Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

04/12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Vorbemerkung red. trend:  Der Beitrag wurde für die innerparteiliche Debatte der DKP geschrieben. Wir dokumentieren ihn, weil durch ihn deutlich wird, dass auch jenseits der hier diskutierten Fragen zu Organisation und Programm die Frage der Organisierung  als zentral für die Entfaltung einer relevanten antikapitalistischen Politik angesehen wird. Wir erhielten den Text von der Gruppe Sozialistische Kooperation (SoKo), die für die Onlineveröffentlichung sorgte.

Ein Versuch, den kommunistischen Parteityp zu „entsorgen“

Von Robert Steigerwald / 16.04.2012

Vorbemerkung: Alle Hervorhebungen im Text stammen von mir, R. St.

Der Genosse Leo Mayer hat einen Aufsatz für die KP des Irak geschrieben und diesen der Redaktion der „Marxistischen Blätter“ und der „UZ“, ihrem Chefredakteur geschickt. Der Aufsatz enthält die Substanz der Konzeption Leo Mayers (und jener Genossen, die ihm dabei folgen). Ausführungen Leos zu Gramsci sind nur der Vordergrund, Hintergrund ist die Diskussion des Partei-Verständnisses durch Leo Mayer. Es handelt sich m. E. um die Absage an das Parteiverständnis als eines kommunistischen.

Da mitgeteilt wurde, dass der Aufsatz des Gen. Leo Mayer durch den DKP-Bezirk Süd-Bayern als Broschüre veröffentlich wird, überschreitet die Debatte zum Aufsatz die „Grenzen“ des Persönlichen und wird zum Partei-Thema. Darum mache ich auch meine Kritik an diesem Aufsatz öffentlich bekannt.

Die entscheidende Passage in Leos Aufsatz lautet:

Im Rahmen eines solchen Paradigmas lässt sich auch nicht mehr das traditionelle, sozialdemokratische, von Lenin im Hinblick auf die rückständigen Verhältnisse Russlands sogar radikalisierte Bild einer kommunistischen Partei aufrechterhalten, deren Funktion es sei, durch Agitation, Propaganda und Organisation einer unaufgeklärten Masse das sozialistische Bewusstsein „von außen“ 1 (bei)zubringen. Folgt man dagegen Gramsci, dann ist es die Funktion der Kommunistischen Partei und der ihr verbundenen Intellektuellen, zur Organisierung und Systematisierung eines in den Massen bereits vorhandenen Wissens beizutragen, das jedoch „eine auseinanderfallende, inkohärente, inkonsequente Weltauffassung“ darstelle, „der Beschaffenheit der Volksmengen entsprechend, deren Philosophie“ sie sei. Eine homogene, zum gemeinschaftlich solidarischen Handeln befähigende Weltauffassung einer sozialen Gruppe ist in solcher Sicht nur durch gleichzeitiges Anknüpfen an den rationalen Elementen der Philosophie des Alltagsverstandes wie gleichzeitig gegen ihn zu gewinnen.2

Gramsci gehe davon aus, dass alle Menschen das Bestreben haben, in irgendeiner Weise die spontane, bizzare Zusammensetzung ihres Bewusstseins, ihrer Haltungen und Gewohnheiten nach einem Lebensentwurf zu organisieren; sich in diesem Sinne einen Zusammenhang in den Anschauungen erarbeiten wollen. Aufgabe der marxistischen Partei ist, dieses Streben zu unterstützen und mit der Systematik der marxistischen Weltanschauung zu befördern, damit ein Bewusstsein über die gesellschaftliche Stellung und Aufgabe erarbeitet wird. Dazu soll die politische Praxiserfahrung lernend aufgegriffen werden, um ein Bewusstsein von der Fähigkeit zu erlangen, sich selbst und die Welt verändern zu können. „Unser Wahlspruch“ (geschrieben im März 1843) „muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt“, schreibt Marx.3

Das ist etwas anderes als die Methoden der Belehrung, der Aufklärung und der Agitation, die darauf zielen ein „falsches Bewusstsein“ durch ein vermeintlich „richtiges Bewusstsein“ zu ersetzen, und ist in erster Linie eine kulturelle und Aufgabe der Volksbildung und politischen Erziehung und erst in zweiter eine organisatorische. Sie muss von „organischen Intellektuellen“ der Arbeiterklasse (die Kommunistische Partei bei Gramsci; heute eher ein Netzwerk von Parteien und Bewegungen in dem die Kommunistische Partei eine wichtige Rolle spielen muss) und nicht von „Berufsrevolutionären“ bewältigt werden. Gramsci geht es darum, ein wechselseitiges Lernen zu entwickeln und einen Prozess der gesellschaftlichen Selbstermächtigung und der

politischen Handlungsfähigkeit zu befördern. Dabei gilt nach wie vor, was Lenin in seiner Schrift „Was tun?“4 entwickelte, dass die Arbeiterklasse nicht spontan durch ihr politisches Handeln zu einem sozialistischen Bewusstsein gelangen kann, sondern durch „wissenschaftliche Einsicht“, oder wie Engels schreibt, in dem sich die Arbeiter zur „Marxschen Theorie der Entwicklung aus ihrem eigenen Klassengefühl heraus emporarbeiten“5. Klassenbewusstsein wird nicht in die Massen hineingetragen, sondern erfordert die selbstständige geistige Arbeit ganz konkreter Menschen.

Vor dem Hintergrund, dass Erfahrungen der DKP heute verschüttet gehen oder ignoriert werden heißt es in den Politischen Thesen dazu: „Die Erfahrungen zeigen“ (was sie wirklich zeigen, dazu unten typische Fallbeispiele) „dass Klassenbewusstsein nicht durch eine Praxis entsteht, die mit dem vereinfachten Bild vom „Hineintragen des Klassenbewusstseins“ umschrieben werden kann. Dahinter steht eine viel komplexere und kompliziertere Aufgabe marxistischer Theorie und der Partei. Diese besteht nicht in erster Linie in einer platten „ideologischen Aufklärung“, deren Inhalte von vorneherein feststehend sind und die man also annehmen kann oder auch nicht, sondern in der Kommunikation und Systematisierung von unterschiedlichen Erfahrungen und Wissen. ... Es gilt deshalb, Lernprozesse zu organisieren“ (schöne Umschreibung des „Hineintragens!) „dafür zu wirken, dass aus dem bereits vorhanden Bewusstsein und den Erfahrungen eine systematische, zusammenhängende Sicht auf die Gesellschaft und der eigenen gesellschaftlichen Rolle entsteht ... Wir wirken deshalb dafür, dass Politik als Lernprozess organisiert“ (wer organisiert, wie macht er das?) „wird, der auf die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit und Organisiertheit zielt. Der Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten und um Reformen soll nicht nur zur Verbesserung der Lebenssituation großer Teile der Bevölkerung führen und zur Erweiterung demokratischer Freiheiten beitragen, sondern ebenso zur Veränderung der Lebenseinstellungen, der Erwartungen und des Handelns der Menschen. ... Insofern ist radikale Demokratie nicht nur ein gesellschaftspolitisches Ziel, sondern auch Weg und wichtigste Methode, sich dem Ziel der Emanzipation des Menschen - ».. alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« - zu nähern.6

Leo ziert nicht, was der in Freiheit lebende und wirkende Gramsci zum Parteithema (1924) schrieb, sondern was er in der Haftnotwendig in Sklavensprache zu Papier brachte. Dieser grundlegende Aufsatz Gramcis ist bis in die Formulierungen hinein leninistischer Stil.

Leo zitiert auch einem (!) Aufsatz, den Marx 1843 geschrieben hat und lässt alles weg, was Marx vor diesem und nach diesem Absatz im gleichen Aufsatz oder in anderen zur gleichen Zeit geschriebenen Beiträgen festgehalten hat.

Also es gibt nach Leo ein traditionelles sozialdemokratisches, von Lenin übernommenes Verständnis der Partei, „deren Funktion es sei…einer unaufgeklärten Masse des sozialistische Bewusstsein ´von außen`(bei)zubringen. Folgt man dagegen Gramsci, dann ist es die Funktion der Partei, einem in den Massen bereits vorhandenen Wissen, diesem zur Organisierungen und Systematisierung zu verhelfen, aus auseinanderfallendem, inkohärentem, inkonsequentem Material eine Weltanschauung zu machen. Eine homogene, zum gemeinschaftlich solidarischen Handeln zu befähigende Weltauffassung einer sozialen Gruppe ist nur durch gleichzeitiges Anknüpfen an den rationalen Elementen der Philosophie des Alltagsverstandes“ (auch darüber, wie Gramsci das verstand, wäre zu diskutieren!) „wie gleichzeitig gegen ihn zu gewinnen“. Alle Menschen seien bestrebt, sich eine zusammenhängende Anschauung für die Gewohnheiten ihres Lebens zu erarbeiten. Dieses Streben sei durch die Partei zu unterstützen und mit der Systematik der marxistischen Weltanschauung zu befördern. Dadurch erlangen die Menschen ein Bewusstsein über ihre Stellung und Aufgabe. Dazu soll die politische Praxiserfahrung lernend beitragen, dazu führen, die Fähigkeit zu erlangen sich selbst und die Welt verändern zu können. Das sei etwas anderes als die Methode der Belehrung, der Aufklärung und der Agitation, die ein falsches durch ein „vermeintlich ´richtiges` Bewusstsein“ (!) ersetzen solle.

Es gibt also keine theoretische Klärung der Grundprobleme unseres Wirkens, kein zutreffendes Wissen, das uns im Handeln leitet. Keine Maßstäbe! Hier wird in Wahrheit der spontanen Bewusstseinsentwicklung das Loblied gesungen!

Das alles sei in erster Linie eine kulturelle und Aufgabe (für die es aber keine Orientierungslinien gibt) der Volksbildung und politischen Erziehung. Erst an zweiter Stelle gehe es um die organisatorische Aufgabe. Diese Aufgabe sei zu leisten nicht durch die Partei, sondern durch ein „Netzwerk von Parteien und Bewegungen, in dem die Partei eine wichtige Rolle spielen muss, aber es gehe nicht um die Aufgabe von Berufsrevolutionären.

Wären wir nicht froh, wir hätten die Möglichkeit, Genossen damit zu betrauen, beruflich Parteiarbeit zu leisten statt uns weitgehend mit „Rentner-Revolutionären“ begnügen zu müssen? Was Leo hier schreibt, ist die Absage an einen Parteiapparat! Und nun ein „Zugeständnis“ an Lenin, das dem zuvor Gesagten doch gar nicht entspricht: „Dabei gilt nach wie vor, was Lenin in seiner Schrift ´Was tun?` entwickelte, dass die Arbeiterklasse nicht spontan durch ihr politisches Handeln zu einem sozialistischen Bewusstsein gelangen kann, sondern durch ´wissenschaftliche Einsicht?“ Aber dann völlig klar: „Klassenbewusstsein wird nicht in die Massen hineingetragen, sondern erfordert die selbständige geistige Arbeit ganz konkreter Menschen.“ Anschließend wird ausführlich aus den Thesen zitiert – und neben der Entsorgung Lenins ist dies der zweite Hauptzweck des Artikels: Diese „Thesen“ werden propagiert und zwar als ein Partei-Dokument, das sie nicht sind – doch das kann im Irak ja niemand wissen. Und dann wird „radikale Demokratie“ nicht nur zum Weg, sondern auch zum Ziel des Emanzipationskampfes!

Hier einige Hinweise darauf, wie Leo Marx zitiert: Ganz deutlich wird dies, wenn man sich die wenigen Zeilen von Marx anschaut, die Leo zitiert und sie in dem Zusammenhang betrachtet, in dem Marx sie schrieb. Sie stammen aus dem März 1843. Sie befinden sich im ersten der 42-bändigen Ausgabe des Berliner Dietz-Verlags Ich zitiere aus diesem Text, aber ich zitiere zusammenhängend, um zu zeigen, dass sie Leos Darlegungen direkt widersprechen.

Also imMärz 1843, in den Briefen der „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ (alle Seitenangaben aus dem erwähnten Band 1): „Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken.“ (338) Nichts von wegen der spontanen Entwicklung des Bewusstseins vertrauen. „Von unserer Seite muss die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positive ausgebildet werden.“ (343) ….. „was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden.“(344) Und jetzt kommt die Passage, deren letzten Absatz Leo zitiert, was davor steht, fällt bei ihm unter den Tisch “…es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniet nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von Deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ (kursiv von mir, R. St.,345)

Da ist doch auf Schritt und Tritt das aktive Wirken, das „Hineintragen“ formuliert. Das ist es, was Marx dann „Die Reform des Bewusstseins“ nennt: Dieses: der Welt ihr Bewusstsein innewerden zu lassen (denn es ist ihr noch nicht inne!). Dies alles sagt doch das Gegenteil dessen aus, was Leo vorbringt.

Ich könnte weiter gehen und zum „Hineintragen“ aus der berühmten Marx´schen Einleitung „Zur Kritik der Hegel´schen Rechtsphilosophie“ zitieren: Da ist geradezu leidenschaftlich formuliert: Vereinigung des Kopfes (der Theorie) mit dem Herzen (der Arbeiterklasse), eine Aufgabe, die dann mit dem „Manifest“ gelöst wurde.

Marx ist also kein Zeuge für, sondern gegen Leo Mayer!

Natürlich mag Leo Mayer eine Position einnehmen, wie immer er will, aber er hat nicht das Recht, dies als stellvertretender Parteivorsitzender zu tun. Diesen Unterschied hätte er zumindest andeuten müssen, um nicht – bei einer Bruderpartei, die das gar nicht überprüfe kann - den Eindruck hervorzurufen, diese Position, die seine eigene ist, sei die auch der Partei. Diese Täuschung wird auch dadurch erreicht, dass im Aufsatz gegen Ende ausführlich mit den bekannten „Thesen“ gearbeitet und richtig geschrieben wird, sie seien durch Beschluss des Sekretariats zustande gekommen. Es wird aber nicht mitgeteilt, dass der nachfolgende Parteitag diese „Thesen“ nicht akzeptierte!

Zu den beiden Zentralpunkten aus Leos Aufsatz.

  1. Zum wiederholten Male sei es gesagt: Was Leo zum Thema Hineintragen des Klassenbewusstseins von außen in die Partei als Position Lenins ausgibt und dann das so Dargestellte kritisiert, zeigt:

a)dass er entweder „Was tun?“ gar nicht im Original gelesen oder b) zwar gelesen aber nicht verstanden oder c) zwar gelesen und verstanden hat aber dies dann fasch darlegt und es auf dieser Grundlage kritisiert.

Was heißt Hineintragen des Klassenbewusstseins von außen in die Partei bei Lenin wirklich und was heißt es nicht?

Das Thema wird durch Lenin an zwei Stellen des Werks behandelt. Beim ersten Mal geht es um den historischen Vorgang, in welchem die marxistische Theorie (die theoretische Fassung des Klassenbewusstseins) durch Marx und Engels geschaffen wurde und das zweite Mal, indem Lenin darlegt, was theoretisch unter „von außen“ bedeutet. Das hat er dann durch ein ganz konkretes Beispiel erläutert, so dass es jeder verstehen kann, wenn er das nur verstehen will.

Bezogen auf den ersten „Fall“.

Wie hätten denn die Arbeiterinn und Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erarbeiten können, was Marx und Engels zur Herausarbeitung der Grundelemente des proletarischen Klassenbewusstseins taten? Man muss ja nur deren frühe Arbeiten studieren. Da waren nicht nur gründliche Kenntnisse der klassischen deutschen Philosophie, der englischen Politischen Ökonomie, der Arbeiten französischer Historiker, die den Klassencharakter großer historischer Prozesse zeigten oder auch Kenntnisse des utopischen Sozialismus nötig, sondern auch entsprechende fremdsprachliche Kenntnisse – nichts davon besaßen die Angehörigen der Arbeiterklasse.

Oder man müsste sich mit der wirklichen Arbeit des von Marx geschaffenen Brüsseler Korrespondenzbüros befassen. Das war doch zwar das getarnte, aber in Wahrheit eben das Organisationsbüro der entstehenden Partei. Erst durch dessen Wirkung entstanden jene Bedingungen, die kommunistische Arbeiter und Handwerker bewogen, sich an Marx und Engels mit der Aufforderung zu wenden, das Programm dieser neu entstehenden Partei zu schreiben. Das geschah „von außen“ her und war eines – es gibt deren aber erheblich mehr – solcher Beispiele. Ich erinnere an den Vortrag Marxens „Lohnarbeit und Kapital“.

Wer die frühe Geschichte des Marxismus kennt, kann diese Art des „von außen“ unmöglich in Zweifel ziehen. Zumal Marx und Engels im „Manifest“ doch selbst auf Intellektuelle aus den herrschenden Klassen verweisen, die in revolutionären Verhältnissen auf die Seite der Revolutionäre übergehen (von „außen“ ins revolutionäre Lager übergehen) – da schrieben sie doch ihre eigene Visitenkarte!

Zum zweiten „Fall“ des „von außen“

Lenin erörtert, dass es drei Arten des ideologischen Klassenkampfes gibt, den sozial-ökonomischen, den politischen und den theoretischen. Er verdeutlicht: Bei aller Wichtigkeit des sozial-ökonomischen, des gewerkschaftlichen Kampfes, dass dieser allein nicht ausreicht, in der Klasse das Klassen-Wissen entstehen zu lassen: Dass der letzte Sinn unseres Kampfes darin besteht:, die (in der ursprüngliche Akkumulation erfolgte) Trennung der menschlichen Produktivkraft von den dinglichen Produktivkräften ist zurück zu nehmen. Diese Wiedervereinigung der beiden Arten von Produktivkräften erfolgt nicht so, dass uns die Kapitalisten die Betriebe auf einem silbernen Tablett überreichen (wogegen wir doch nichts einzuwenden hätten). Sondern sie müssen ihnen abgenommen werden. Das ist dem Wesen nach – in welcher Form auch immer dies geschieht – eine Revolution. Und dieses Wissen ist eben nicht das „in den Massen bereits vorhandene“, über das Leo schreibt.

Lenin macht dies dann am Beispiel von zwei bekannten Arbeiterführern deutlich. Also von Arbeiterführern, die, im Unterschied zum ursprünglichen, historischen Sinn des „von außen in die Klasse Hineintragens“ nicht Personen waren, die sich außerhalb der Arbeiterbewegung befanden, sondern die in ihr wirkten. Einmal am Beispiel des berühmten englischen Gewerkschaftsführer Knight und dann am Beispiel des berühmten zum sozialistischen Arbeiterführer gewordenen (!) Wilhelm Liebknecht. Wie arbeitetet der eine und wie der andere? Lenin wird nicht müde, die kraftvolle Aktivität Knights zu schildern – und ebenso, das weit gefächerte Wirken Liebknechts, der kein Streikführer war, aber auf jede irgendwie mögliche Art und Weise in der Zeitung, in Versammlungen usw. den Arbeiterinnen und Arbeitern klar zu machen, warum die Lebens- und Arbeitsbedingungen, unter denen sie leiden, so sind wie sie sind und dass man sie beseitigen müsse. Im Streik allein wird das nicht gelernt. Wir haben in jüngster Zeit in unserem Land einige Streiks erlebt, wie wir sie schon lange nicht mehr so hatten. Ist dadurch in nennenswertem Umfang sozialistisches Klassenbewusstsein in unserer Arbeiterklasse entstanden? Nur Tagträumer könnten das behaupten – das würdigt den Wert diese Streiks nicht ab, es sind diese unter bestimmten Bedingungen – wie wir sie gegenwärtig aber nicht haben – sogar Ansatzpunkte zum Weitertreiben von im Streik gewonnenen Einsichten (nur: wer ist der „Treiber“, die Gewerkschaft, irgendein „Netz“?). Es ist dieses gewerkschaftliche noch kein sozialistisches Klassenbewusstsein, da muss doch auf politischen und theoretischen Feldern Einsichten Weckendes geschehen. Und diese Felder liegen eben „außerhalb“ des nur-gewerkschaftlichen Kampfes. Dies war mit „außerhalb“ bei Kautsky (!) und Lenin gemeint.

Was aber heißt Hineintragen bei Lenin nicht?! Es heißt nicht, wie der Eindruck des Artikels und der „Thesen“ vermittelt, dies mit versimpelt dargestellten Methoden anzugehen! Dazu wäre eine ganze Menge zu sagen, denn diese Debatten hatten wir doch auch während der sechziger/siebziger Jahre (des vorigen Jahrhunderts). Ich erinnere nur etwa an Oskar Negts Konzeption des exemplarischen Lernens und an solche darüber stattgefundenen Diskussionen (und dazu geschriebenen Bücher). Ich erinnere mich noch dessen, wie Lehrer und Leiter gewerkschaftlicher Zirkel glaubten, die didaktischen Mittel und Methoden, die man im normalen Schul- oder Zirkelunterricht erfolgreich nutze, seien auch für die Entwicklung von Klassenbewusstsein angebracht. Dass es da um grundverschiedene Inhalte geht, die auch ganz eigene Methoden erfordern, wurde nicht bedacht. Die in Leos und der „Thesen“ enthaltenen Darlegungen zur Methode sind versimpelnd, ohne Substanz und vertauschen den Gegenstand: die Methoden mit dem Inhalt, um den es geht.

Dass es Methoden dieses von „außen“ in die Klasse Hineinwirkens versimpelnder Art gab (und gibt) – übrigens „Versimpeln“ nicht nur Marxisten und darum ist diese selbst versimpelnde Verallgemeinerung kein Argument. Aber ich habe Walter Listl in der theoretischen Konferenz der DKP in Hannover 2011 auf den Aufsatz Lenins aus dem Jahre 1905 „Zur Reorganisation der Partei“ aufmerksam gemacht. Dieser Aufsatz entstand im Herauskommen aus der tiefen zaristischen Illegalität ins Legale. Wer den gelesen hat, der kann über die dümmlichen Abkanzelungen der - ich wiederhole, gewiss auch vorhandenen, aber nicht das Wesen ausmachenden Methoden (!) von Agitation usw. - nur den Kopf schütteln.

Und dann haben es die „Berufsrevolutionäre“ Leo angetan. Liebe Genossen, lassen wir uns doch nicht – hier träfe allerdings die Kennzeichnung - versimpeln zu: Wir wären doch froh, hätten wir nicht nur in „größerer“ Zahl „Rentner-Revolutionäre“. Die Argumentation Leos ist die klare Verneinung der Notwendigkeit, in einem gewissen Umfang über berufsmäßig zur Parteiarbeit befähigten und beauftragten Genossinnen und Genossen zu verfügen. Dem Wesen nach ist dies der Verzicht auf eine Partei: Nicht einmal die verrücktesten „Piraten“ kommen ohne organisatorische Korsettstangen aus.

  1. Nun zum zweiten großen Komplex , zum Zustand von Massenbewusstsein und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten.

Wie war das denn mit den „unaufgeklärten Massen“ um 1900 und wie ist das damit heute bestellt? Was war um 1900 und was haben heute die Massen als „Wissen“ gespeichert, bringen sie mit? Was wurde um 1900 durch den Klassengegner, seine Instrumente, etwa die Orthodoxe Kirche Russlands, „als der Herren eigener Geist“ „von außen“ (nämlich von den Interessen der Gutsherren und Kapitalisten gespeist) in die Bauern- und Arbeiter-Massen hineingetragen? Lenins sagte einmal, es sei gut gewesen, dass diese Massen nicht lesen und schreiben konnten, so wären sie ,als zum weitaus größten Teil weder des Lesens noch des Schreibens fähig, nicht einer solchen medialen Vergiftung ausgesetzt, wie dies heute bei uns durch die Macht der Massenmedien und der sog. öffentlich-rechtlichen Lügenfabriken möglich ist. Bei uns kann jeder lesen und schreiben und folglich den ideologisch-politischen Mist „konsumieren“, den die hiesigen Medien verbreiten. Das wissen wir doch alle und auch, dass es darum so schwer ist, unsere eigentlichen Adressaten für unsere Argumente zu gewinnen. Die Dinge liegen also genau umgekehrt wie die Sprüche aus München uns weismachen wollen! Die „Nähe“ zu Klasseneinsichten waren um 1900 unter den fürchterlichen Bedingungen des zaristischen Russlands größer als dies bei uns heute der Fall ist. Man darf fachspezifisches Wissen – das „natürlich“ heute weitaus höher und anders als um 1900 ist – nicht mit Klassenbewusstsein verwechseln. Nehmen wir einen Ingenieur oder einen Facharbeiter bei Opel. Hat ihr Fachwissen etwas mit Klassenbewusstsein zu tun? Beide sind bestimmt gute Auto-Bauer, aber sind sie deswegen auch schon gute Klassenkämpfer (für die Arbeitersache)? Eher gehen sie morgens aus dem Haus und kaufen sich bei der ersten Gelegenheit die „Blödzeitung“, geilen sich in der Frühstückspause am Nackedei des Tages auf und denken eher daran, den „vernaschen“ zu können als über Sozialismus zu diskutieren.

Noch so hoch entwickeltes Fachwissen hat mit Klassenwissen nichts zu tun. Dieses ist ganz anderes Wissen, ist ganz anderer Kenntnisstand und diesen zu erwerben, dabei hat die Partei zu helfen, was gar nichts mit der unterstellten Methode des Nürnberger Trichters zu tun hat. Wer dies nicht beachtet, der hat keinen Schimmer von dem, was Klassenbewusstsein ist, worin seine spezifische Besonderheit besteht und wie durchaus schwer und schwierig es ist, sich solches zu erarbeiten. Es wächst nicht von selbst auf den Bäumen der Alltagserfahrungen, der Alltagsphilosophie und des Alltags–Arbeitens.

Was bei uns derzeit von „außen“ in die Klasse hineingetragen wird, ist das ideologisch-politische Gift des Kapitals. Und das geschieht von früh-morgens bis abends massenhaft und über alle Kanäle, teils mit dem Scheine nach in Riesenschinken geschichtlicher Art, in „historischen“ Filmen (etwa über die Wanderhure oder deren Tochter) und wird „ergänzt“ durch sog. Dokumentationen. Und welches ist dabei das Thema Nr. 1? Der Antikommunismus, die DDR, die Stasi und das hat Massenwirkung! Es ist das zentrale Thema der ideologisch-politischen Massenvergiftung, die Idee und die Realität des Sozialismus auf jede nur mögliche Weise zu beschmutzen, zu bekämpfen, und es wird kein Vorankommen der antiimperialistischen Kräfte geben, wenn es uns nicht gelingt, diesen Lügenfeldzügen entgegen zu treten. Wer nicht „befreit“ wird von solchem Gift über den Sozialismus, der wird nicht mit uns wirken wollen und auch nicht können. Bei aller Kritik an den eigenen Fehlern, Dummheiten und auch Verbrechen – die wir (!) leisten müssen - andere sind, wo nicht nur zur Hetze und Verleumdung befähigt, dann eben nicht zur Vermittlung von Klarheit über die Frage Sozialismus oder Barbarei bereit oder befähigt.

Doch wer kann auf die Bahn des Sozialismus leiten? Wer ist diese Kraft, die dazu allein (!) fähig ist. Denn ein „Netzwerk“, das sich über die Fragen des Kapitalismus und Sozialismus nicht zu völliger Klarheit empor gearbeitet hätte, in dem die einen Hüh und die anderen Hot wollen, wäre nicht diese Kraft. Wollte es aber einheitlich nur Hüh, hätte es die erforderliche Klarheit und Einheit erreicht, dann wäre diese Kraft eben kein „Netzwerk“.

Das heißt aber auch, sich über den Charakter des bei uns möglichen und nötigen Parteityps Gedanken zu machen, gründlich darüber nachzudenken. An der Notwendigkeit einer klassenbewussten Partei des arbeitenden Volkes führt kein Weg vorbei. Einer Partei, die es auf jede nur denkbare Weise versteht, gegen ideologisch-politische Massenvergiftung anzukämpfen. Gerade das ist doch der tiefere Sinn der Gramsci-Orientierung, die „kulturelle“ Hegemonie des Kapitals zu brechen und an deren Stelle die des arbeitenden Volks zu setzen. Ohne die Lösung dieser Aufgabe ist ein Sturm auf die Festungen des Kapitals nicht möglich. Das bedeutet nicht, auf intensivste Arbeit um antiimperialistische Bündnisse zu verzichten, im Gegenteil. Ohne eine solche Bündnispolitik wird es der auf sich allein gestellten Arbeiterklasse nicht gelingen, die Kräfte des Imperialismus zu isolieren, zu schwächen und sie schließlich zu besiegen – ich weiß: Lang, lang ist der Weg dorthin, aber wir müssen ihn gehen. Doch Bündnisse ersetzen nicht die Partei, wer das anders sieht, macht sich Illusionen über die Kräfte und die Härte des imperialistischen Klassengegners.

Es wäre übrigens schön, wenn Leos Klassenbewusstseins-Un-Theorie zuträfe, wir brauchten uns dann nicht um die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu kümmern, es entstünde von selbst, spontan - aber dann brauchte man auch keine kommunistische Partei mehr – und das nun fände ich wiederum nicht schön!

Robert Steigerwald


Anmerkungen

1 W. I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen der Bewegung in: Lenin Werke Bd. 5, Berlin 1973, S. 385.

2 A. Gramsci: Gefängnishefte Bd. 5, Berlin/Hamburg, S. 1039

3 K. Marx: Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, MEW Bd. 1, Berlin 1968, S. 346

4 W. I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen der Bewegung in: Lenin Werke Bd. 5, Berlin 1973

5 F. Engels: Brief an Friedrich Adolph Sorge im Mai 1894, MEW, Bd. 39, Berlin 1968, S. 245: “.. die es fertig gebracht haben, die Marxsche Theorie der Entwicklung auf eine starre Orthodoxie heruntergebracht zu haben, zu der die Arbeiter sich nicht aus ihrem eigenen Klassengefühl heraus emporarbeiten sollen, sondern die sie als Glaubensartikel sofort und ohne Entwicklung herunter zu würgen haben.”

6 Politische Thesen des Sekretariats des Parteivorstandes der DKP, Essen, Januar 2010