Kommentare zum Zeitgeschehen
Die Ukraine und warum ich „Putinversteher“ bin

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Anton Holberg

04-2015

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onlinezeitung

Eine Reihe von Diskussionen mit Leuten, die gemeinhin keine sich als revolutionär verstehende linke Papier- oder Internetpresse lesen, haben mich veranlasst, mir Gedanken darüber zu machen, wie gerade solche Leute für eine Position in dieser Angelegenheit gewonnen werden könnten, die sich deutlich von der der Mainstream-Medien unterscheidet.

Fast alle von uns, die sich mit der Ukraine und weitgehend auch dem heutigen Russland erst seit der aktuellen Krise, also seit ca. einem Jahr, beschäftigen, müssen zugeben, dass wir, auch wenn wir uns noch so viel Mühe geben und Dieses und Jenes lesen, alleine wegen der im Allgemeinen bestehenden Unfähigkeit, Russisch oder Ukrainisch zu verstehen, und wegen der großen Unwahrscheinlichkeit, wenn überhaupt dann jemals für längere Zeit in dem einen oder anderen Land gelebt zu haben, nur eine oberflächliche Kenntnis des Problems haben können. Damit ähneln wir dem Gros der westlichen Journalisten, jedenfalls soweit man aus ihren Artikeln schließen kann. Wir sind im Einzelnen kaum in der Lage, konkrete Fakten etwa über das Kräfteverhältnis innerhalb der Volksrepubliken von Novorossia (Donbass etc.), die militärische Lage, die Stimmung in unterschiedlichen Regionen der Rest-Ukraine etc. etc. verlässlich zu beurteilen. Auch was wir über Russland, die Herrschaft Putins etc. „wissen“, sollte nur mit großer Vorsicht verkündet werden. Das gilt auch, wenn man durchaus Fakten an der Hand hat, die westlich-imperialistische Propaganda seriös zurückzuweisen. Generelle Kenntnis von i.A. aus dem Marxismus in Verbindung mit historischen Erfahrungen gewonnenen sozialen Gesetzmäßigkeiten ist auch sehr nützlich.

Sollte es nun in der Tat so sein, dass 1. In Putins Russland ein antiliberales oder besser freiheitsfeinliches autoritäres bürgerliches Oligarchen-Regime herrscht, dass 2. nicht nur in der Rest-Ukraine pathologische ukrainische Chauvinisten in der Tradition des exterminatorischen Rassisten Stepan Bandera im taktischen Bündnis mit Teilen der ukrainischen Kompradorbourgeoisie herrschen, sondern auch in Novorossia russische Rechtsextremisten an führender Stelle mitmischen (es wäre in der Tat verwunderlich, wenn das Gros der dortigen bewaffneten Kräfte sich aus „Gutmenschen“ rekrutieren würde, deren Parole „Schwerter zu Pflugscharen“ lautet), dann wäre meine Antwort an die eingangs erwähnten Diskussionspartner (Radikaldemokraten, linke Sozialdemokraten udgl.) diese:

Das “freiheitsfeindliche autoritäre bürgerliche Oligarchen-Regime“ in Russland zu beseitigen, ist in erster Linie Aufgabe der russischen („russisch“ im Sinne der Staatsbürgerschaft der RF, nicht der ethnischen Zugehörigkeit) Arbeiterklasse, die die einzige Klasse im Land ist, die ein objektives Interesse an einer Alternative hat, die besser sein könnte als das aktuelle Regime. Die Ukraine aber ist, da unsere Herrschenden hier unmittelbar intervenieren, sie in die EU und die NATO strebt und unsere “Schutzmacht“ USA sie im Interesse der Niederhaltung der perspektivisch konkurrierenen RF in die NATO bringen möchten, die – ob wir wollen oder nicht – einen großen Teil unserer Lebensverhältnisse mitbestimmen, in viel unmittelbarer Weise „unser“ Problem. Die oppositionelle Bewegung in Novorossia strebt nicht in EU und NATO. Ihrer inneren Verhältnisse sind deshalb nur sekundär unser Problem (sieht man einmal von den Anforderungen eines allgemeinen heute eher unspezifischem „Internationalismus“ ab). Hingegen haben wir ein unmittelbares Interesse daran, dass in Zukunft die Angelenheiten des EU-Europas nicht zusätzlich zu polnischen und baltischen antirussischen Nationalisten auch noch durch ukrainische Vabanquespieler und offene Faschisten innerhalb und außerhalb des „Rechten Sektors“ mitbestimmt werden. Das ist keine Frage der sozialistischen Revolution, sondern eine der Verteidigung der stets von unseren Herrschenden bedrohten Reste bürgerlichen Demokratie und Aufklärung. Die sozialistische Revolution hier oder sonst wo wird nicht real auf der Tagesordnung stehen, wenn diejenigen, die sie anstreben, nicht einmal in der Lage sind, die bürgerliche Demokratie zu verteidigen. Der Sturz des Kiewer Regimes oder zumindest seine Isolierung vom Resteuropa ist dafür unverzichtbar.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Kommentar vom Autor für diese Ausgabe.

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