Urbaner Klassenkampf
Andrej Holm (Hg.), Reclaim Berlin

Buchtipp von Anne Seeck

04-2014

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Der umfangreiche Sammelband gibt einen sehr guten Überblick über die Wohnsituation und MieterInnenkämpfe in Berlin. Die Texte bieten viel lebendiges Erfahrungswissen (vor allem die Interviews), vereinzelt aber auch schwere Kost (zur aktuellen Wohnungsprivatisierung und dem Bankenskandal Anfang der 2000er Jahre).

Die Gentrifizierungstypen

Einiges Zahlenmaterial, zum Beispiel aus der TOPOS-Studie im Artikel „Gentrifizierung oder Wiederkehr der Wohnungsnot“, mutet angesichts der rasanten Entwicklung veraltet an. So ist die Gentrifizierung im Schillerkiez seit Erscheinen des Buches weiter vorangeschritten, erkennbar insbesondere an den zunehmenden Angeboten für Freizeit und Kultur. Dramatischer zeigt sich die Homogenisierung der östlichen Innenstadt. In Mitte und Prenzlauer Berg wurde die Bewohnerschaft offensichtlich häufig ausgetauscht, vor allem in Folge der durchgeführten Modernisierungen. Der Schillerkiez erlebt aktuell rasante Mietsteigerungen (v.a. bei Neuvermietungen), dieses Gebiet steht noch am Anfang der Gentrifizierung. Der Kollwitzplatz hat dagegen bereits den vollen Gentrifizierungszyklus durchlaufen. Er wird in dem Artikel zum „Typus 1: Gentrifizierte Quartiere“ gerechnet. Zum „Typus 2: Gebiete im Gentrifizierungsprozess“ zählen der Boxhagener Platz und der Reuterplatz. Hier wurde der Anteil der ärmeren Bevölkerungsgruppen deutlich reduziert. In die Gebiete mit überwiegend einkommensärmerer Bevölkerung, dem Typus 3, ziehen vor allem Pioniere einer Gentrifizierung, wie StudentInnen, Kreative mit prekärem Einkommen und Menschen mit alternativen Lebensentwürfen. Der Anteil der Besserverdienenden sei noch gering, heißt es in dem Beitrag. Beispiele seien der Schillerkiez und das Kottbusser Tor. Für die Bewertung wird allerdings immer nur ein Teil der Einkommen herangezogen, denn unerwähnt bleibt, dass die jungen StudentInnen und Kreativen oftmals mit Zuschüssen ihrer Eltern (Einkommen, Vermögen, Erbschaften etc.) aufstocken. Entscheidend ist m.E. die soziale Herkunft und der soziale Status der Eltern, nicht das eigene prekäre Einkommen.

Eine im Prenzlauer Berg in der Mieterberatung aktive Rechtsanwältin berichtet in einem Interview, dass besonders jene MieterInnen in den Häusern kämpfen, die keine Chance haben, eine andere bezahlbare sanierte Wohnung in dem Gebiet zu finden. Viele Menschen allerdings, mit denen sie früher gekämpft hätte, wohnen nicht mehr dort. Einst riefen sie „Wir bleiben alle!“ Jetzt sind fast alle weg.

Anja Gerlich beschreibt in einem Interview, wie sich der „Schokoladen“ (alternative Location in Mitte) unter dem Druck der Räumungsaufforderung als Projekt repolitisierte. Er sei der letzte Ort in der Umgebung, der Alternativen anbiete. Das Zielpublikum sei noch da, aber die Menschen, so Gerlich, „sind 'unsichtbar' geworden und aus der Wahrnehmung verschwunden und zum Teil auch aus dem Straßenbild.“ (S.314)

Kein Bashing

Die Wut über die Verdrängung manifestiert sich häufig in KünstlerInnen- und TouristInnenbashing, was in diesem Buch erfreulicherweise nicht geschieht.

Jutta Blume schreibt in „Prekär, aber selbstbestimmt“, dass von Seiten der Berliner Politik Kreativität als Standortfaktor hervorgehoben wird. KünstlerInnen gelten wiederum als sichere Indikatoren für einen beginnenden Gentrifizierungsprozess. Oftmals gerieten aber die KünstlerInnen selbst unter die Räder der Aufwertung. Jutta Blume betont, dass „zur Repolitisierung der Kulturarbeit (…) auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in Aufwertungsprozessen“ gehöre. Dabei dürften ihre prekären Überlebensstrategien aber nicht aus dem Blick geraten. In den letzten Jahren habe es eine „Repolitisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen von KünstlerInnen“ gegeben. (S.107/ 118)

In einem Artikel zur „Tourismuskontroverse“ beschreibt Johannes Novy, dass sich an einem „Durchschnittstag“ 480.000 Touristen in Berlin tummeln, damit komme auf sieben Einwohner ein Tourist. Der Tourismus gilt heute als eine der wichtigsten Wachstumsbranchen Berlins, die Stadt deshalb als „hip“ und „aufregend“ (rund 40 Prozent der BesucherInnen sind jünger als 30 Jahre). Touristen seien zu einem populären Feindbild geworden, wirklich hilfreich sei das Touristenbashing jedoch nicht. Durch das „Verschwinden authentischer Orte“ wird genau jener Mythos zerstört, der Berlins derzeitige Attraktivität als Tourismusziel (mit)begründet. Der Tourismus spalte die Gemüter, weil die Lebensrealitäten privilegierter Individuen und Gruppen und jener, die nicht viel oder nichts haben, aufeinanderprallten. Es mache aber keinen Sinn, Touristen zum Feindbild zu erklären. „Als Feindbild taugt, wenn man denn eines braucht, allenfalls die gegenwärtige Ausrichtung der (Berliner) Politik“, so Novy. (S.266)

Die Abwehr von Lästlingen durch lohnarbeitszentrierte Befriedung

Berlin gilt als das Armenhaus der Bundesrepublik und hat zugleich die höchste Polizeidichte, so der Politologe Volker Eick. In 170 kommerziellen Wach- und Sicherheitsdiensten arbeiteten weitere 14.000 Beschäftigte. Hinter „Law and Order“ verberge sich eine „lohnarbeitszentrierte Befriedung“. Es gehe dabei um die „Durchsetzung der Bereitschaft zu flexiblerer und billigerer Arbeitsleistung“. Das Sicherheitsgewerbe sei ein „Geschäft mit der Genervtheit des Kleinbürgertums durch Armut und Elend“ und diene der „Abwehr von Lästlingen“. So richteten sich die Auseinandersetzungen um die Trinkermilieus gegen Nicht- Lohnarbeitende.

Stadtentwicklungspolitik und die Verdrängung marginalisierter Gruppen im öffentlichen Raum (Obdachlose und Prostituierte)

Nach Christian Linde wird in der medialen Darstellung Wohnungslosigkeit nicht primär als gesellschaftliches, sondern als individuelles Problem in Szene gesetzt. Diese sei aber das Ergebnis von Eigentumsverhältnissen, politischen Prämissen, Verwaltungshandeln und der inhaltlich- konzeptionellen Ausrichtung des Hilfesystems.

Jenny Künkel beschreibt die „umkämpften Räume des Sexgewerbes“. Linksradikale AktivistInnen sind in diesem Konflikt abwesend. Die Soziologin Christiane Howe hat über den Straßenstrich in Schöneberg geforscht und mit allen Beteiligten über ihre Sicht der Dinge gesprochen, über die Probleme und die Lösungsmöglichkeiten. Die Leute zeigten sich nachdenklich. Die Prostituierten waren verwundert, als sie gefragt wurden, was man positiv verändern könne. „Das bin ich ja im Leben noch nicht gefragt worden (…) Sie machen immer nur die Erfahrung verdrängt werden zu sollen, sind Anfeindungen ausgesetzt und kennen nur, nicht akzeptiert und nicht gewollt zu werden.“ Die Bürger kennzeichne „ein Mix aus modernen Großstadtmythen, Legenden und dem Boulevard-Mist, der sich in die Köpfe gefräst hat.“ In Hamburg gingen die Themen Sexarbeit und „Recht auf Stadt“ zusammen, in Berlin sei eine gemeinsame milieuübergreifende Mobilisierung schwieriger. Dazu sagt Howe: „Ja das eigene Milieu. Oft begrenzt es uns – nicht nur in der Mobilisierungskraft, sondern auch in den Gedanken, die man sich macht. Schön wäre es, wenn möglichst oft, möglichst viele und möglichst unterschiedliche Leute zusammenfinden würden. Ich glaube, da kommen die besten Ideen heraus. Weil, nur 'spontiphile' Aktionen reichen nicht. Weil man dann in bestimmten Ecken, Gruppen und Kreisen verbleibt. Das zu öffnen, auch im eigenen Kopf, finde ich sehr wichtig. Aber das verlangt viel von jeder und jedem von uns. Und oft genug ist es auch super anstrengend. Aber darin liegen für mich die nachhaltigsten Veränderungspotentiale.“ (S. 221f.)

Die Mitmachfalle

Mitbestimmungsgremien der Bezirke dienen dazu, „die Proteste in Form und Inhalt“ kontrollierbar zu machen. Die Inszenierung demokratischer Partizipation nützen letztlich der Legitimation schon getroffener Entscheidungen. Daher sei er oft zur Einsicht gekommen, dass „emanzipatorische Veränderungen der Stadtpolitik nur durch politischen Druck und nicht an Runden Tischen verhandelt werden können“, so der Berliner Sozialwissenschaftler Robert Maruschke. Am Beispiel der Bürgerplattform Wedding/Moabit zeigt er auf, wie deren Handeln auf die Nicht-Thematisierung der Grundsätze neoliberaler Politik ausgerichtet ist. Vier Prinzipien der Bürgerplattform könnten herausgestellt werden:

Die Orientierung an der Optimierung des Verwaltungshandelns statt struktureller Gesellschaftskritik. Die kleinteilige Projektarbeit mit dem Effekt der Entpolitisierung von Stadtentwicklungsfragen. Die Entwicklung und Durchsetzung neoliberaler Kontroll- und Ausgrenzungsstrategien im Namen der Allgemeinheit. Eine Legitimation neoliberaler Programme durch neue Beteiligungsformen.“ (S.228)

Es wird am Leopoldplatz ein „Anderes“ (Roma, Junkies, Alkoholiker etc.) konstruiert und dem „Normalen“ gegenübergestellt, in welches sich das „Andere“ einzugliedern hat. Damit wird soziale Kontrolle und der „urbane Klassenkampf gegen die einkommensschwache Bevölkerung Weddings“ legitimiert.

Sehr interessant ist auch der Artikel über die Initiative „Mediaspree versenken“. Er zeigt auf, wie die Aktivisten nach einem erfolgreichen Bürgerentscheid in die „Mitmachfalle“ tappten. Mit der Professionalisierung der Debatte – Grundstück für Grundstück wurden mögliche Lösungen erörtert – verlagerte sich das Engagement der Mitglieder der Initiative von der Straße in einen Ausschuss. Dabei zeigte sich natürlich ein Ungleichgewicht an Erfahrung und Fachwissen (und natürlich an Ressourcen, d. Verf.). Die Kampagne verlor deutlich an Dynamik, der öffentliche Druck ebbte ab. Der Glaube, es ließen sich auf dem Verhandlungswege Änderungen herbeiführen, erwies sich als vollkommen illusionär. Auch stellte sich heraus, dass sie mit dem Bürgerentscheid den Bezirk als falschen Ansprechpartner identifiziert hatten. Positiv war, dass ihnen eine inhaltliche Öffnung über die linke Szene hinaus gelang. Lehren seien: „Das Aufstellen eines breiten Bündnisses abseits der üblichen Schemata; das Identifizieren der politisch verantwortlichen Akteure und ein Anpassen der eigenen Strategie; sowie Argumente und Gegenkonzepte, mit welchen nicht nur die Widersprüche neoliberaler Stadtpolitik delegitimiert, sondern auch Alternativen aufgezeigt werden können.“ (S. 340)

Rechte artikulieren

Die Initiative „Kotti & Co“ schreibt, dass sich anfangs kaum jemand für den sozialen Wohnungsbau interessierte. Auch in der Zusammenarbeit mit stadtteilpolitischen AktivistInnen ergaben sich Reibungsverluste. Nach dem Motto: „Während die BewohnerInnen existentiell vom Wohnungsverlust bedroht sind, reden die anderen lieber vom Kapitalismus“. Man unterscheidet sich in der sozialen Zusammensetzung, in den Protest- und Diskussionsformen und teilweise in den Zielsetzungen. Von einigen Akteuren aus der aktivistischen Szene wurde dementsprechend Kotti & Co Reformismus vorgeworfen und diskreditiert. Kotti & Co dazu: „Wenn man in einer subalternen Position lebt, hat man keine 'Privilegien', auf die man verzichten könnte. Dieser Unterschied zur eher akademisch geprägten und im Durchschnitt sozial besser gestellten linken Szene schlägt sich auch in den Perspektiven, Strategien und Taktiken nieder. Das Ringen um politische Vertretung ist für uns somit kein Delegieren von politischen Entscheidungen, um die eigene Unmündigkeit zu organisieren. Es ist der Versuch, Rechte zu artikulieren und die Politik zunächst dazu zu bringen, sich der Probleme der Armen anzunehmen.“ (S. 348)

Ist die Politik ein Ansprechpartner oder ein Feindbild? Als Feindbild fungiert zum Beispiel ein Hauseigentümer wie Suitbert Beulker, der 2002/ 2003 die BewohnerInnen in der Rigaer Str.94 terrorisierte. Schade nur, dass in dem Buch kaum weitere konkrete Beispiele von Spekulanten genannt werden.*

Besetzen im 21. Jahrhundert

Der Artikel „Besetzen im 21. Jahrhundert“ von azozomox gibt einen wunderbaren Überblick über die Reste der Häuserbewegung, die nach den Besetzerwellen 1980/81 und 1989/90 noch übrig geblieben sind. Aber immer wieder flammt Widerstand auf, sei es von der „Initiative Squat Tempelhof“, den SeniorInnen der Stillen Straße oder dem Irving Zola-Haus in Kreuzberg (hervorgegangen aus einer Besetzung im Jahr 2012). Trotzdem hat sich an der berüchtigten „Berliner Linie“ (Verordnung, nach der besetzte Häuser in Berlin innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden der Besetzung zu räumen sind) grundsätzlich nichts verändert, wie man zum Beispiel bei der Räumung der Liebigstraße 14 in Friedrichhain erfahren musste.

Das Buch verspricht viel Spannung. Es gibt allerdings nur einen Ausschnitt der stadtteilpolitischen Initiativen in Berlin wieder und wartet auf Fortschreibung, wobei auch radikale Positionen zu einer revolutionären Stadtpolitik Gehör finden sollten. Trotzdem ist die Lektüre unbedingt zu empfehlen.

* Das Geschäft mit den Wohnungen beschreibt Andrej Holm allerdings in dem Buch „Mietenwahnsinn“. (Knaur 2014)

Andrej Holm (Hg.)
Reclaim Berlin

Assoziation A
Hamburg 2014

368 Seiten | Paperback | erschienen Februar 2014 | 18.00 € |

 

Editorische Hinweise

Wir bekamen die Rezension von der Autorin für diese Ausgabe.