Der März,
"Monat der Frau", wurde begangen, und der Verdacht drängt sich
auf, dass es damit für das ganze übrige Jahr wieder getan ist
mit der gesellschaftlichen Präsenz des Themas Frau-Sein,
Ausgrenzung und Gewalt gegen Frauen und LGBTI.
Die Autorin
dieses Artikels steht dem 8. März seit längerem skeptisch
gegenüber. Besonders, da wir uns bewußtmachen müssen, dass der
März eine willkommene Alibi-Veranstaltung für die
kapitalistische Ordnung ist. So wäre es mittlerweile schon
angebracht, eine Art "alternativen 8. März" zu proklamieren,
aber auch ein anderer Überraschungsmonat im Jahr wäre nicht
schlecht, in dem der kapitalistische patriarchalische Ablauf
unvermutet sabotiert wird. Aber auch eine Anmerkung zu den
ernsten Kämpfen von libertären und linken Initiativen möchte ich
hier geben, da ich eine Gefahr der idealisierenden Betonung von
einem oft formulierten breiten Bündnis sehe. Dabei beziehe ich
mich auf eine aufschlussreiche Stelle aus "Politische Theorie
und sexuelle Differenz" der Feministin Andrea Günter.
Kapitalistischer Gedenktag,
männliche Dominanz non-stop
Die
kapitalistische Gesellschaft regelt den 8. März allerdings in
verlogener Art, mit doppelter Moral. Einerseits berichtete die
Presse anläßlich dieses Tages, dass in einer Bilanz des
Verbandes zur Koordinierung der Frauenhäuser festgestellt wurde,
dass z. B. in 2010 neunzig Prozent der Frauenhäuser wegen
Überbelegung schutzsuchende Frauen ablehnen mußten. Und jede
dritte bis vierte Frau – von den gemeldeten deutschen Frauen
bundesweit- sei Opfer von sexueller oder anderer Gewalt
geworden. Andererseits beläßt mann es in der Politik und
Gesellschaft mit solchen Betroffenheitsberichten. Die Gewalt
gegen nichtdeutsche Frauen in deutschen Asylheimen und Lagern
wird dabei noch gar nicht kritisiert und auch nicht systematisch
dokumentiert. Und zur Situation der Frauenhäuser: Seit Jahren
wurden die finanziellen Mittel für öffentliche Einrichtungen
gekürzt, da machten Frauenhäuser und Hilfsorganisationen keine
Ausnahme. Wie auch in anderen Bereichen wird hier die Hilfe
zunehmend auf ehrenamtliches Engagement verlagert. An den
eigentlichen Grund für die soziale Misere, besonders die Misere
Gewaltbetroffener, rührt der politische und der allgemein
akzeptierte Denkansatz natürlich nicht: An das "Wachstum", das
immer mehr Profitorientierung bei Kommunen und Einrichtungen
verlangt. Mit sozialer Hilfe oder Frauenhäusern macht mensch
eben keine Gewinne. Und weshalb sollte ein Druck dazu aufgebaut
werden? Herrscht doch grundsätzlich das Tabu des Opfers, das zur
Siegermoral in der kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft
dazugehört. Da bleibt die Realität der Gewaltbetroffenen
alltäglich dem Schweigen überantwortet, solange nicht politische
Autoritäten, wie zum Beispiel Frauenbeauftragte, das Thema
anschneiden. Ist es nicht die gleiche gesellschaftliche
Wirklichkeit, in der stets die Schwächeren zum Schweigen
gebracht werden: die durch Armut Ausgegrenzten, die Opfer
rassistischer Gewalt, die Geflüchteten, die in Deutschland durch
Asylverfahren ausgegrenzt werden, aber auch die Ausgrenzung von
Kindern und Jugendlichen, die sich an das Leistungsprinz nicht
anpassen können? Solange die Gesellschaft ihrem
sozialdarwinistischen Prinzip treu bleibt, wird sie sich mit dem
Frauentag nur maskieren können. Dieser wird- wie alles in der
kapitalistischen Logik- noch einmal verwertet zum Gedenktag und
zur schön gestalteten Feier, und wirkt rein äußerlich mit
Beruhigung.
Die großen Medien verbreiten
deshalb im März gern sensationelle Berichte von manchen Fällen
häuslicher Gewalt, ohne die sozialen und gesellschaftlichen
Verhältnisse mit einzubeziehen: Leistungsdruck, Hektik, die
Präsenz des Geldes, soziale Gleichgültigkeit, wenig Zeit für
familiäre oder andere zwischenmenschliche Bindungen, und ein
weiterhin männlich-durchtrainiertes Ideal in Werbung und
Unterhaltungsindustrie.
Dann fanden
auch, im politischen Ablauf, schöne Ansprachen zum Thema der
Frau in der Gesellschaft statt. Dabei wird viel von
"Ungerechtigkeit" und "Ungleicheit" geredet, wiederum, ohne
soziale Verhältnisse zu thematisieren. Zwischenmenschliches
Verhalten wird als der Übergriff hinter der verschlossenen Tür,
als "häusliche Gewalt", ins private Geschehen verortet. Doch
dass Strukturen abseits von der menschenfeindlichen
Verwertungsmoral gestärkt werden müssten, davon hören wir kein
Wort. Die Logik der Arbeitsgesellschaft läßt da höchstens zu
mehr sozialen Kontrollen in Haushalten aufrufen. Und sie wird
nicht dazu gelangen, mehr finanzielle Mittel für hierarchiefreie
Räume, für soziale Entfaltung und für autoritätsfreie Hilfen zu
stellen.
Am 21. März
folgten öffentliche Veranstaltungen zur Einkommensungleichheit,
auch hier wurde von Gewerkschaften und manchen Politiker/innen
daran erinnert, dass Frauen durchschnittlich rund 20 Prozent
weniger verdienen als männliche Erwerbstätige. Und auch hierfür
gilt: Was soll sich denn daran ändern, solange die verbreitete
Moral sich an Wachstum klammert, und die Allgemeinheit sich die
gesellschaftliche Segnung von wirtschaftlichen Verbänden,
"Arbeitgeberverband" und Konzernen erwartet?
Des weiteren
gehörten zum bürgerlichen Repertoire verschiedene
Fernsehausstrahlungen über "Starke Frauen", biographische
Verfilmungen (meines Erachtens) kitschiger Machart über Frida
Kahlo und Rosa Luxemburg, und auch hier wieder das gleiche
Scheuklappendenken: Aktuelle soziale Verhältnisse in der
bundesdeutschen Realität wurden ausgeklammert: Zunehmende Armut,
kälteres soziales Klima und zunehmender Rassismus und
Faschismus.
Schweigen herrschte zugleich
seitens der politischen Ordnung von der Situation der
geflüchteten Frauen, die in Deutschland mit Abschiebegefahr und
Entrechtung konfrontiert werden. Und diese Art von
"Ungleichheit" wäre ganz einfach von der Regierung zu
beseitigen, wenn sie die diskriminierenden Gesetze des
Asylverfahrens ändern würde. Dies ist aber nicht gewollt. So
wurde in den politischen Ansprachen und den großen Medien kein
Thema daraus gemacht, wie Flüchtlingsfrauen in den Lagern
ausgegrenzt werden und um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder
fürchten müssen, wie sie hier noch nicht einmal per Gesetz
psychologische Betreuung für die Traumata ihrer Fluchterfahrung
erhalten. Auch, dass Flüchtlinge, die wegen Zwangsheiraten oder
Diskriminierung wegen ihrer geschlechtlichen Identität nach
Deutschland kommen, hier oftmals abgewiesen werden, war kein
Thema zum Frauentag. "Women in Exile" und andere Initiativen von
Geflüchteten liefern von der gefährdeten und entrechteten
Situation der Frauen in deutschen Lagern immer wieder ihre
aktuellen Berichte- diese verbleiben in linken Medien,
Randmedien im Vergleich zur großen Presse. Sie werden von der
Bundespolitik und von der großen medialen Berichterstattung auch
im "Monat der Frau" ausgegrenzt.
Nicht angesprochen wird von der
politischen Doppelmoral zum "Monat der Frau" auch die sexuelle
Belästigung im Alltag gegenüber Frauen und Trans-Inter-Queeren
Menschen. Gemeint sind hier tägliche Verhältnisse, die gar nicht
sensationell daherkommen, und die ungeeignet sind für die
medialen Schock-Erlebnisse, die zu schönen hohen
Verkaufsauflagen bürgerlicher Zeitungen genutzt werden können,
Dominanzverhalten in körperlichem und verbalem Auftreten. Die
manchmal subtilen, abwertenden Platzverweise von patriarchalen
Personen sind gegenwärtig, aber sie taugen nicht für die
Journale und Sensationsblätter. Z.B: An einem Arbeitsplatz
unterhalten sich ein langjähriger höherer Angestellter, zwei
Angestellte und eine neue Praktikantin im lockeren Stil. Das
Thema dreht sich um Freizeit-Betätigungen vom letzten
Wochenende; der hierarchieoberste Mann in der Gruppe erzählt von
einem Segelausflug auf dem Wannsee. Jovial und etwas
selbstgefällig äußert er, dass er hoffe, ein paar Pfunde
abzunehmen. Beiläufig klopft er der Praktikantin vor den Bauch
und meint: Bei ihr sei ja auch noch etwas abzunehmen, oder sei
sie schwanger?
Dieses Beispiel ist allerdings
noch ein harmloses Beispiel für einen
patriarchalisch-sexistischen Übergriff in Form einer
körperlichen Anmaßung an einer Arbeitsstelle. Ich nenne es nur
als eines, das uns allzu banal erscheint. Solche Situationen
dürften zum selbstverständlichen Erwerbsalltag der Gesellschaft
zählen, sie erhalten weiterhin Rollenzuweisungen und männliche
Dominanz .. Aber auch andere Belästigungen wie z.B.
Beschimpfungen von Frauen oder Transinter* -queeren Personen in
der Öffentlichkeit, z.B. in der U-Bahn sind an der Tagesordnung.
Und schließlich gehört in fließenden Grenzen das verbale und
körperliche Auftreten von patriarchalem Ego-Gebaren gegenüber
Frauen bis hin zum Schlagen zur Realität, Situationen, in denen
die betroffene Person in Wohnungslosigkeit, Notsituation und
Schweigen landen kann. Solches vollzieht sich selten wie es in
Politik und Sensations-Presse dargestellt wird, als der rasche
Übergriff, nach dem sich das Opfer mit einem blau geschlagenen
Auge sogleich an die staatliche Hilfsstelle wendet. Sondern viel
wahrscheinlicher vollziehen sich Gewaltereignisse jahrelang in
Strukturen des Schweigens und in der erlernten Subordination, in
Anpassung und im Versagen von Selbstgefühl bei den Betroffenen.
Interessante Hinweise dazu können Judith Herman „Narben der
Gewalt“, und Senta Trömel-Plötz, „Gewalt durch Sprache“, geben.
Schweigen
herrscht ebenfalls in der deutschen kapitalistischen Moral am
Frauentag über die sexistische Werbeindustrie. In ihr hat sich
die frauenverachtende und verdinglichende Darstellung etabliert.
Ihren Siegeszug hat sie offensichtlich gehabt und wird seit
vielen Jahren schon nicht mehr in der bürgerlichen Presse
thematisiert. Das weibliche, leichtbekleidete Model schwebt
durch die Bilder-Welt der Konsumindustrie, von der Packung mit
Kopfschmerztabletten, über Bekleidungs-Werbung bis hin zu
Lebensmitteln, von der im Internet präsenten Sexwerbung ganz
abgesehen. An Berliner U-Bahnhöfen war im März eine Mode-Werbung
ausgeschildert, die eine Frau mit nacktem Unterleib zeigte, der
nur von einer Transparenz-Strumpfhose bekleidet ist. Das
Anreizen mit männlichen Pin-Up-Wünschen konterkarierte die
heuchlerische Veranstaltung zum Frauentag ( indirekt aber könnte
das ständige Hochalten von weiblichen Hintern und anderen
Körperteilen an Bahnhöfen und Straßenzügen vielleicht auch als
sexuelle Belästigung gegen andersgeschlechtliche Personen
verstanden werden- wenn es auch männlichen Konsumenten als
lästig erscheint, dauernd wie ein konditionierter Hund bei den
sexuellen Reizen angepackt zu werden ?). Die
Wohnungsbaugesellschaft Arwobau wirbt in Bezirken mit einem
Großplakat am Straßenrand, das eine junge Frau in halb
zerfetzter Kleidung, deutlich als
Prostituierten-Typus, zeigt, die ein Schild hochält: "Nicht nur
für eine Nacht". Die primitiven Signalreize rechtfertigen im
kapitalistischen Ablauf die Verdinglichung und Benutzung der
Frau, während "Gleichheit" das Sonntagswort für Politiker/innen
bleibt.
Besonders in
der deutschen Konsumindustrie, scheint`s, herrscht die Inflation
sexistischer Kultur, Fühllosigkeit und Frauenverachtung sind
verpartnert. Da gestaltet sich jeder Auslandsaufenthalt wie ein
Urlaub von der deutschen kommerziellen Fleischbeschau. Was
Laurie Penny in "Fleischmarkt" (England) über die
Kommerzialisierung weiblicher Körper schrieb, gilt hier allemal.
Zeigt diese Bildersprache nicht, dass die Entfremdung vom
Menschen und von dem, was ein gleichheitliches, respektvolles
Miteinander bedeuten könnten, hier besonders fortgeschritten
ist? Im deutschen Alltag hat mann sich offenbar an die
Charaktermaske des technokratisch-aufgeklärten Menschen gewöhnt:
Einerseits strikt ausgerichtet, für den Job oder für Regelwerke
im Leistungsalltag zu funktionieren - "Sachlichkeit" und
ökonomische Logik herrschen – andererseits stillschweigend
benutzt als erotisches Reflex-Objekt. Die sexualisierte
Werbe-Sprache ( sogar mit Werbesprüchen auf Berliner
Abfalleimern wird sexualisiert) liefert die Pseudo-Erotik zum
Alltag beziehungslosen und emotionslosen Daseins.
Wie weit
die Kommerzialisierung des weiblichen Körpers schon allgemein
akzeptiert ist, zeigte mir ein Vorfall kurz vor dem 8. März: An
der Türe eines Buchladens, der vor allem linksliberale Werke
verkauft, hing ein Plakat, das in Überlebensgröße einen
weiblichen Po zeigte, der mit Ornamenten bemalt war. Es handelte
sich um ein Werbeplakat einer Kunstkommerzgruppe, die für ihre
Ausstellungeröffnung 8. März in Kreuzberg warb. Ich sprach den
Verkäufer auf die sexistische Werbung an, die im Laden auch als
vervielfältigte Visitenkarte zu Dutzenden auslag, und hielt ihm
zugleich die Ausgabe des aktuellen "Stressfaktor"-Magazins zum
Monat der Frau entgegen: Auf dessen Titelseite waren Clara
Zetkin und Rosa Luxemburg abgebildet. Dabei betonte ich, dass
diese verschiedenen Leitbilder zum 8. März nicht vereinbar
seien: einerseits die Köpfe zweier weiblicher
klassenkämpferischer Denkerinnen und andererseits ein anonymer
weiblicher Hintern, der die Kommerzialisierung des weiblichen,
austauschbaren Körpers reproduziert. Der Händler reagierte
darauf verblüfft und antwortete, er müsse erst mit den anderen
Leuten aus dem Kollektiv kommunizieren, ehe er das Plakat
entfernt. Ich mußte beinahe lachen, weil sein Bürokratismus zum
rohen Fleischkommerzialismus in so einem schönen Verhältnis
stand. Es wurde mir deutlich, dass die Gentrifizierungs-Logik in
Kreuzberg schon bedenklich fortgeschritten ist....Pseudo-Kunst
kann hier hoffen, sich mit der üblichen Masche der
kapitalistischen Konsumlogik durchzusetzen, während zahlreiche
männliche – und vielleicht auch weibliche?- Kiezbewohner/innen
das Bewußtsein für den Sexismus verloren haben. Im gleichen
Moment war jedoch im Laden auch noch eine andere Frau anwesend,
die ich als aktive Streiterin in antirassistischen Kämpfen
bereits kennengelernt hatte. Natürlich solidarisierte sie sich
mit mir, wir gingen zu zweit vor die Tür und entfernten das
Plakat.
Das breite Bündnis zum Frauentag
und eine Gefahr des Imaginären
Der konformistischen Heuchelei der
Profitgesellschaft steht eine Vielzahl von längst schon
wütenden, kritischen Köpfen gegenüber. Wie formiert sich der
Widerstand? Ich sehe zumindest eine Gefahr in der Tendenz, zum
Frauentag zu viele Anliegen auf einmal zu präsentieren und ein
"breites Bündnis" darzustellen, während es im Alltag doch darum
geht, die vielen Aspekten unseres Wissens konkret umzusetzen. Da
sollte das Anliegen nicht zu hoch formuliert werden.
Manche
Ansprüche der libertären Bewegungen zum Tag der Frau können
überborden, sich im Manifest-ähnlichen abarbeiten. Vielleicht
kommt das aus der fortgeschrittenen kritischen Kultur parallel
zur kapitalistischen Ordnung: Ohne dass mensch heute schon die
Durchsetzung gegen die alte Verwertungsgesellschaft erreicht
hätte, hat mensch ein enormes Wissen entwickelt, sei es in
sozialen Kämpfen und Klassenkämpfen, sei es in der
Gendertheorie. Das kann und muss sich natürlich formulieren: Das
Wissen von ausgegrenzten Minderheiten, vom Recht auf sexuelle
Selbstbestimmtheit und von Dominanzverhalten und den Strukturen,
die solches Dominanzverhalten stärken, das Wissen vom
fortschreitenden Rassismus, von menschlicher Ausbeutung und von
der hegemonialen Weltordnung. Das Wissen von Diskursen und von
der zerstörerischen Vernunft der Profitlogik, und von
zahlreichen globalen Kämpfen für ein hierarchiefreies und
souveränes Dasein für soziale Gemeinschaften.
Vielleicht
führt dieses große Wissen dazu, dass Initiativen zunehmend eine
große Vernetzung beschwören. In
der Suche nach der gemeinsamen Sprache nähern wir uns einem
Bündnis-Streben, das ein gutes Signal setzen kann, aber sich
auch in idealen Sätzen von einer freien Gesellschaft äußert: mit
dem Wissen von LGBTI, Antirassismus, Anti-Psychiatrie,
Dekonstruktion der Identitäten und Ausübung der
Geschlechterfreiheit, globaler Umverteilung. Problematisch wird
es, wenn dabei die Sprache selbst dominiert- wenn die gemeinsame
Sprache fast zu einer eigenen Kultur fortgeschritten ist, in der
jede/r erstmal zu korrekten Formulierungen und breiten
Kenntnissen avancieren muss, ehe der Blick auf das alltägliche
Umfeld erfolgt. So diskutiert mensch, ob Judith Butler
dekonstruiert werden müsse, und ob der Einsatz in Klassen- oder
Antira-Kämpfen paternalistisch sein könne. Und oft wird für
Selbsterklärungen in Artikeln und Flugblättern die Sprache
gesucht, in der alle Befreiungsanliegen auf einmal formuliert
werden können.
Steht nicht bei
den perfekten Ausformulierungen das konkrete Dasein in
vereinzelten, immer noch herrschenden Existenzkämpfen im
Hintertreffen? Mit dem Wissen, das vorhanden ist, auch
alltäglich zu arbeiten, gestaltet sich schwierig. Bei
Forderungen für eine freie Gesellschaft finden konkrete und
begrenzte Einzelheiten des Alltags manchmal keine Erwähungen
mehr, wie etwa Begebenheiten von Dominanz oder Belästigung.
Möglicherweise gelten sie als zu banal, z.B. Kampagnen gegen
sexuelle Belästigung in der U-Bahn oder anderes zu
thematisieren, könnte mit einem "Drüberstehen" in der linken
Bewegung ausgeklammert werden.
Bei einem Wunsch nach dem "breiten
Bündnis" , auch am Frauentag, sehe ich eine problematische
Seite, weil das einem "imaginären" Vorstellungsdenken folgen
könnte. Ein "imaginäres" Bündnisstreben der feministischen
Bewegung sah z.B. die Feministin und Literaturwissenschaftlerin
Andrea Günter 1998 in ihrem Buch "Politische Theorie und
sexuelle Differenz. Feministische Praxis und die symbolische
Ordnung der Mütter". Sie schreibt, mit Bezug auf die damaligen
feministischen Wertvorstellungen: "Das frauenbewegte
Versprechen, für eine Frau sei alles zu vereinbaren, nämlich:
Engagement und Zeit für sich, für Freunde, für die Liebe, für
Kinder und für Politik, beruflicher Erfolg, gesellschaftliche
Anerkennung und Ruhm (...)- ist größenwahnsinnig." "Warum komme
ich nun auf die Idee, dass die Vorstellung der Vereinbarung und
Vereinigung eine imaginäre Vorstellung ist, der das
Realitätsprinzip fehlt?...Das Streben nach Vollständigkeit und
Erfüllung zählt zum Imaginären, es ist Träger einer Phantasie,
in der es keine Reibungen ...gibt." (S. 111)
Günter versteht
unter dem "Imaginären" das Vorgestellte, dessen Entstehungsgrund
sie der Psychologie entlehnt: In der Lacan`schen Psychologie (
Freud weiterentwickelnd) zählen zur sprachlichen Funktion beim
heranwachsenden Mensch sowohl das Symbolische: die Dimension von
Worten und das So-Gesprochene, wie auch das Imaginäre: der
vorgestellte und erzielte Sinn, den ein Mensch zu artikulieren
glaubt. Im Imaginären wähnt sich der Mensch vollständig und
erhält seine Ordnung aufrecht. Im Symbolischen wirkt aber die
Sprache fort, die er erlernt hat, und die von der Versagung des
kindlichen Wunsches durch das "Nein des Vaters" mitgeprägt
wurde. Das soll an dieser Stelle heißen: Das Imaginäre steht für
die bewußte Selbstdefinition des Menschen, aber das Symbolische
auch für seine nichtbewußte Gewordenheit. Und mit Günters Blick
auf die feministischen politischen Diskussionen wird daraus
angewendet, dass sie in jenen Kämpfen- in ihrer Zeit der 90-er
Jahre- den vorherrschenden Anspruch von Vollständigkeit
kritisiert, während Unterschiede, Gewordenheiten und Reibungen
ins Hintertreffen gerieten. Dabei würde zu wenig von
"Niederlagen" gesprochen, um Änderung zu finden, und "Reibungen"
hätten weniger Raum, schreibt Günter.
Zumindest
bei der oft hochgehaltenen großen Vernetzung sehe ich eine
Gefahr des Imaginärem. Wie viel sprechen wir noch über
Beziehungen, Niederlagen, Konflikte in den Gemeinschaften oder
im Alltag? Doch gibt es auch konkretere Ansätze bei Berliner
libertären Gruppen, wenn Workshops zu verschiedenen Themen, wie
neuerdings zum Thema der Traumaaufarbeitung, organisiert werden.
Ich denke, das Streben nach einer perfekten Sprache sollte nicht
zu sehr aufgesucht werden, sondern es geht darum, einer
Aufsplittung von Kämpfen gerecht zu werden und in Offenheit
tätig zu werden. Ein Anschein von Stärke sollte nicht
dominieren, der Wunsch nach einer "breiten Bewegung" legt so
einen Anschein aber manchmal nahe. Bevor das Bündnis formuliert
wird, sollte gewißheit da sein: Ist die Vereinzelung denn
überwunden? Die Sprache sollte nicht nach Perfektion streben,
sondern das Sprechen sollte interessieren: Findet es statt?
Niederlagen und das (vermeintliche) Banale, Ereignisse im Alltag
sollten nicht von intellektuellen Debatten übertönt werden, ein
Gestus- "Da stehen wir ohnehin drüber" würde sich fatal
auswirken. Es sollte möglich sein, konkrete Ereignisse und
Reibungen zu thematisieren.
Editorische
Hinweise
Wir bekamen den
Text von der Autorin für diese Ausgabe.
|