Frankreich – Rwanda
Auch ein französisches Verbrechen

von Bernard Schmid

04-2014

trend
onlinezeitung

Am 07. April dieses Jahres jährt sich zum zwanzigsten Mal der Beginn des Völkermords in Rwanda. Dieser jüngste Genozid in der Geschichte und letzte Völkermord des 20. Jahrhunderts hatte auch eine französische Komponente: Unter François Mitterrand unterstützten die Machthaber in Frankreich bis zur letzten Minute das Regime, das den Völkermord organisierte und durchführte. Bevor es die Täter mittels der ,Opération Turquoise’ (Juni/Juli 1994) in den Osten des damaligen Zaire und heutigen Kongo geleitete. Die offizielle geschichtsrevisionistische Doktrin, die in Frankreich noch im vergangenen Jahrzehnt kultiviert wurde, ist allerdings weitgehend aus dem Verkehr gezogen worden.

Hebt endlich die Geheimhaltung über die Rolle Frankreichs in Rwanda auf!“ fordert eine Petition, die am Mittwoch vergangener Woche on-line publiziert wurde (vgl. http://www.avaaz.org/fr/petition/). Innerhalb von vier Tagen erhielt sie, bis am vergangenen Sonntag, den 30. März 14, rund 2.000 Unterschriften von prominenten und nicht prominenten Einzelpersonen. Lanciert wurde sie durch die französische NGO Survie, die zu den schärfsten Kritikern der neokolonialen Politik des Landes in Afrika zählt, und verbündeten Akteuren aus dem Bürgerinitiativenmilieu.

Ihre Forderung richtet sich explizit an Staatspräsident François Hollande und Verteidigungsminister Jean-Yvan Le Drian. Diese könnten - wenn sie denn wollten - den Verschluss aller staatlichen Archive, der bislang zur französischen Rwanda-Politik im Vorfeld des Völkermords von 1994 aufrechterhalten wird, teilweise oder gänzlich aufheben. Gerechtfertigt wird die Sperrung des Archivzugangs mit dem secret-défense, also „Verteidigungsgeheimnis“. Dabei handelt es sich um eine mit militärpolitischen Erfordernissen begründete, besondere Geheimhaltungsstufe, die als Bestandteil der „Staatsräson“ gilt.

Unterdessen laufen zur Zeit Diskussionen zwischen den französischen Grünen und ihrer linksliberalen Bündnispartei Europe Ecologie-Les Verts (EELV) einerseits, dem Linksbündnis Front de gauche auf der anderen Seite über ein eventuelles gemeinsames Vorgehen im Parlament zum Thema. Auf beiden Seiten gibt es Abgeordnete und Parteiaktivisten, die sich „motiviert“ dazu erklärt, die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu fordern.

Eine solche Forderung hatte es erst einmal gegeben, in den Jahren 1998/99, nachdem der Journalist Patrick de Saint-Exupéry erstmals an prominenter Stelle Informationen über eine französische Mittäterschaft beim Genozid veröffentlicht hatte. De Saint-Exupéry arbeitete damals noch für die rechtsbürgerliche Zeitung Le Figaro, was ihm als Kritiker dieser Politik eine einzigartige Stellung verlieh; heute gibt er ein eigenes Magazin, unter dem Titel XXI (für „21. Jahrhundert“), heraus. Damals konnte ein echter Untersuchungsausschuss mit dazugehörenden Informationsrechten noch verhindert werden. Stattdessen wurde eine „parlamentarische Mission“ eingesetzt, deren Mehrheitsfraktionen sich oftmals mit den unhinterfragten Aussagen französischer Militärs begenügten und 1999 einem lauwarmen Abschlussbericht vorlegten. Würden die beiden Parlamentsfraktionen von Grünen und Linken jedoch heute einen Untersuchungsausschuss fordern, der eine echte Autonomie bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben hätte und von den seit fünfzehn Jahren gesammelten Erkenntnissen ausgehen müsste, könnte dieses Verlangen noch immer „explosiv“ sein.

Auch ein französisches Verbrechen

Der Genozid, also die Ermordung von 800.000 bis zu einer Million Tutsi in Rwanda, war auch ein französisches Verbrechen. Nicht allein – die Mordinstrumente wurden meist von Einwohnern Rwandas in der Hand geführt -, aber auch ein französisches Verbrechen.

Von 1990 bis im Sommer 1994, bis kurz nach dem Ende des Völkermords, war Frankreich in Rwanda stark militärisch aktiv. Seine dortige Tätigkeit hatte drei zentrale Aspekte: Erstens ging es um die kriegerische Bekämpfung der mehrheitlich von Angehörigen der Tutsi-Minderheit im Exil gebildeten Rebellenarmee, die englisch RPF (Rwandan patriotric front) und französisch FPR (Front patriotique rwandais) genannt wurde. Auf ihren Strukturen beruht die heutige Regierungspartei in Rwanda, die seit Juli 1994 die politische Macht ausübt. In den Jahren zuvor analysierten französische politische und militärische Entscheidungsträger die RPF jedoch als Gefährdung für die postkoloniale Einflusszone Frankreichs in Afrika, welche sich US-Amerikaner und Briten nach dem Ende des Kalten Krieges mit dem sowjetischen Block nun einzuverleiben trachtete. Die RPF agierte von Basen in Rwandas englischsprachigem Nachbarland Uganda aus. Deshalb sollte ihr Vordringen mit buchstäblich allen Mitteln verhindert werden. Im Oktober 1990 landeten deswegen französische Truppen in Rwanda, die in den kommenden Jahren teils offiziell, teils inoffiziell agierten.

Zum Zweiten wandten französische Militärstragen und –ideologen dabei Praktiken des so genannten „antisubversiven Krieges“ – bisweilen auch „revolutionärer Krieg“ genannt – an, wie der Armeeapparat des Landes sie in den Kolonialkriegen der späten 1950er Jahren zu entwickeln begann. Damals war der Apparat besessen von der Idee einer „kommunistischen Subversion“, die angeblich hinter den Entkolonialisierungsbewegungen stehe und ein gigantisches Komplott darstelle. Zu ihrer Eindämmung wurden verschiedene Techniken entwickelt, zum Teil unter Rückgriff etwa auf Ideen des deutschen Generals Erich Ludendorff. Diese enthielten neben Folterpraktiken auch Elemente wie die Durchorganisierung der Bevölkerung, ihre möglichst totale statistische Erfassung oder die Verquickung von zivilen und militärischen Organisationsformen durch Bildung von Milizen. Erstmals erprobt wurden diese Techniken im Algerienkrieg, wo die europäische Siedlerbevölkerung als willige Massenbasis für die Milizsysteme und die arabisch-berberische Mehrheitsbevölkerung als „Objekt“ des Herrschaftszwecks diente. Danach wurden das französische Know-How in die Militärdiktaturen besonders in Argentinien und Chile in den siebziger Jahren exportiert und dort zusätzlich ausgereift.

Rwanda, wo die ethno-extremistische Bewegung der „Hutu Power“ ab 1990 zur massenhaften Organisierung in Milizen drängte, bot das jüngste Experimentierfeld für die „Experten“ dieser Techniken. Sie berieten die Milizen, die den Völkermord verüben würden. Einige von ihnen begannen sich dabei so sehr mit den Obsessionen ihrer örtlichen Verbündeten zu identifizieren, dass sie selbst von der „subversiven Rolle“ der Tutsi zu fantasieren begannen. Als drittes Element kam der schlichte machtpolitische Zynismus der Regierenden im französischen Staatsapparat hinzu. Diese beschlossen, einen Verbündeten in der eigenen Einflusssphäre lasse man nicht fallen, selbst wenn er Verbrechen begeht, um keine Zweifel an der „Zuverlässigkeit“ Frankreichs unter anderen verbündeten Diktatoren aufkommen zu lassen. Die „rwandische Übergangsregierung“ GIR, die am 9. am 10. April 1994 – nach dem Tod von Präsident Juvénal Habyiarimana beim Abschuss seines Flugzeugs – formiert wurde und in den kommenden zwei Monaten den Völkermord maßgeblich organisieren sollte, wurde in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali gebildet. Mitte Mai 1994 wurde sie in Paris empfangen, wo ihr Militärhilfe versprochen wurde, während diesem Genozidregime zum damaligen Zeitpunkt die internationale Anerkennung weitestgehend verwehrt blieb.

Vor einem Jahrzehnt noch war in Frankreich eine geschichtsrevisionistische These Staatsdoktrin, die im Kern besagte: Es handelte sich nicht um einen geplanten und systematisch durchgeführten Völkermord, sondern um eine mehr oder minder spontane Reaktion der Hutu-Mehrheitsbevölkerung auf ein Verbrechen der RPF. Denn - so lautete diese Darstellung – es sei die mehrheitlich aus Tutsi oder exilierten Tutsi bestehende Rebellenarmee RPF gewesen, die am 06. April 1994 den Präsidentenflieger über Kigali abgeschossen habe. Deswegen sei es zu Racheakten an Tutsi gekommen, die also im Kern einen verständlichen Kern hätten, doch im Anschluss dann aus dem Ruder gelaufen seien. Von ihrem Kerngehalt her ist diese These (egal, ob nun die RPF das Präsidenten-Attentat verübt hat oder nicht, wogegen im Übrigen einige Gründe sprechen) ungefähr so „sinnvoll“, als würde man behaupten, die so genannte „Reichskristallnacht“ 1938 und später der Holocaust ließen sich als Reaktion auf den Attentatsversuch von Herschel Grynszpan auf den Botschafter Nazideutschlands in Paris verstehen. In Wirklichkeit ist natürlich das eine genau so falsch wie das andere: Der Genozid war über Jahre hinweg geplant und vorbereitet worden. Die Macheten, mit denen ein Teil des rwandischen Völkermords in blutigem Handwerk durchgeführt wurde, waren im Sommer 1993 in China bestellt worden, mit einer Garantie der französischen Bank BNP.

Im Jahr 2004 hatte der französische „Anti-Terror-“ Untersuchungsrichter der besagten These juristische Weihen verliehen. Er eröffnete damals ein „antiterroristisches“ Strafverfahren gegen zehn hochrangige Regierungspolitiker und Vertraute von Staatspräsident Paul Kagamé, die alle vor dem Völkermord bereits bei der RPF aktiv waren. Er warf ihnen vor, eine Rolle beim angeblichen RPF-Attentat gegen Präsident Habyiarimana gespielt zu haben und dadurch den Völkermord gegen die Tutsi, also ihre eigene Volksgruppe, verursacht zu haben.

Dieses staatliche Bemühen um Verankerung einer der Holocaustleugnung vergleichbaren These ist auf der ganzen Linie gescheitert. Bruguière musste aus seinem Richteramt abtreten, nachdem er 2007 für Nicolas Sarkozys damalige Regierungspartei UMP für einen Parlamentssitz kandidiert hatte: Auf diese Weise verletzte er offen das formell geltende politische Neutralitätsgebot. Im November 2008 begab sich Rose Kabuye, die zum Personenkreis gehörte, gegen den Bruguière ermittelt hatte, freiwillig in Untersuchungshaft in Frankreich. Dadurch erhielt sie jedoch über ihre Anwälte Zugang zu der Akte – und konnte in der Folgezeit überall verbreiten, der Inhalt der Akte sei „leer“. Nach wenigen Monaten kam sie daraufhin wieder frei.

Neue Untersuchung, neues Ergebnis
 

Vor allem aber rollten Bruguières Amtsnachfolger im Ermittlungsverfahren, Nathalie Poux und Marc Trédivic, die Grundlagen des Verfahrens wirklich von Null ab neu auf. Dabei kamen jedoch völlig andere Schlussfolgerungen heraus. Am 15. Oktober 2010 begaben beide UntersuchungsrichterInnen sich zum Ortstermin in Rwanda, wohin Bruguière nie gereist war. Im Januar 2012 legten Experten ihnen einen ballistischen Untersuchungsbericht vor (vgl. http://www.jeuneafrique.com zuzüglich http://www.jeuneafrique.com/Article/JA2717p008-009.xml4/ ), der zum Schluss kam, Bruguières Grundbehauptung – wonach die auf den Präsidentenflieger abgefeuerten Raketen von einem RPF-Camp aus geflogen seien – sei technisch unmöglich aufrecht zu erhalten. Den Experten zufolge kamen die Raketen aus dem Camp Kanombé. Dort saßen aber im April 1994 auf keinen Fall die Rebellen der RPF, sondern zum amtierenden Regime loyale Militärs. Dies verlieh der These neue Nahrung, wonach extremistische Kräfte innerhalb des Regierungslager damals Präsident Habyiarimana ausschalteten, als Fanal und Signal zum Losschlagen.

Die alte geschichtsrevisionistische These wird heute in Frankreich von Staats wegen nicht mehr vertreten, spätestens seitdem Nicolas Sarkozy sie als Präsident aus dem Weg räumte. Aufgrund der Erkenntnis, dass die „Zeitbombe“ der offenen Fragen zur französischen Rolle in Rwanda entschärft werden müsste, hatte Sarkozy sich am 24. Februar 2010 nach Kigali begeben – wo er, eilig wie immer, sich allerdings nur drei Stunden aufhielt. (Vgl. http://www.lepoint.fr/ und Frankreichs neokoloniale Kontinuität in Afrika)

Immerhin fand er Zeit, sich vor den Genozidopfern zu verneigen und festzustellen, Frankreich habe beim Völkermord von 1994 auf der falschen Seite gestanden. Sicherlich nicht, weil Franzosen Verbrechen begangen hätten - diese Worte kamen Sarkozy nicht in den Mund -, sondern aus Irrtum und „Verblendung“. Doch die Staatsspitze hatte auf diese Weise die geschichtsrevisionistische Doktrin offiziell entsorgt.

Heute vertritt sie auf offensive und aggressive Weise fast nur noch der Schriftsteller Pierre Péan, ein französischer Nationalist und Schriftsteller, der sich für einen Vorkämpfer der Wahrheit und der Underdogs hält und bevorzugt im Wochenmagazin Marianne publiziert. Dort wärmt er in der Ausgabe von dieser Woche (Nummer vom 29. März 14) erneut die These vom RPF-Mord an Präsident Habyariamana auf, unter Berufung auf dubiose „neue Zeugen“. Er bezeichnet den früheren RPF-Chef und jetzigen Präsidenten Rwandas Paul Kagamé als „afrikanischen Kim Il-Sung“, was wenigstens insofern originell ist, als er nun den asiatischen Vergleichsrahmen wechselte. Bislang hatten Péan, manche französischen Militärs und Geheimdienstler – von denen er seine Informationen bezieht – die RPF eher als „Schwarze Khmer“ tituliert. Statt Pol Pots Kambodscha ist nun also Nordkorea angeblich ihre Referenz.

Über Kagamés Verbrechen zu reden, sei heute zu verpönt wie das Sprechen über Stalins Verbrechen in Frankreich in den frühen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, fügt Péan hinzu. Doch die Geschichte werde ihm Recht geben, wie den Stalin-Kritikern damals. Kagamés tatsächliche oder vermeintliche Verbrechen - etwa in den Kriegen im Osten Kongos, anzuprangern - beinhaltet aber in Péans Weltsicht notwendig auch, die „offizielle Sicht“ über die Hintergründe des Genozids zu hinterfragen und stattdessen die RPF als Hauptschuldige hinzustellen. Und damit Tutsi für den Völkermord an ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe verantwortlich zu machen.

Seitdem Sarkozy im Februar 2010 diese Variante des Geschichtsrevisionismus quasi offiziell dementierte, hat sie sich als Regierungsposition erledigt. Kein Staatsvertreter würde heute vergleichbare Positionen offensiv einnehmen, anders als noch vor einem knappen Jahrzehnt. Allerdings nimmt die aktuell amtierende Regierung auch keine sonstige Stellung zum Thema. Und dies nicht nur, weil das Kabinett bis über beide Ohren in innenpolitischen Problemen feststeckt – sondern auch, weil das politische „Erbe“ François Mitterrands für viele französische Sozialdemokraten nach wie vor tabu ist, es aber notwendig Schaden nähme, würde man seine Rolle in Rwanda auch nur ankratzen.

Von offizieller Seite her sind bis Redaktionsschluss Anfang dieser Woche keine Ereignisse zum Gedenken an den zwanzigsten Jahrestag des Völkermordsbeginns in Rwanda bekannt. Dies schließt nicht aus, dass es noch zur einen oder anderen Ministerrede kommt. Unterdessen ist das NGO- und Bürgerinitiativenmilieu sehr stark zum Thema aktiv. Ebenso wie die Pariser Gedenkstätte für die Shoah, wo seit Mitte Februar mehrere hochkarätige Veranstaltungen zum Völkermord in Rwanda stattfanden. Rund um den Jahrestag der Auslösung des Genozids am 07. April werden eine Reihe von Gedenkveranstaltungen und Filmvorführungen stattfinden, von Vereinigungen wie „Ärzte ohne Grenzen“, Antirassismusgruppen oder auch mit Unterstützung von einzelnen linken Rathäusern wie in Ivry. Am Montag selbst wird zudem eine Gedenkstätte für die Genozidopfer in Rwanda auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise eingeweiht.

Aber das Geschehen konzentriert sich nicht allein auf die Hauptstadt. Der NGO-Kalender zu Aktivitäten rund um den Völkermord in Rwanda (vgl. http://www.ibuka-france.org/ ) weist neben Lyon, Bordeaux und Nantes auch Städte wie Dieulefit in der Nähe von Valence oder Chalette-sur-Loing bei Orléans aus, von denen man sonst eher selten im Zusammenhang mit politischen Aktivitäten hört. Am 25. Mai, 1. und 7. Juni werden ferner in Paris internationalen wissenschaftliche Kolloquien über den Genozid in Rwanda stattfinden.

Prozess in Paris

Aber auch auf juristischer Ebene sind die Möglichkeiten beileibe nicht ausgeschöpft. Der Prozess vom 04. Februar bis zum 14. März 2014 in Paris (vgl. http://survie.org und http://www.francetvinfo.fr oder http://www.dailymotion.com ), der zur Verurteilung von Pascal Simbikangwa wegen Beihilfe zum Völkermord zu 25 Jahren Haft führte, war der erste seiner Art in Frankreich. (Siehe hier den Urteilstext: http://proces-genocide-rwanda.fr). Dabei hätte es schon früher reichlich Anlass dafür gegeben, da viele Völkermordverdächtige auf französischem Boden weilen – allen voran Agathe Habyiarimana, die Witwe des im April 1994 getöteten früheren Präsidenten, die selbst eher den Extremisten innerhalb seines ehemaligen Regimes nahe stand. Ihr Asylgesuch in Frankreich wurde zwar „wegen Verstrickung in Verbrechen gegen die Menschheit“ abgelehnt, doch trotz ihrer formaljuristisch „illegalen“ Aufenthaltssituation wurde sie nie behelligt.

Am 06/ Januar 2010 kündigten Bernard Kouchner und Michèle Aliot-Marie, damals Außenminister respektive Innenministerin unter Nicolas Sarkozy, in Le Monde die Schaffung eines „Zentrums für Völkermordstraftaten“ bei der Pariser Staatsanwaltschaft an (vgl. http://www.lemonde.frsowie http://www.lepetitjuriste.fr ). Dies sollte mir zur neuerlichen Legitimation der französischen Politik beitragen, welcher nicht länger das Wegsehen gegenüber Völkermordtätern vorgeworfen werden sollte. Damals zählte Patrick Baudouin, der Vorsitzende der Internationalen Menschenrechtsvereinigung FIDH mit Sitz in Brüssel, zu den scharfen Kritikern des Vorhabens (vgl. http://www.france24.com). Er monierte umgehend, es fehle in dem Entwurf an materiellen Mitteln für das geplante Zentrum, aber auch an gesetzlichen Grundlagen – denn nur dauerhaft in Frankreich ansässige Personen sollten durch die dortige Justiz verfolgt werden können. Aber, kritisierte Baudouin, viele der Betreffenden weilten „nur vorübergehend in Frankreich, wenn sie dort gerade in Luxushotels absteigen“. – Auch andere Quellen monierten den Mangel an Mittelausstattung des Zentrums für Genozid-Straftaten (vgl. http://www.ibuka-france.org/ )

Das Gesetz, das die Grundlage für das Zentrum schuf, wurde dann am 13. Dezember 2011 verabschiedet (vgl. http://www.senat.fr), und in den ersten Jahresmonaten 2012 konnte es nach einigen Verzögerungen seine Arbeit aufnehmen (vgl. http://www.20minutes.fr). Das Strafverfahren gegen Simbikangwa war das erste, das es bis zum Ende durchführte; das Völkermord-Zentrum hatte im März 2013 die Anklageerhebung gegen den damals 53jährigen früheren Geheimdienstoffizier aus Rwanda beschlossen (vgl. http://www.rfi.fr/ ). Der Angeklagte legte Berufung gegen das Urteil ein (vgl. http://www.lemonde.fr/ ). Erleichtert wurde es der französischen Justiz wohl dadurch, Strafverfolgungen gegen ihn einzuleiten, dass der Delinquent 2008 im französischen Überseegebiet Mayotte wegen Handels mit gefälschten Ausweispapieren festgenommen worden war. Eine solche Infragestellung seiner souveränen Entscheidungsvollmachten schätzt kein Staat sonderlich. Bei seinem Prozess wurde allerdings die französische Rolle beim Genozid von 1994 kaum oder nicht thematisiert.

Nimmt das Zentrum seine Aufgaben aber auch künftig wirklich ernst, dann wird es ihm nicht an Arbeit mangeln. Mitte März dieses Jahres waren insgesamt 27 Rwanda betreffen Verfahren bei dem auf Völkermord spezialisierten Justizzentrum in Paris anhängig, davon zwei „kurz vor dem Abschluss stehende“ (vgl. http://www.liberation.fr/monde). Am 20. März 14 wurde unterdessen ein neues Strafverfahren gegen den rwandischen Arzt und mutmaßlichen Völkermordstraftäter Charles Twagira eingeleitet. Er war in den letzten Jahren in Vire in der Normandie ansässig gewesen. (Vgl. http://www.liberation.fr und http://www.liberation.fr/monde)

Unterdessen hatte der französische Oberste Gerichtshof es am 26. Februar 14 in einem Urteil grundsätzlich abgelehnt, Völkermordverdächtige an Rwanda zu überstellen. (Vgl. dazu die Kritik des Anwalts Serge Arzalier: http://www.presentation.lexbase.fr) Ihrer Auslieferung stünden rechtsstaatliche Bedenken im Wege: Da zum Tatzeitpunkt der Straftatbestand des Völkermords nicht im rwandischen Recht verankert gewesen sei, könne diese den Vorwurf nicht rechtmäßig verfolgen. Allerdings muss stark angenommen werden, dass zumindest Mord auch dort während der Wochen und Monate des Völkermords theoretisch strafbar war, und massenhafter Mord erst recht. Nimmt die französische Justiz allerdings ihre „rechtsstaatlichen Bedenken“ zum Anlass, auf eigenem Boden wirklich und ernsthaft gegen in Frankreich lebende rwandische Völkermordtäter zu ermitteln und vorzugehen, dann wäre daran im Ergebnis nichts auszusetzen. „Endlich“, müsste man sagen.

Aufgaben gäbe es allerdings auch im Hinblick auf in dien Völkermord in Rwanda verstrickte Franzosen genug. Bislang es für die französische Justiz ein absolutes Tabu, gegen politische Entscheidungsträger – deren wichtigster in diesem Zusammenhang, François Mitterrand, ist allerdings tot (im Januar 1996 „viel zu spät verstorben“) – und gegen führende Militärs des eigenen Landes vorzugehen. Genau dies, also etwa Ermittlungen gegen französische Offiziere wegen Komplizenschaft, Beihilfe oder Mittäterschaft bei Völkermord, fordern NGOs hingegen vehement.

Paul Barril: Ein gefährliches Subjekt, das noch immer frei herumläuft

Eine Ausnahme gibt es inzwischen: Gegen den besonders belasteten ehemaligen „Mann fürs Grobe“ führender staatlicher Entscheidungsträger, Paul Barril, ermittelt inzwischen auch die französische Justiz. Barril war dereinst, zu Anfang der 1980er Jahre, Gendarm und Personenschützer mit Arbeitsplatz im Elysée-Palast. Er legte jedoch seinen Einsatzbereich und seine Aufgaben oftmals sehr eigenwillig aus. Sich selbst hielt er offenkundig für eine Art Mischung aus James Bond und Kardinal Mazarin, also als Mann mit Sinn für die „Staatsräson“ und für ihre praktische Ausführung zugleich. Unter Präsident Mitterrand wurde Barril seiner offiziellen Aufgaben entbunden, nachdem sich herausstellte, dass er eigenhändig Dynamitstangen bei „Terrorverdächtigen“ – es ging um Iren mit antibritischer Einstellung – deponiert hatte, um sie ihnen bei einem Strafverfahren unterjubeln zu können. Aber als Söldner oder als Leiter parastaatlicher Netwerke war Paul Barril mit seinen Dienstleistungen willkommen, solange er nicht aufflog oder aus der Sicht „höherer Interessen“ kontraproduktiv zu werden drohte.

Während des Völkermords in Rwanda spielte Barril eine Rolle, die in Teilen bis heute undurchsichtig bleibt. Fest steht, dass er am 06. April 1994 zum Zeitpunkt des Attentats auf die Präsidentenmaschine im Flughafenbereich von Kigali weilte – und möglicherweise eine aktive Rolle beim Geschehen spielte. Fest steht ferner, dass er am 6. Mai desselben Jahres erneut nach Rwanda reiste und dort in direkten Kontakt mit Regierungskreisen trat. Mit ihnen schloss er einen Vertrag über 3,3 Millionen Dollar, dessen Titel bzw. Codename – Opération insecticide („Operation Insektenvernichtungsmittel“; vgl. die dazu eigens eingerichtete Wikipedia-Seite: http://fr.wikipedia.org/ ) – allein schon Schauer über den Rücken jagt, wenn man berücksichtigt, dass die Milizen der Völkermordtäter die Tutsi als „Wanzen“ oder „Schaben“ bezeichneten. Es ging offenkundig um Waffenlieferungen diverser Art. Erstmals wurde über diesen Vertrag am 09. September und 23. September 2009 in der linksliberal-antiklerikalen Wochenzeitung Charlie Hebdo berichtet (vgl. http://www.franceinter.fr/ sowie http://www.liberation.fr ).
 

Doch als die Untersuchungsrichter/innen Poux und Trévidic das Rwanda-Dossier übernahmen, begannen sie auch gegen Barril zu ermitteln. Eine Hausdurchsuchung bei ihm im Juni 2012 (vgl. http://www.veritasinfo.fr oder http://blog.lesoir.be) förderte Dokumente zutage, die die Existenz des insecticide-Vertrags detailliert nachwiesen. Die Untersucherungsrichter/innen befragten Barril am 07.06.12 dazu, doch dieser vermochte sich leider an gar nichts zu erinnern… Im Januar 2013 tauchten neue Dokumente dazu auf (vgl. http://afrikarabia2.blogs.courrierinternational.com). Ausgestattet mit Informationen über die neuen Beweismittel, erstattete die Internationale Menschenrechtsvereinigung FIDH im Juni 2013 als Zivilklägerin Strafanzeige gegen Paul Barril (vgl. http://www.france24.com/fr/und http://www.lemonde.fr und http://www.liberation.fr). Dieser, dem anscheinend allmählich der Boden unter den Füße heiß wurden, gewährte am 12. Januar dieses Jahres erstmals der öffentlich-rechtlichen Anstalt Radio France ein Interview und versuchte sich zu verteidigen (vgl. http://www.franceinter.fr). Doch die belastenden detaillierten Informationen über ihn mehrten sich so sehr, dass die FIDH zusammen mit der französischen Menschenrechtsliga LDH und der Nichtregierungsorganisation Survie am 27. Januar 14 eine neue, gemeinsame Strafanzeige wegen Völkermordtaten gegen ihn erstatten (vgl. http://www.fidh.org/fr/). Nun scheint die Nachricht auch stärker in die etablierten Medienapparate hinein durchzudringen: Im Februar 2014 publizierte bspw. das sozialliberale Wochenmagazin Le Nouvel Observateur einen ausführlichen Artikel, in dem es Barril als schwer belastet darstellte (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com; vgl. auch einen Artikel der Boulevardzeitung Le Parisien vom Januar 2014 zum Thema: http://www.leparisien.fr

Nunmehr wäre schwer zu wünschen, dass ernsthafte Ermittlungen in dieser Sache aufgenommen werden, auch wenn es erstmals einen Franzosen wegen seiner aktiven Rolle beim Völkermord in Rwanda trifft

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.