"Wir sind keine Erziehungsbehörde"
Die ehemalige Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages

von Anne Seeck

04-2014

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Am 17. März 2014 tagte der Petitionsausschuss des Bundestages zur Abschaffung der Sanktionen (SGB II und XII). Als Besucherin der öffentlichen Sitzung war es für mich zum Teil unerträglich, den Ausführungen der Beteiligten zu folgen. Inge Hannemann bedankte sich am Ende bei dem „fabelhaften“ Publikum. Es war fabelhaft friedlich.

Dennoch sei Frau Hannemann dafür gedankt, dass sie nach acht Jahren als Jobcentermitarbeiterin aufbegehrte. Sie brachte eine Petition für die Abschaffung der Sanktionen beim Arbeitslosengeld II auf den Weg. Diese Petition wurde bisher von 90.000 Menschen unterzeichnet.

Die politische Wirkung dieser Eingabe zur Abschaffung der Sanktionen ist zwar sehr gering, aber auf diesem Weg kann eine, wenn auch sehr beschränkte, Öffentlichkeit für das Thema hergestellt werden.

Im ak 591 heißt es dazu: „Der Petitionsausschuss mag also für Einzelfälle hilfreich sei, in Bezug auf die Gestaltung der allgemeingültigen Regeln in Deutschland erfüllt er die Funktion eines parlamentarischen Ohrs am Puls des Volkes. Das politische System lässt sich durch diesen Pulsschlag allein nicht irritieren.“

Zu den Ausführungen Inge Hannemanns:

Hannemann benannte überzeugend und ironisierend Gründe für die Verstöße, die zu Sanktionen führen. In erster Linie sei die Intelligenz der betroffenen Menschen zu nennen, die die Sinnlosigkeit vieler Maßnahmen erkannt hätten. Sie ging auf diesen Punkt näher ein. Leider problematisierte sie in ihrem Eingangsstatement nicht das, was den Arbeitsmarkt kennzeichnet – die prekäre Beschäftigung. Das wäre das eigentliche Thema schon zu Beginn ihrer Ausführungen gewesen. Wenn es attraktive Alternativen und Perspektiven für Hartz IV-Beziehende gäbe, käme es auch nicht zu Verstößen. Hätte sie diese zwei Punkte (sinnlose Maßnahmen, prekäre Arbeit) bereits am Anfang der Sitzung im Zusammenhang erwähnt, hätte man eigentlich schon nach Hause gehen können. Denn sie erklären bereits alles.

Folgender Hinweis gefiel mir: „Wir treten in der Funktion als Erziehungsberechtigte auf. Wir behandeln die Volljährigen, als seien sie minderjährig. Sie bedürfen keiner Erziehung durch das Jobcenter. Wir sind keine Erziehungsbehörde.“ Hier hätte noch die schwarze Pädagogik der Jobcenter etwas näher erläutert werden können. Denn wer davon nicht betroffen ist, kann sich das kaum vorstellen.

Mich störte dagegen ihre Sicht auf die Erwerbslosen: Sie treten bei Hannemann in erster Linie als Opfer auf. Es komme zu Angriffen in den Jobcentern, weil die Menschen schockiert seien und sich nicht mehr verstanden fühlten. Sie hätten vor allem mit ihrem Überlebenskampf zu tun und sparten sogar beim Essen (O-Ton Hannemann: „Sie essen nur einmal im Monat.“) Ein Fall schockiere sie. Ein Erwerbsloser mit Diabetes und 90 Prozent Behinderung wurde voll sanktioniert, weil er einen Job mit fünf Euro Stundenlohn abgelehnt hatte. Er bat um Hilfe, die sie nicht leisten konnte. Er fragte sie nun, ob sein letzter Weg der Suizid sei.

Diese drastische Schilderung kontrastierte mit Hannemanns eigenem Verständnis einer aufbegehrenden Haltung. Denn darunter versteht sie offensichtlich, eine Klage einzureichen: „Die Menschen begehren auf, sobald sie Kraft und Geld haben. Wenn all die Menschen aufstehen würden, die sanktioniert sind, und eine Klage einreichen, dann...“ Die Sichtweise der Petentin bedeutet aber, dass die Verrechtlichung des Widerstandes vor allem zu seiner Individualisierung führt. Zahllose Erwerbslose protestieren individuell, sie reichen nicht nur Klagen und Widersprüche ein, sondern wenden auch Tricks an, lassen sich krankschreiben, leisten Schwarzarbeit, bauen Unterstützungsnetzwerke auf, bilden Parallelgesellschaften. Es gibt unterschiedliche Typen von Erwerbslosen. Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre nennt in einer Studie den „Um-jeden-Preis-Arbeiter“, den „Als-ob-Arbeiter“ und den „Nicht-Arbeiter“. Nach Harald Rein vom Frankfurter Arbeitslosenzentrum gibt es die FreiraumschafferInnen, die gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Arbeit leisten, und oftmals in der linken Szene engagiert und vollbeschäftigt sind. Erwerbslose sind durchaus handelnde Subjekte. Raus aus der Opferrolle! Diese wird allerdings auch im Folgenden sichtbar: Schutzpanzer, Kokon, depressiv...

Fragen von den Mitgliedern des Petitionsausschusses

Frage Abgeordnete/r: Welche Maßnahmen würden sie ansetzen, um Missbrauch zu verhindern?“

Inge Hannemann: Wir haben Missbrauch im Steuergesetz und bei Hartz IV, in allen Bereichen der Gesellschaft. Wir haben alle Facetten von Menschen im Jobcenter. Meine Erfahrungen sagen, die Menschen wollen rauskommen, aber sie haben sich einen Schutzpanzer umgelegt und sagen, Hartz IV ist cool, ich brauche nicht arbeiten. Das ist die Angst vor dem Scheitern.“

Frage Abgeordnete/r:  Das Prinzip des SGB II ist das Fordern und Fördern. In den letzten Jahren hat das Fordern die Oberhand gewonnen und das Fördern wurde ein bisschen vernachlässigt. Lassen sich die Sanktionen nicht reduzieren, in dem man mehr fördert?“

Hannemann: Nein gegen Reduzierung der Sanktionen. Sanktionen sind eine Strafe. Wir haben nicht genügend Arbeitsplätze. Die Menschen bewerben sich dadurch nicht mehr. Die Sanktionspraxis führt zur sozialen Isolation. Sie gehen nicht mehr aus ihren Wohnungen, werden depressiv. Sie sagen:' Ich befinde mich wie in einem Kokon. Ich kann mich nicht mehr bewegen.'“

Kommentar: Das „Jobwunder“ spricht gegen die Behauptung, es fehlten in erster Linie Jobs. Es geht vielmehr um die Qualität der Arbeitsplätze, die Arbeitsbedingungen. Die Lösung wird im Prinzip des „Förderns“ (!) durch den kapitalistischen Staates gesehen. Was aber geschieht mit denjenigen, die in dieses System gar nicht „integriert“ werden wollen?

Frage einer Staatssekretärin: Unser SGB erwartet einige Anstrengungen. Wir erwarten von jemandem, der Anspruch auf Leistungen hat, dass er mitwirkt. Wir erwarten Mitwirkung, ansonsten werden Sanktionen ausgesprochen. Woran scheitert die Mitwirkung?“

Frage einer ehemaligen Geschäftsführerin eines Jobcenters: Wo sehen Sie mehr Möglichkeiten, den Menschen zu helfen, um in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen?“

Hannemann:  Natürlich, es setzt immer vorher eine Bedarfsprüfung voraus (..) Ein Existenzminimum muss zu jeder Zeit sichergestellt sein. Wir befinden uns hiermit in der 'Leistungsgesellschaft'. Die Menschenwürde muss garantiert sein. Jedes politische System muss die Würde achten.“

Kommentar:  Nun argumentierte sie ganz technokratisch mit Bezug auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. (denn Sanktionen unterlaufen, so ihr Standpunkt, verfassungsrechtlich einzuhaltende Mindeststandards. Sie misst den bürgerlichen Staat an seinen eigenen Grundsätzen und klagt deren Einhaltung ein.)

Hannemann führt die abstrakten Begriffe „Existenzminimum“ und „Leistungsgesellschaft“ an, qualifiziert sie aber nicht näher. Wer definiert letztlich, was das „Existenzminium“ für eine erwerbslose Person ausmacht? Soll ihr die festgesetzte Geldsumme reichen? Was ist „Leistung“? Die „Leistungsgesellschaft“ impliziert die aktuell diskutierte Kategorie eines „Minderleisters“. Wie steht sie dazu? Wer ist ein „Leistungsträger“? Wer hat Nutzen von solchen Begriffen? Was soll der Fetisch „Erster Arbeitsmarkt? Weshalb eine Bedarfsprüfung? etc. Leider ging Inge Hannemann auf solche Fragen nicht ein.

Inge Hannemanns Vorschläge

Erstens: Die Ersteinladungen sollen menschlicher gestaltet werden. Sie hatte das getan und Erwerbslose sagten: „Es ist ja mal ein anderer Brief. Ich hatte keine Angst.“ Ob das wohl die Staatssekretäre etc. begreifen können, dass ein schwer verständlicher Behördenbrief, der bereits ein Kürzungsandrohung enthält, Angst macht? Sie begreifen es nicht nur, sie wollen es so. Denn die Verbreitung von Angst ist ein Bestandteil ihrer schwarzen Pädagogik: ihr Klassenkampf gegen die Armen. Darüber hätte man im Petitionsausschuss reden müssen.

Zweitens: „Wir brauchen im Jobcenter mehr Zeit“. Mehr Zeit für die „Kunden“: Vor dem Hintergrund der existierenden Verhältnisse versetzt dieses Anliegen viele Betroffene erst recht in Angst und Schrecken.

Drittens: „Wir müssen zuhören können. Wir sind aber auf Empathie, Pädagogik, Psychologie nicht geschult. Ich fordere mehr Qualifizierung. Alles zusammen in einen Topf, geschult, dann könnte mehr Menschlichkeit ins Jobcenter kommen.“ Oh je, die Stasi war auch gut geschult, ich nenne nur die so genannte operative Psychologie. Gut geschult in einem autoritären System, auch das macht Angst.

Als eine Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen nach den Wirkungen und ein anderer hochbezahlter Politiker-„Leistungsträger“ nach der Anzahl der Sanktionen fragte, die Zahlen müssten sie nun wirklich haben, schaltete ich langsam ab (die Grünen haben Hartz IV eingeführt!).

Im Anschluss an die Anhörung fand mit Inge Hannemann, Katja Kipping (Linkspartei) und etwa 70 vorwiegend erwerbslosen BesucherInnen eine gemeinsame Auswertung statt. Leider gab es keine zielgerichtete lebhafte Diskussion („Wie geht’s weiter?“), sondern alle Anwesenden sollten in einer Runde zu Worte kommen. Da sich dieselben Aussagen oft wiederholten („Hartz IV ist schlimm!“) und es zunehmend anstrengte, verließ ich vorzeitig die Sitzung.

Immer wieder wurde in dieser Sitzung nach der Anhörung als Alternative das bedingungslose Grundeinkommen herausgestellt. Existenzgeld wird nun seit 30 Jahren gefordert. Es wird aber nicht eingeführt, nur weil man die Forderung gebetsmühlenartig wiederholt. Wir leben in einer Gesellschaft, wo Ausnahmen für einen 8,50-Euro-Mindestlohn ausgehandelt werden! Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines emanzipatorischen Grundeinkommens sind in keiner Weise gegeben. Wenn es aber soweit wäre, dann ließe sich auch eine andere Gesellschaft (Vergesellschaftung, Selbstverwaltung etc.) ohne Notwendigkeit eines Grundeinkommens gestalten.

Video zum Petitionsausschuss: http://www.youtube.com/watch?v=nK940904e5g&feature=youtu.be

Ihr Blog: http://www.ingehannemann.de/
http://altonabloggt.wordpress.com/

Die Petition: https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2013/_10/_23/Petition_46483.html

Netzwerk Grundeinkommen zum Petitionsausschuss:
https://www.grundeinkommen.de/20/03/2014/inge-hannemann-souveraen-im-petitionsausschuss.html

PS: Das Netzwerk BGE schreibt dazu: „Wenn JournalistInnen das Problem erkennen, mag auch das Umdenken bei PolitikerInnen nicht mehr fern sein.“ Wer`s glaubt! Den protestierenden und widerständigen Erwerbslosen wird jedenfalls nicht geglaubt, da muss erst eine (!) Jobcentermitarbeiterin „aufstehen“.

Gregor Zattler, „Marsch durch die Petitionen“, in: ak 591 http://www.akweb.de/ak_s/ak591/31.htm

NRW-Studie zu Hartz IV- Sanktionen: http://www.labournet.de/politik/erwerbslos/hartz4/sperren/studie-zeigt-verheerende-folgen-von-hartz-sanktionen/

Editorische Hinweise

Den Artikel bekamen wir von der Autorin für diese Ausgabe.