Vor 70 Jahren: Befreiung vom Hitlerfaschismus
"Wir gingen der Roten Armee entgegen"

Leseauszug aus: Berlin 1945-1986 (Teil 1)

04-2015

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Am Abend des 21. April 1945 flatterte vom Turm der Marzahner Dorfkirche die erste rote Fahne in Berlin. Soldaten der 5. Stoßarmee unter Generaloberst N. E. Bersarin hatten sie gehißt, nachdem sie den Ortsteil nach schweren Kämpfen gestürmt hatten.

Zur selben Stunde standen nördlich davon Truppen der 3. Stoßarmee unter Generaloberst W. I. Kusnezow in den Vororten Buch, Karow, Blankenfelde und Malchow. Gleichzeitig gingen die Verbände der 8. Gardearmee unter General W. I.Tschuikow auf Petershagen und Fredersdorf vor und erreichten die Stadtgrenze bei Mahlsdorf und Schöneiche.

Der Krieg kehrte in die Stadt zurück, von der er seinen Ausgang genommen hatte....

.....Beauftragte des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, die mit dem Fallschirm hinter den deutschen Linien abgesprungen waren, erhielten die Aufgabe, in der Reichshauptstadt wichtige militärische Objekte zu erkunden und Kontakte zur deutschen Widerstandsbewegung herzustellen. Eine Gruppe, darunter der Sozialdemokrat Heinz Nawrot, geriet am 11. April 1945 in Lichtenberg in eine SS-Kontrolle und wurde in einem Feuergefecht am Weißenseer Weg völlig aufgerieben. Paul Lampe und Heinz Müller, Ende Februar 1945 mit einer Einsatzgruppe des Nationalkomitees »Freies Deutschland« illegal nach Berlin gekommen, organisierten im Stadtbezirk Friedrichshain die bewaffnete Kampfgruppe Osthafen, der rund 50 kommunistische und sozialdemokratische Genossen sowie parteilose Antifaschisten angehörten. Von ihrem Stützpunkt in der Stralauer Allee 26 aus unternahmen die Mitglieder dieser Kampfgruppe mutige Aktionen. Sie entwaffneten fanatische Nazis, überredeten deutsche Soldaten und Flakhelfer dazu, die Waffen niederzulegen, sie sprengten faschistische Munitionslager und verhinderten im letzten Augenblick die Zerstörung der großen Lebensmittelmagazine am Osthafen. Bei einer solchen Aktion ließen die Antifaschisten Fritz Fieber und Paul Schiller am 23. April 1945 ihr Leben.

Biesdorf eilte eine Gruppe Kommunisten und Sozialdemo­kraten den Rotarmisten entgegen und rettete den Ortsteil vor der Zerstörung. In Bohnsdorf wies Walter Müller, vor 1933 im Arbeiter-Samariter-Bund tätig, den Sowjettruppen den Weg. In Tegel ging der Kommunist Kurt Behr den Befreiern entgegen. In Köpenick-Nord empfingen am 23. April KPD-Genossen die sowjetischen Einheiten mit weißen und roten Fahnen. In Wei­ßensee stand die Kommunistin Else Jahn als Lotse auf dem er­sten Panzer vom Typ T-34, der sich seinen Weg durch den Stadt­bezirk bahnte; sie wurde von einer SS-Kugel getötet. In
Rahnsdorf verhinderte der Arzt Dr. Stössel durch sein beherztes Eingreifen, daß ein mit Frauen, Kindern und Kranken vollbe­setzter Bunker unter Beschüß genommen wurde. In Friedrichsha­gen ging eine Krankenschwester den sowjetischen Panzern mit einer weißen Fahne entgegen. In den Luftschutzkellern sprachen Kommunisten und andere Antifaschisten den durch die Goeb­bels-Propaganda verängstigten Menschen Mut zu, als die Rote Armee ihre Wohnviertel befreite.

In der Nacht vom 1. zum 2. Mai unternahmen die Faschisten beiderseits der Schönhauser Allee einen verzweifelten Ausbruch­versuch. Eine Gruppe mit Panzern war bereits zwischen S-Bahn­hof und Berliner Straße in schweren Kämpfen aufgerieben wor­den. Da erschien ein sowjetischer Offizier in einem Luftschutz­keller der Stolpischen Straße und fragte, ob jemand bereit wäre, als Parlamentär zu den Faschisten zu gehen, damit weiteres Blut­vergießen verhindert werde. Ohne zu zögern, meldete sich der Kommunist Otto Lempke; mit drei weiteren Männern erreichte er, daß andere ausbrechende Gruppen die Waffen streckten. Durch Mut und Beherztheit gelang es vielerorts, Wohnviertel und Ortsteile kampflos zu übergeben und Menschenleben zu ret­ten.

Besondere Verdienste erwarben sich Berliner Antifaschisten, die unter Einsatz ihres Lebens sinnlose Vernichtungsakte fanati­scher Nazis verhinderten. In Kaulsdorf und Johannisthal bewahr­ten Arbeiter die dortigen Wasserwerke vor der Sprengung durch die SS. An der Langen Brücke in Köpenick durchschnitt der An­tifaschist Karl Henkner die Zündschnüre für die Sprengladun­gen; Gleiches gelang dem Kommunisten Zoeusch im Spreetun­nel von Friedrichshagen. In vielen Betrieben harrten klassenbe­wußte Arbeiter während der Kampfhandlungen aus; sie dämmten Brände ein, verhinderten oft in letzter Minute faschi­stische Zerstörungsakte und bereiteten die Arbeitsaufnahme vor. Oft wurden sie dabei von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Rüstungsbetrieben unterstützt, die seit lan­gem mit deutschen Widerstandsgruppen zusammenarbeiteten.

Dramatisch verlief die Rettung des Kraftwerkes Klingenberg. Einer antifaschistischen Widerstandsgruppe im Betrieb gelang es, Verbindung zu sowjetischen Aufklärern herzustellen und sie davon zu unterrichten, daß die SS die Sprengung der Anlagen plante. Der Kommandeur der 230. Schützendivision, Oberst D. I. Schischkow, erhielt den Befehl, das Kraftwerk nach Mög­lichkeit sofort unbeschädigt einzunehmen. Erbitterter Wider­stand der Faschisten mußte überwunden werden, bevor eine Sturmtruppe zu den Turbinenräumen und zur Schaltzentrale vordringen konnte. Gemeinsam mit deutschen Arbeitern, die ihnen den Weg wiesen, zertrennten die Rotarmisten die Spreng­kabel in letzter Minute. Berlins größtes Kraftwerk war gerettet!

Im Luftschutzkeller der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität in der Hannoverschen Straße hatten Prof. Dr. Johan­nes Dobberstein und andere Mitarbeiter Zuflucht gesucht; sie veranlaßten deutsche Soldaten, die hier kämpfen sollten, zur Ka­pitulation, nahmen Verbindung zur vorrückenden Sowjetarmee auf und retteten damit Menschenleben und wissenschaftliches Material.

Editorische Hinweise

Text und Bildmaterial wurden übernommen aus: Gerhard Keiderling Berlin 1945-1986, Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 7 und 22-24