Qatar: Sklaverei live

von Bernard Schmid

04-2015

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Ein französischer Großkonzern handelt sich eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Zwangsarbeit in dem Golfstaat ein. Und Alles wegen einer beschissenen Fußball-Weltmeisterschaft, die dort stattfinden soll...

Die „moderne“ Sklaverei im Golfstaat Qatar sorgt wieder einmal für Schlagzeilen. Die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in dem dank Öl- und Gasreserven superreichen, monarchisch regierten Land betreffen vor allem migrantische Arbeitskräfte aus südasiatischen Ländern – Pakistan, Indien, Nepal, Sri Lanka – sowie von den südostasiatischen Philippinen. Deren Zahl nimmt zu, seitdem die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 an Qater vergeben worden ist. Jüngstes spektakuläres Beispiel ihrer Behandlung war die Nachricht, dass migrantische Quasi-Sklavenarbeiter dazu gezwungen wurden, in glühender Hitze in dem Wüstenstaat an einem Marathonlauf teilzunehmen, weil dessen Organisatoren beschlossen hatten, den Weltrekord an Teilnehmern aufzustellen. // Vgl. http://www.liberation.fr // Wer sich verweigerte, musste mit Schlägen rechnen.

Aber die Profiteure der faktischen Sklavenarbeit in dem technisch hypermodernen, aber mit einem mittelalterlichen Sozialsystem ausgestatteten Feudalstaat sind nicht nur Golfaraber aus der örtlichen Oberklasse. Viele von ihnen sitzen in Europa, wo die Behandlung der Arbeitskräfte hier ansässiger Unternehmen in Qatar ab und zu für Schlagzeilen sorgt. Beispielsweise in Frankreich, etwa bei dem französischen Großkonzern Vinci (im vergangenen Jahrzehnt aus dem Megakonglomerat Vivendi bzw. dessen Pleite hervorgegangen).

Ende März dieses Jahres erstatteten der französische Gewerkschaftsdachverband Vinci und eine NGO, die gegen internationale Korruption kämpfende Vereinigung „Sherpa“, Strafanzeige // vgl. http://www.bastamag.net // gegen den Konzern. Aufgrund der Arbeitsbedingungen auf den Baustellen von Vinci in Qatar, zur Vorbereitung der Fußball-WM 2022 sehen sie den Tatbestand der Zwangsarbeit als erfüllt an. Der Konzern selbst bestreitet die Vorwürfe. Mittlerweile hat er eingeräumt, dass etwa die Pässe südasiatischer Bauarbeiter in seinen Diensten einbehalten worden sei – behauptet jedoch, dies sei auf angeblich freiwilliger Basis geschehen, um einem Verlust der Ausweisdokumente vorzubeugen. // Vgl. http://www.batirama.com// Vinci kündigte seinerseits eine Strafanzeige gegen seine Kritiker wegen „Verleumdung“ an // vgl. http://www.lefigaro.fr //. Im Namen der französischen Regierung verkündete der Staatssekretär für Außenhandel, der deutsch-französische Doppelstaatsbürger Matthias Fekl, man verteidige die französischen Unternehmen im Ausland // vgl. http://www.lefigaro.fr// - im Namen des 2012 vom amtierenden Außenminister Laurent Fabius entwickelten Konzepts der „Wirtschaftsdiplomatie“ aka Förderung im Land ansässiger Firmen. Deswegen lässt man auf Vinci nichts kommen. Stattdessen wolle man einen „Leitfaden“ für Konzerne betreffend den „Einhalt der Menschenrechte“ verbreiten. Man könnte von einer hübschen Farce sprechen.

Aber was ist in Qatar wirklich los?

Das Land, dessen Einwohnerzahl vor kurzem die Zwei-Millionen-Marke überschritt, weist insbesondere dank seiner Erdgasvorkommen das (neben Luxemburg) höchste Pro-Kopf-Einkommen des Planeten auf // vgl. http://www.wikistrike.com/ // , mit 110.000 Dollar pro Kopf und pro Jahr. Nur ist dieser Reichtum radikal ungleich unverteilt. Zugleich weist Qatar den höchsten „Ausländeranteil“ – um in der Begrifflichkeit der europäischen bürgerlichen Presse zu bleiben – unter seiner Gesamtbevölkerung auf. 225.000 bis 230.000 der Einwohner/innen des halbinselförmigen Landes besitzen die qatarische Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Vorrechte. Doch rund 1,8 Millionen Einwohner/innen des Landes sind ausländische Arbeitskräfte. Diese machten im Herbst 2013 insgesamt 88 Prozent der Wohnbevölkerung und, je nach Angaben, 94 oder 95 Prozent // vgl. http://www.livemint.com/ // der erwerbstätigen Arbeitskräfte in dem Golfstaat (sowie 99 Prozent im Bausektor) aus. Das ist der höchste Anteil der Welt, buchstäblich ein internationaler Rekord.

Aber dabei wird es nicht bleiben: In naher Zukunft dürfte ihre Anzahl noch sprunghaft steigen. Denn seitdem Qatar am 02. Dezember 2010 bei einer Sitzung des internationalen Fußballverbands FIFA in Zürich den Zuschlag erhielt, um die Weltmeisterschaft (WM) im Jahr 2022 auszurichten, hat das Emirat sich in gigantische Bauprogramme gestürzt. Neun Fußballstadien, eine Straßenbahnlinie, eine U-Bahn, ein nagelneuer Flughaften, Hotelbauten und weitere Prestigeobjekte sollen entstehen. Qatar wird dafür voraussichtlich umgerechnet zwischen 100 und 200 Milliarden Euro investieren. Um an den Bauarbeiten teilzunehmen, werden laut den niedrigsten Schätzungen mindestens 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte, laut den höchsten bis zu 1,5 Millionen zusätzlich ins Land gezogen werden.

Ein System der Vormundschaft

Um die Kontrolle über diese erdrückende Mehrheit an migrantischen Arbeitskräften zu bewahren und der verhältnismäßig kleinen „einheimischen“ Bevölkerung gigantische Privilegien zu garantieren, setzt die Golfmonarche Qatar auf das ursprünglich religiös begründete System der kafala: der Vormundschaft für einen „Schutzbefohlenen“ // vgl. http://revolutionarabe.over-blog.com // .

Da das traditionelle muslimische Recht keine Adoption in ähnlichem Sinne wie die meisten europäischen Rechtsordnungen kennt – die Eltern im juristischen Sinne können allein die biologischen Eltern bleiben, ansonsten würde die Situation als Eingriff in die Ordnung der göttlichen Schöpfung gewertet -, bietet es stattdessen einen Mechanismus der Patenschaft an. Eine Schutzperson neben den Eltern, die abwesend oder tot oder schlicht überfordert und zum Unterhalt ihres Kindes nicht in der Lage sein können, kann eine Vormundschaft übernehmen. Oft handelt es sich bei dieser als kafil, in der englischen Schreibweise kafeel, bezeichneten Schutzperson um einen Onkel, eine Tante oder ein sonstiges Familienmitglied eines leiblichen Elternteils. Einen solchen Mechanismus gibt es auch etwa im marokkanischen oder algerischen Recht, wo er weitgehend an die Stelle der (oftmals innerfamiliären) Adoption nach französischem Recht getreten ist. Aber eine spezielle Variante des kafala-Systems wird in den Golfstaaten praktiziert, wo sie als Rechtsbehelf für die Kontrolle von ausländischen Arbeitskräften benutzt wird. Laut einer Umfrage, die im August 2013 publik wurde, sollen angeblich 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung sogar eine Verschärfung dieses Systems befürworten.

Der Mechanismus beruht darauf, dass jede zum Zweck der, vorläufigen oder dauerhaften, Niederlassung in einem der Golfländer einreisende Person einen Schutzpatron (kafil) benötigt, welcher sich theoretisch vor allem für das korrekte moralische Verhalten seiner/s Schutzbefohlenen verbürgt. In der Praxis läuft es darauf hinaus, dass der „Schutzherr“ sofort bei Einreise des Migranten oder der Migrantin dessen oder deren Reisepass und Ausweispapiere konfisziert und einbehält. In Qatar etwa ist dies in 90 Prozent der Fälle die Ausgangssituation. Dies schafft ein intensives persönliches Abhängigkeitsverhältnis, das eher mit den in einem Feudalsystem herrschenden interpersonellen Beziehungen als mit dem „üblichen“ kapitalistischen Grundverhältnis (zwischen einem Kapitaleigentümer und einem „Verkäufer der Ware Arbeitskraft“) verglichen werden kann.

Ohne Einwilligung des kafil kann der oder die „Schutzbefohlene“ weder die Arbeitsstelle wechseln, noch das Land verlassen – im Streitfall oder bei Abbruch der Beziehungen zu dem „Schutzherrn“ drohen Gefängnis und/oder Abschiebehaft. Jedenfalls wenn der „Schutzherr“ dann den Pass nicht wieder herausrückt, was nach qatarischem Recht zwar theoretisch illegal, jedoch gängige Praxis ist. Die Person des kafil kann identisch mit dem Arbeitgeber sein, es kann sich bei ihm aber auch um eine dritte Person handeln, die diese Funktion etwa gewerbsmäßig (und dann oft für eine Vielzahl von Personen) ausübt. Möchte der oder die „zum Schutz Anvertraute“ das Land verlassen, benötigt er oder sie ferner grundsätzlich ein Exit Visum. Dieses aber erhält nicht, wer nicht die Einwilligung des „Schutzherrn“ dafür besitzt. Wer also dessen Gunst verloren hat, bleibt in Qatar festgehalten, droht dort aber in die „Illegalität“ zu verfallen. Zumal das Aufenthaltsrecht grundsätzlich an einen konkreten Arbeitsplatz gekoppelt ist: Wer arbeitslos oder einfach nicht weiterbeschäftigt wird, ist „illegal“. Und droht automatisch hinter Gittern zu landen.

Was die Herkunft der Arbeitskräfte betrifft, gab die britische Tageszeitung The Guardian in ihrer Ausgabe vom 18. Februar 2014 folgende Zahlen // vgl. http://www.theguardian.com/// zur Verteilung der migrantischen Arbeitskräfte aus (allerdings auf Basis einer Schätzung ihrer Gesamtzahl auf 1,2 Millionen, was erheblich untertrieben erscheint): Rund 22 Prozent kommen demnach aus Indien und „ein ähnlich hoher Anteil“ aus Pakistan, 16 Prozent aus Nepal – andere Quellen sprechen von zwanzig Prozent Nepalesen -, 13 Prozent aus dem Iran, 11 Prozent von den Philippinen, acht Prozent aus Ägypten und weitere acht Prozent aus Sri Lanka.

Die Löhne in Qatar betragen für diese Arbeitskräfte rund 250 Dollar pro Monat. Das ist in der Regel erheblich mehr, als diese Menschen in ihrem Herkunftsland verdienen könnten. Allerdings nehmen die Arbeitgeber davon in der Praxis oft unangekündigte Abzüge vor, halsen den Betreffenden den Kauf ihrer Matratzen oder selbst von Trinkwasser (in Flaschen) auf den Baustellen mit eigenem Geld auf oder verringern einfach den vereinbarten Lohn aus eigener Machtvollkommenheit. Zudem müssen die Betreffenden sich oft in Höhe zwischen 1.000 und 10.000 Dollar verschulden, um an einen Arbeitsvertrag in Qatar zu kommen und um ihre Anreise zu organisieren. Dadurch bleiben sie dauerhaft in einer Form von Schuldknechtschaft gefangen.

Ein System in der Kritik

Aufgrund des Scheinwerferlichts, das in der internationalen Öffentlichkeit seit der Vergabe der Fußball-WM 2022 an Qatar – aber auch aufgrund der massiven internationalen Investitionen des Emirats, das u.a. Eigentümer von Luxushotels in Paris und London, des Pariser Fußballclubs PSG, von 6 Prozent des Kapitals der Deutschen Bank und von 15,6 Prozent der Stammaktien des VW-Konzerns wurde – auf das Land fiel, rückten auch die dortigen Arbeitsverhältnisse ein wenig stärker ans Licht. Und so geriet das System der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte in dem Golfstaat vermehrt in die Kritik.

Hinzu kommt, dass nicht nur migrantische Arbeiter mit geringem Ausbildungsstand, schwachen englischen und/oder arabischen Sprachkenntnissen und aus armen Ländern in die Mühlen des qatarischen Ausbeutungssystems gerieten. Denn das kafala-System entfaltet seine hässliche Wirkung auch bei hochqualifizierten internationalen Arbeitskräften und sogar vereinzelt bei selbstständigen Investoren aus „westlichen“ Ländern, die ebenfalls in persönliche Abhängigverhältnisse mit reichen Qataris hineingezwungen wurden. Und so kam die bestehende Ordnung an beiden Enden in die Kritik: sowohl unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkung auf besonders für überintensive Ausbeutung anfällige und besonders schutzlose Arbeitsmigrant/inn/en, als auch unter jenem seiner Auswirkungen für „westliche“ Ausländer mit hohem Bildungsstandard und Lebensniveau.

In den letzten Jahren wurde Qatar vorübergehend zum vermeintlichen Eldorado für junge Franzosen mit arabischsprachigem (maghrebinischem) Migrationshintergrund, allerdings eher männlichen Geschlechts, im Angesicht des ausgesprochen repressiven Umgangs mit Frauen in den Golfstaaten. Viele junge Bankangestellte oder Informatiker mit französisch-nordafrikanischem Doppelhintergrund glaubten, den in Frankreich bestehenden Barrieren aufgrund von Diskriminierung durch Aufnahme einer Berufstätigkeit in diesem arabischen Land entfliehen zu können. Überdies zog Qatar viele Profifußballer oder solche, die es werden wollten, an: Durch den Aufkauf des Pariser Clubs PSG (Paris-Saint Germain) hatte Qatar sich einen Ruf als vermeintliche Sportnation, oder jedenfalls riesige Summen in Sportveranstaltungen investierende Nation erworben. Und ferner wurden in dem Land großzügige Löhne bezahlt.

Aber für einige junge Berufstätige wurde Qatar vor diesem Hintergrund zur Falle. // Vgl. http://www.lemonde.fr // Am prominentesten wurde der Fall des französisch-algerischen Fußballers Zahir Belounis. Der junge Mann im Alter kam im Sommer 2007 als damals 27jähriger nach Qatar und trainierte den Zweitligisten Al Jaish Sport Club, der – wie sein Name andeutet, al-dschaisch bedeutet auf Arabisch „die Armee“– aus Fußball spielenden Militärs besteht. Belounis wurde sogar vorübergehend eingebürgert, um mit seinem Team 2010 als Nationalspieler und Mannschaftskapitän bei der Weltmeisterschaft der Soldatenclubs in Brasilien antreten zu können. (Erwerb der Staatsbürgerschaft auf Zeit, bei späterem Entzug, auch dies eine spezielle qatarische Erfindung...) Doch seine Sorgen begannen, als sein Club im Jahr 2011 drei neue ausländische Spieler rekrutierte: Belounis war plötzlich nicht mehr wichtig, und wurde fallengelassen wie gebrauchtes Handtuch. Ab März 2012 wurde sein Lohn nicht mehr bezahlt. Ursprünglich war Belounis’ Reisepass nicht konfisziert worden war, wie für viele andere abhängig Beschäftigte in Qatar – doch er wurde ihm nachträglich unter dem Vorwand, eine Fotokopie anfertigen zu müssen, nachträglich abgenommen und einbehalten. Im Februar 2013 erhob Zahir Belounis daraufhin Klage. Doch man bedeutete ihm, dies hätte er besser nicht getan – und forderte ihn ultimativ dazu auf, seine Klage zurückzuziehen, widrigenfalls er in Qatar festsitze und nicht ausreisen dürfe.

Belounis gab nicht klein bei und aktivierte die französischen Behörden. Er traf sogar Frankreichs Präsidenten François Hollande, anlässlich von dessen Aufenthalt zum Staatsbesuch in Qatar am 22. und 23. Juni 2013. Die französische Botschaft versprach, sich aktiv für ihn einzusetzen, und eine Lösung stehe kurz bevor. Danach passierte erst einmal Monate hindurch gar nichts. Im Oktober 2013 wurde ihm „eine Ausreise bis zum Ende des Monats“ versprochen. Belounis verkaufte daraufhin seine Möbel. Aber nachdem er auch dann immer noch nicht ausreisen konnte, musste er mit seiner Frau und den beiden in Qatar geborenen, kleinen Töchtern in einer leer geräumten Wohnung auf dem Boden schlafen. Er machte weiterhin auf sein Schicksal aufmerksam und schrieb u.a. an den früheren französischen Nationalmannschaftskapitän Zinedine Zidane. Ferner setzte sich die internationale Profifußballer-Gewerkschaft FIFPro für ihn. Am 27. November 2013 verkündete die französische Botschaft in der qatarischen Hauptstadt Doha dann endlich, Belounis habe seine Ausreisevisum, sein Exit Visa erhalten. Der französische Botschafter Jean-Christophe Peaucelle glaubte, daraufhin öffentlich „den qatarischen Behörden Dankbarkeit für ihre Kooperation“ bekunden zu müssen. Am Abend des 28. November traf Belounis mit einem Flug von Qatari Airways am Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle ein. Es ist unklar, was aus seinen Lohnforderungen wurde.

Schon vor Zahir Belounis hatte andere Landsleute und/oder Kollegen ein ähnliches „Schicksal“ in dem Golfstaat getroffen. Der marokkanische Fußballer Abdelslam Ouaddou, welcher in der Vergangenheit bei französischen Clubs (Nancy, Rennes) gespielt hatte, war ebenfalls von seinem qatarischen Verein „ausgelutscht und weggeworfen“ worden. Als man ihn nicht länger haben wollten, zwang man ihn, zur heißesten Tageszeit bei Temperaturen von über 40 Grad zu trainieren. Ouaddou hatte seine Angelegenheit vor den Internationalen Gewerkschaftsbund IGB getragen; sein Dossier soll vor dem Internationalen Fußballverband FIFA verhandelt werden, doch von qatarischer Seite wurde ihm bedeutet, man verfüge dort über einen langen Arm und bis zu einer Verhandlung könne es noch Jahre dauern.

Die hier genannten Ausländer mit „westlichem“ Hintergrund waren nicht isoliert und ohne internationale Unterstützung. Nun muss man sich vergegenwärtigen, wie radikal unterschiedlich die Ausgangssituation für solche Personen ausfällt, die weder auf das Interesse internationaler Medien bauen können noch über eine Unterstützung „ihrer“ Regierungen im Herkunftsland, geschweige denn über internationale Kontakte verfügen.

Am entgegen gesetzten Ende der Skala, an deren oberem Ende die „Fälle“ der erwähnten „westlichen“ Geschäftsleute oder Fußballprofis angesiedelt sind, stehen die meist weiblichen und (süd- oder südost-)asiatischen Hausangestellten, deren Arbeitsverhältnisse zu den schlimmsten in den Golfstaaten zählen. Ihre Zahl in Qatar wird, je nach Quelle, auf 84.000 bis zu 132.000 geschätzt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international publizierte // vgl. http://www.amnesty.fr/// am 23. April 2014 einen Untersuchungsbericht zu ihrer Situation unter dem Titel My sleep is my break. Im qatarischen Recht ist keinerlei Beschränkung ihrer Arbeitsstunden vorgesehen, ebenso wenig wie eine zwingende Vorschrift, ihnen arbeitsfreie Tage zu gewähren. Viele weibliche Hausangestellte sind zudem Gewalttätigkeiten und sexuellen Übergriffen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt. Da es keinerlei Beschwerdeinstanzen gibt (wie sie für Bau- und Industriearbeiter zumindest vorgesehen sind), bleibt als Aushilfe oft nur die Flucht. Ohne Pass, den meist die Arbeitgeber einbehalten haben, und/oder ohne Exit Visum ist jedoch jegliche legale Ausreise unmöglich. 95 Prozent der weiblichen Insassinnen im Abschiebezentrum von Doha sind ehemalige Hausangestellte. Aber auch 70 Prozent der Häftlinge im Frauengefängnis von Qatar sind frühere Hausangestellte, die meist wegen „illegaler sexueller Beziehungen“ verfolgt wurden – in den Golfstaaten ein übliches Verfahren im Umgang mit Vergewaltigungsopfern.

Bauboom und Quasi-Sklavenarbeit

Zwischen den beiden Extremsituationen – der der relativ hoch qualifizierten und „westlichen“ Ausländern, und jener der weitestgehend ungeschützten Hausangestellten – stehen die Hunderttausenden von meist männlichen Bau- und Fertigungsarbeitern, die Qatar bereits angeworben hat oder noch in naher Zukunft für die Vorbereitung der Fußball-WM von 2022 anwerben wird.

Laut einem Rapport vom Juli 2012 waren damals 506.000 migrantische Arbeiter in Qatar im Bausektor beschäftigt. Ihre Arbeitszeiten betragen mitunter bis zu sechzehn, ja achtzehn Stunden pro Tag, und zwischen acht und zwölf Stunden in den Hitzemonaten. Die theoretisch vom Gesetz zwingend vorgeschriebene Pause zwischen 11.30 Uhr und 15 Uhr während der Sommermonate, in denen eine glühende Hitze zwischen 40° und 50° C herrscht, wird meist nicht respektiert. Jegliche kollektive Organisierung ist ihnen verboten: Gewerkschaften in Qatar sind im Prinzip zugelassen – und an die General Union of Workers of Qatar angegliedert -, aber ausschließlich für qatarische Staatsburger und nur in Betrieben, die mindestens 100 Qataris beschäftigen. Ansonsten ist für ausländische Arbeiter, wie oben erwähnt, grundsätzlich die Aufenthaltserlaubnis an den konkreten Arbeitsplatz geknüpft. Rund 40 Prozent der Beschäftigten in der Bauindustrie sind Nepalesen, die (je nach Angaben) 20 bis 22 Prozent der Migrationsbevölkerung in Qatar insgesamt ausmachen, aber besonders stark in diesem Sektor konzentriert sind.

Am 26. September 2013 berichtete die britische Tageszeitung The Guardian // vgl. http://www.theguardian.com/ // , allein zwischen dem 04. Juni und dem 08. August desselben Jahres seien mindestens 44 nepalesische Arbeiter in Qatar zu Tode gekommen. Die Todesursache sei nicht immer ganz einfach zu bestimmen, da nicht alle Arbeitsmigranten auf den Baustellen starben, sondern manche auch im Zustand der Totalerschöpfung in ihrem Bett – zwischen 50 und 60 Prozent der Todesfälle gehen auf Herzversagen zurück, rund 15 Prozent direkt auf Arbeitsunfälle. Aber die Zeitung rückt die Todesfälle infolge von Kreislaufversagen oder Herzstillstand (die meist junge Leute betreffen, die Hälfte der Opfer sind zwischen 25 und 35 Jahre alt) in Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen: Manchen Arbeitern werde vierundzwanzig Stunden lang der Zugang zu Wasser oder zu Lebensmitteln vorenthalten // vgl. http://www.rfi.fr//. Die qatarischen Behörden führen keinerlei Statistik über Arbeitssicherheit, -unfälle, damit zusammenhängende Todesfälle oder über Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
 

Die Zeitung zitiert die damalige nepalesische Botschafterin in Qatars Hauptstadt Doha, Dr. Maya Kumari Sharma, mit den – sechs Monate zuvor von ihr ausgesprochenen – Worten, Qatar sei für ihre Landsleute „ein Gefängnis unter freiem Himmel“ // vgl. http://www.lemonde.fr/// . Zudem berichtet The Guardian, bis zu dreißig Nepalesen, die aus ihren Arbeitsverhältnissen geflohen seien, aber über keine legale Ausreisemöglichkeit verfügten, hätten Zuflucht in der Botschaft gefunden. Die Reaktion folgt prompt auf dem Fuße: Noch am Erscheinungstag des Artikels, am 26. September 2013, wird die Botschafter durch die Regierung in Katmandu abberufen // vgl. http://www.reuters.com/ //, wegen „undiplomatischen Verhaltens“ und Gefährdung der Beziehungen ihres Landes zu dem Golfstaat. In der Folgezeit wird Nepal dort nicht mehr durch eine/n Botschafter/in vertreten, da die Amtsinhaberin nicht ersetzt, sondern lediglich durch einen Geschäftsträger in Gestalt von Ganesh Dhakal ausgetauscht wird.

Die Enthüllungen zwingen auch internationale Instanzen, zu reagieren. Zwar erklärt die FIFA bei der Tagung ihrer Exekutive am 02. und 03. Oktober 2013 in Zürich, sie sei nicht rechtlich für die Arbeitsverhältnisse – etwa beim Stadienbau in einem Ausrichterland für eine künftige WM – verantwortlich, und könne sich nicht in das Arbeitsrecht eines Veranstalterlands einmischen. Dennoch erklärt FIFA-Chef Sepp Blatter, die Vorwürfe nicht ignorieren zu können, und er werde sie bei den qatarischen Behörden ansprechen. Dies tut er dann auch, in Form eines Höflichkeitsbesuchs beim Emir von Qatar am 09. November 2013, in dessen Vorfeld er erklärt: „Wir müssen auch danach streben, die andere Version (Anm.: anstatt der Vorwürfe) anzuhören.“ Ansonsten bleibt er bei der Position: „Wir wollten Qatar, und wir ziehen das durch!“
 

Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) entsendet zum 07. Oktober 2013 eine Untersuchungsdelegation in den Golfstaat //vgl. http://www.lemonde.fr///. Diese wird am 09. Oktober jedoch daran gehindert, eine Baustelle des Unternehmens QDVC zu besuchen, das auf einem Joint-Venture zwischen dem französischen Konzern Vinci und dem qatarischen Investmentfonds Diyar beruht. Daraufhin verzichtet die Delegation darauf, eine Vorzeigebaustelle in Lusail City, einem neu entstehenden Vorort von Doha, zu besuchen // vgl. http://www.lemonde.fr///. Der Mitreisende Ampet Yuson erklärt: „Man möchte uns nur das zeigen, was am besten aussieht.“ Statt sich auf die offiziellen Besuchsvorschläge einzulassen, demonstriert die Gewerkschafterdelegation vor dem Sitz des Komitees, das für die Vorbereitung der WM 2022 in Qatar zuständig ist, unter dem Slogan: „FIFA, rote Karte!“ In Deutschland fordern Ende Oktober 2013 der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Deutsche Fußballbund (DFB), vertreten durch ihre Chefs Michael Sommer und Wolfgang Niersbach, eine drastische Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Qatar / /vgl. http://www.zeit.de/// oder widrigenfalls eine Neuvergabe der WM für 2022. Der Golfstaat habe innerhalb von „maximal sechs Wochen“ eine Bilanz vorzulegen.

Am 10. November fordert der Sonderberichterstatter der UN für Migrantenrechte, François Crépeau, die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Qatar, die tatsächliche Anwendung theoretisch geltender Normen (etwa mit obligatorischen Pausen und der Garantie eines Mindestwohnraums) und die Abschaffung des kafala-Systems. Am 17. November publiziert Amnesty international auf einer Pressekonferenz in Doha einen Untersuchungsbericht unter dem Titel The dark side of migration // vgl. https://www.amnesty.org/fr //. Die Organisation gibt Beispiele // vgl. http://www.lorientlejour.com // über seit Monaten ausstehende Löhne und buchstäblich von Hunger bedrohte, weil ohne Bezahlung bleibende Arbeiter – wie jene 80 Lohnabhängigen (überwiegend aus Nepal sowie aus Sri Lanka, Bangladesh, China, von den Philippinen und aus Nigeria), die das 38. und 39. Stockwerk des Hochhauses Al Bidda Tower fertig gestellt hatten, in dem die qatarischen Fußballverbände ihren Sitz haben werden. Ihr Arbeitgeber, die Firma LTC (Lee tarding and Contracting), schuldet ihnen insgesamt 300.000 Euro unbezahlter Löhne. Theoretisch können sie ein Gericht anrufen – doch in der Praxis forderte dieses von jedem von ihnen zuerst 165 Dollar an „Expertisekosten“, welche sie schlichtweg nicht aufbringen können.

Am 21. November 2013 verabschiedet das Europaparlament eine Resolution // vgl. http://www.metiseurope.eu // , die ihrerseits Qatar dringend zu Verbesserungen der Arbeitsbedingungen aufruft. Und am 30. Januar 2014 fordert nunmehr die FIFA // vgl.  http://www.lefigaro.fr// selbst ultimativ konkret nachweisbare Verbesserungen von dem Golfstaat – bis spätestens zum 12. Februar des Jahres. Damit versucht die internationale Fußballvereinigung, der nächsten Anhörung im Europaparlament am 13. Februar zuvorzukommen, und dort „greifbare Ergebnisse“ präsentieren zu können. Kurz darauf publiziert The Guardian // vgl. http://www.theguardian.com // in London am 18. Februar 2014 neue Zahlen. Demnach starben im Jahr 2012 in Qatar 237 indische Arbeiter und weitere 241 im Jahr 2013 // vgl. http://www.handelsblatt.com // , sowie in beiden Jahren zusammengenommen mindestens 382 Nepalesen. Allerdings reagiert die indische Botschaft in Doha, indem sie selbst die Zahlen herunterspielt: Bei angeblich 500.000 in Qatar lebenden Indern (die Realität dürfte eher bei 400.000 liegen) sei dies eine normale Sterblichkeitsrate, die gemessen an der Bevölkerungsstärke zu erwarten sei. Ein Argument, das deswegen nicht ziehen kann, weil die nach Qatar gezogenen Inder überwiegend jung, männlich und „arbeitsfähig“ sind und deswegen keinesfalls einen Querschnitt der Gesamtbevölkerung widerspiegeln können.

Am 25. März 2014 wird daraufhin ein Rapport des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) publik. Er spricht von „bereits 1.400 Toten“ // vgl. http://canempechepasnicolas.over-blog.com

// im Zusammenhang mit der Ausrichtung der künftigen WM in Qatar – laut Angaben des IGB müssten „noch mindestens weitere 4.000 sterben“, bis die Weltmeisterschaft stattfinden könnte. Im Vergleich dazu, die WM in Brasilien im Juni/Juli 2014 forderte acht bekannte Todesopfern unter den Arbeitskräften, jene in Südafrika 2010 mindestens zwei.

Zudem zitiert der Bericht eine Zahl der qatarischen Gewerbeaufsicht – die mit insgesamt 150 Beamten zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen bestenfalls überfordert ist, auch wenn ihre Zahl Anfang 2014 in Reaktion auf die Kritik um fünfzig erhöht wurde -, demzufolge 34 Prozent der migrantischen Arbeiter seit Monaten keinen (!) Lohn erhalten hätten.

Reformen“

Wie reagiert nun die qatarische Seite auf diese wachsende internationale Kritik, aus der auf die Dauer doch ein reales Legitimationsprojekt für ihre Rolle als internationaler Veranstalter erwächst?

Zunächst bezeichnen die Behörden in einer erste Reaktion, am 30. September 2013, die Vorwürfe als „übertrieben“ – aber sie enthielten einen wahren Kern, zu dem Untersuchungen angeordnet würden. Es gebe Probleme, aber „keine Zwangsarbeit oder Sklaverei“ in Qatar. Mit dieser Antwort wurde ein Qatar national human rights committee beauftragt – eine ziemlich perverse Einrichtung, die dem Innenministerium untersteht und an die Arbeitsmigranten sich angeblich mit Beschwerden wenden können, was jedoch hauptsächlich zur Folge hat, dass „auffällig gewordene Elemente“ und „Unruhestifter“ registriert werden. Anfang Oktober 2013 beauftragt die Golfmonarchie offiziell die internationale Wirtschafts-Anwaltskanzlei DLA Piper mit der Erstellung eines Untersuchungsberichts // vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article4735 //. Dafür bräuchten die Offiziellen allerdings kein teures Geld auszugeben, es würde ihnen vielmehr genügen, in die Containervorstädte südlich und östlich von Doha – ohne nächtliche Beleuchtung, ohne Bürgersteige, ohne Grünflächen und oft ohne Klimaanlagen – zu fahren, in welchen die Arbeitsmigranten zusammengepfercht werden.

Auf der Grundlage dieses Berichts, sowie unter erheblichem internationalem Druck verkünden die qatarischen Behörden notgedrungen einige „Reformen“. Am 11. Februar 2014 // vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article6213 // – also am Vorabend des Ablaufs der durch die FIFA gesetzten Frist, und zwei Tage vor einer geplanten Anhörung im Europaparlament – verkünden sie eine „Charta“ zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Demnach sollen die Löhne auf ein zentralisiertes Bankkonto überwiesen werden, um ihre tatsächliche Auszahlung zu überprüfen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) soll die Einhaltung international gültiger arbeitsrechtlicher Konventionen überprüfen, und es sollen „zentrale“ Normen zur Unterbringung und zu den Wohnraumverhältnissen eingeführt werden. Der Internationale Gewerkschaftsbund IGB bezeichnet diese Charta jedoch als „eine Schande“. Erstens gelte sie überhaupt nur für formal direkt mit der Fußball-WM zusammenhängende Vorhaben, also für den Stadienbau, aber weder für den Bau von Verkehrs- und Infrastrukturprojekten rund um die WM noch für Hotelbauten. Zweitens gebe es keinerlei Anleitung für die Umsetzung der, als solche eine unverbindliche Absichtserklärung darstellenden, „Charta“ in zwingendes gesetzliches Recht. Und zum Dritten sei in keinem Wort die Rede von der Abschaffung des kafala-Systems.

Am 14. Mai 2014 kündigt die Golfmonarchie erneut „tiefgreifende Reformen“ an // vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article6993 //. Dieses Mal kommt erstmals auch die kafala auf den Prüfstand: Sie soll in ihrer bisherigen Form abgeschafft werden // vgl. http://www.lemonde.fr/ // , stattdessen sollen spezielle Anwerbeverträge mit Arbeitsmigranten abgeschlossen werden. Und das Innenministerium soll die Rolle übernehmen, die Exit Visa für die Betreffenden auszustellen – diese werden also nicht etwa abgeschafft und durch eine Ausreisefreiheit ersetzt, sondern es wird lediglich die Zuständigkeit in einem neuen zentralisierten Verfahren beim Innenministerium zusammengeführt. Ferner sollen Arbeitgeber, die die Pässe ausländischer Arbeitskräfte einbehalten (was schon bislang theoretisch illegal ist, doch in 90 Prozent der Fälle praktiziert wird) künftig zu einer fünf mal höheren Geldstrafe als bis jetzt verurteilt werden können. IGB-Generalsekretärin Shanan Burrow reagiert mit äußerster Skepsis auf diese Ankündigungen. Zum Ersten gebe es keinerlei konkreten Zeitplan für ihre Umsetzung, während diese den offiziellen Ankündigungen zufolge erst erfolgen könne, wenn sowohl die Schura (ein entfernt parlamentsähnliches Konsultativorgan, das den Monarchen berät) als auch die Handelskammer zugestimmt hätten. Zum Zweiten werde die Erfordernis eines Exit Visa nicht abgeschafft, während genau dies dringlichst erforderlich wäre. Und zum Dritten wird migrantischen Arbeitskräften weiterhin keinerlei Recht auf gewerkschaftliche oder sonstige kollektive Organisierung zuerkannt.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.