
erneut angeheizt, und dieses Mal durch konservative
Regierungspolitiker. Premierminister François Fillon dehnte die
Polemik gleich vom halal für Moslems auch noch auf
die für Juden geltenden Koscher-Vorschriften, die
das „Schächten“ von Tieren vorsehen, aus. Und fragte sich
öffentlich, ob die „überkommenen“ Vorschriften von
Moslems und Juden „in unserer Gesellschaft noch zeitgemäß“
seien. Innenminister Claude Guéant wiederum zog eine
Verbindungslinie zur Frage des Ausländerwahlrechts, das durch
die Sozialdemokratie auf kommunaler Ebene befürwortet, durch das
Regierungslager jedoch scharf bekämpft wird. Würden Immigranten
wählen dürfen, dann würden die von ihnen mitbestimmten
Rathausregierungen zukünftig halal-Speisen
„in allen Kantinen erzwingen“, tönte Guéant.
Nachdem jedoch etablierte jüdische wie moslemische Verbände sich
erbittert zu beschweren begannen, wurde die Polemik in der
zweiten Märzwoche abgebrochen. Um dieselbe Zeit begann die
Mordserie des jungen Djihadisten Mohamed Merah. Er erschoss am
11., 15. und 19. März 12 in Toulouse und Montauban nacheinander
(überwiegend moslemische) Soldaten, jüdische Kinder und einen
jüdischen Religionslehrer. Zunächst wurde vielfach auch an einen
neofaschistischen Täter gedacht, bis Merah identifiziert und
durch die Polizei nach einer 33stündigen Belagerung seiner
Wohnung im Feuergefecht erschossen wurde. Daraufhin überwog in
breiten Kreisen eher ein Klima des Wunsch nach „nationaler
Einheit gegen die Extremisten“. Versuche vor allem von
Marine Le Pen, es für die Hetze gegen Einwanderer zu nutzen
(„Wie viele Mohamed Merats sitzen in den Booten und den
Flugzeugen, die täglich voll von Migranten in Frankreich
ankommen?“) stießen sich an diesen Konsens.
Kampf um den
dritten Platz: Linker Sozialdemokrat Mélenchon & Neofaschistin
Marine Le Pen
Durch
den scharfen Rechtsruck im Diskurs des Regierungslagers in den
Vorwochen hat Marine Le Pen einige potenzielle Wähler an den
konservativ-wirtschaftsliberalen Block verloren. Unterdessen
verlor sie ab März auch an Einfluss zugunsten eines anderen
politischen Lagers: Der Linkskandidat Mélenchon erwies sich in
den letzten Wochen als erfolgreicher Newcomer in der
französischen Politik. Er besetzt ungefähr den politischen
Standort, den Oskar Lafontaine in Deutschland besetzt.
Allerdings kombiniert er einen Diskurs des Anprangerns sozialer
Zustände und der etablierten Politik nicht mit rassistischen
Ausfällen gegen „Fremdarbeiter“ (wie Lafontaine in Chemnitz
2005) oder Folterbefürwortung (wie im Falle der Frankfurter
Kindesentführung von 2003), sondern eher mit einem klaren
antirassistischen Profil. Vermixt mit sozialdemokratischem
Etatismus, einem Schuss Verteidigung der kubanischen und
chinesischen Regimes, einem positiven Bezug auf revolutionäre
Symbole vor allem aus den Jahren nach 1789 ff. und einigem
verbalen Herumgepolter. Mitunter ging Mélenchon gerne auf
bürgerliche Journalisten los und ging sie (verbal, nicht
körperlich) scharf wegen ihrer doofen Fragen an… Dies trug dazu
bei, ihm den Ruf eines „Charakterkerls“ zu verleihen.
Mélenchon konfrontierte Marine Le Pen wochenlang sehr scharf mit
ätzender Kritik an ihren Vorschlägen. Bei einer gemeinsamen
TV-Debatte der beiden am 23. Februar 12 weigerte Le Pen sich, zu
diskutieren, und drehte ihrem Kontrahenten demonstrativ vor dem
Publikum den Rücken zu. Durch diese Episode konnte Mélenchon
jedoch kräftig punkten, über 90 Prozent der BesucherInnen auf
der Webseite der Boulevardzeitung Le Parisien
sahen ihn als Sieger der Debatte. Gleichzeitig wurde die
Parteibasis der alternden, und bislang scheinbar eher im
Absterben befindlichen, französischen KP durch das Wahlbündnis
mit dem Linkssozialisten Mélenchon zu neuem Leben erweckt: Zum
ersten Mal seit urlanger Zeit gehen derzeit die Hälfte alter
Neubeitritte zu der Partei auf unter 30jährige Menschen zurück.
Auch Mélenchons eigene „Linkspartei“ (Parti de gauche)
erfuhr in den letzten Monaten Zuwachs.
Dagegen sind die beiden
Parteien der revolutionären Linken, LO und NPA, seit Wochen
marginalisiert und schaffen es nicht, auch nur einen einzigen
Stich in der Debatte zu machen. LO setzt auf eine gewohnt
sektiererische Linie, während die NPA tief gespalten ist: Eine
rund 40prozentige Minderheit in ihren Reihen setzt eher auf die
Sammelbewegung hinter Mélenchon als auf die Eigenkandidatur.
Mélenchon und Le Pen standen Anfang April dieses Jahres beide
bei 15 Prozent der Stimmabsichten. Vielfach wird mit Spannung
erwartet, wer von ihnen den dritten Platz erobern kann.
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