Dieser Teil I wird eher auf
die „tunesischen“ Aspekte des rund rund um das
Weltsozialforum(s) 2015 eingehen, das vom 24. bis 28. März d.J.
in Tunis stattfand. In Teil II – welcher demnächst an dieser
Stelle erscheinen wird – wird dann näher auf einzelne Debatten
und Workshops beim WSF eingegangen.
Es wird Alles verziehen. Auch dies:
Auf ihren Flügen in der letzten Märzwoche dieses Jahres servierte
die tunesische Fluggesellschaft TunisAir, die normalerweise eher
korrektes Essen an Bord bietet, nur unverdauliche Sandwichs. Diese
wurden aus Kartons serviert und schmeckten auch nach Karton. Davon
betroffen waren auch jene der - je nach Angaben - zwischen 20.000
und 60.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Weltsozialforum (WSF),
die mit TunisAir anreisten. Eine Mehrheit von ihnen brauchte dies
allerdings nicht zu tun. Denn wenn auch die weltweite Beteiligung
insgesamt rückläufig auslief, so hatte doch die tunesische Teilnahme
gegenüber dem ebenfalls in Tunis abgehaltenen WSF vom März 2013
zugenommen. Aus fast allen Bevölkerungsschichten, auch wenn die
studentische Komponente besonders stark vertreten war.
Was auf den ersten
Blick wie eine faktische Schikane für die anreisenden
Ausländer/innen wirkte, fand jedoch alsbald eine freundlichere
Erklärung. Denn das Catering am Flughafen von Tunis wird seit
längerem bestreikt. Dies erfuhr man zwar nicht von der
Luftfahrtgesellschaft, wohl aber von den beim WSF zahlreich
anwesenden Vertretern des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands
UGTT. Die Union générale tunisienne du travail, die
zwischen 500.000 und eine Million Mitglieder in dem alles in allem
elf Millionen Einwohner/innen zählenden Land aufweist, zählt zu den
mit Abstand stärksten Gewerkschaftsverbänden in Afrika und im
arabischsprachigen Raum. Und der Arbeitskampf im Flughafenbereich
ist nur einer von zahllosen Arbeitskonflikten, die in jüngster Zeit
in Tunesien stattfinden. So wurde im Dezember 14 unter anderem an
Schulen und Hochschulen gestreikt. Im Januar 15 wurde ein
Streikaufruf für Kliniken und Bluttransfusionszentren nach einer
Einigung zurückgezogen, doch die Finanzämter streikten. Im Februar
15 waren es etwa die Berufsschulen in Sousse, die Post und eine Coca
Cola-Fabrik in Sfax. Im März 15 folgten die tunesische Telekom, und
am 15. April 15 steht ein Streik des Lehrpersonals an Grundschulen
auf dem Programm – eine Einigung scheiterte bislang.
Dies ist nur eine der Facetten einer
Gesellschaft, die in Bewegung bleibt. Auch dann, wenn die seit dem
06. Februar dieses Jahres amtierende Regierung unter Habib Essid,
eine Art Große
Koalition unter Einschluss der bürgerlich und im Wahlkampf
anti-islamisch auftretenden Partei Nidaa Tounès (Appell Tunesiens)
sowie der stärksten islamistischen Formation En-Nahdha
(Wiedergeburt), den gegenteiligen Eindruck erweckt. Die Partei Nidaa
Tounès, die ein Sammelbecken darstellt und manche Gewerkschafter
ebenso wie Liberale, Nationalisten und beruflich recyceltes Personal
der alten Diktatur aus den Jahren von vor 2011 umfasst, wird derzeit
von heftigen inneren Streitigkeiten durchzogen. Bisweilen scheint
sie am Rand der Spaltung zu stehen. Und obwohl die Regierungsbildung
in großkoalitonärer
Logik den Anschein lähmender innenpolitischer Stabilisierungs- und
Restaurationstendenzen erweckt, so kommt doch die Gesellschaft nicht
so schnell zur Ruhe.
Forum zur „Verteidigung der
Minderheiten“
Einen Eindruck davon erweckt auch eine
der Abschlussveranstaltungen, mit denen das WSF am frühen Samstag
Nachmittag. In einem für den massiven Andrang schnell viel zu klein
werdenden Hochschulraum präsentierte die „Tunesische Vereinigung für
die Unterstützung der Minderheiten“ (ATSM), die seit 2011 tätig ist,
ihre Aktivitäten. Kampf gegen Homophobie, gegen Judenfeindlichkeit,
gegen die Diskriminierung der im Süden Tunesiens wohnenden schwarzen
Minderheit; in jüngerer Zeit auch gegen Gewalttaten, die sich gegen
zum Christentum konvertierte Tunesier sowie gegen Bahai richten –
alles kam in einer konstruktiven Atmosphäre zur Sprache. Unter
Teilnahme auch der „Vereinigung jüdischer Studenten in Frankreich“
(UEJF) wurden die diversen Diskriminierungs- und Gewaltphänomene,
die insbesondere von Salafisten ausgehen, aber mitunter auch von
Teilen der „Normalbevölkerung“ mitgetragen werden, thematisiert.
Amina von der ATSM unterstrich in
ihrer Kritik auch Widersprüche in der Anfang 2014 verabschiedeten
tunesischen Verfassung. Diese ist in ihrer Essenz weitgehend
demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichtet, betont in vielen
Passagen die Rechtsgleichheit von Frauen und Männern - und dass auch
En-Nahdha durch gesellschaftlichen Druck zur Zustimmung gezwungen
war, kann als Fortschritt gewertet werden. Träume in Teilen der
Parteibasis von einer Orientierung an der Scharia waren damit
erledigt. Dennoch tauchen auch Widersprüche auf. Artikel 6 der
Verfassung garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, die auch
Nichtreligiösen zugute kommen muss. Aber Artikel 74 schreibt vor,
dass muslimischer Religion sein muss, wer zur Präsidentschaft
kandidieren will. „Eine indirekte Art und Weise, die tunesische
Staatsbürgerschaft zu definieren“, moniert Amina. Ebenso wird das
„muslimisch-arabische Erbe“ Tunesiens betont, zwar „unter Öffnung
für fremde Sprachen und Kulturen“. Doch aus Sicht von Amina ist
diese Präzisierung schlimmer, als wenn kein Zusatz erfolgt wäre,
weil etwa die oft diskriminierte Berberkultur im Land eben nicht
„fremd“ ist und unerwähnt bleibt.
Viel wird in näherer Zukunft von der
Auslegung des juristischen Texts, der in einigen Stellen sehr
interpretierbar bleibt, abhängen. Auch lehnte eine Mehrheit der
Abgeordneten es ab, neben dem Bezug auf arabische kulturelle
Ursprünge auch den auf eine „mediterrane Identität“ in den
Verfassungstext aufzunehmen. Dazu meinten Amina und andere
Debattenteilnehmer, es seien gar nicht so sehr die Islamisten von
En-Nahdha gewesen, die sich dem gegenüber dogmatisch versperrten,
sondern die säkularen Nationalisten, denen dieser Mittelmeer-Bezug
im Ansatz zu mulitkulturell gewesen sei.
Erstmals traten auch die tunesischen
Homosexuellenvereinigungen anlässlich des Weltsozialforums explizit
an die Öffentlichkeit. Am Mittwoch, den 25. März 15 hielten sie eine
eigene Demonstration im Rahmen des WSF ab, die auch durch die Medien
Tunesiens aufgegriffen wurde. Und am Donnerstag waren sie bei einer
durch „FRIDA, the young feminist fund“ organisierten Debatte über
Feminismus in Nordafrika und im Nahen Ost massiv präsent, die
Debatte drehte sich letztendlich vor allem um die Rechte
gleichgeschlechtlicher Paare. Zwar wird Homosexualität seit 1990 in
Tunesien offiziell nicht mehr als „Krankheit“ definiert, und in den
2000er Jahren wurden auch die Lehrbücher diesbezüglich
umgeschrieben, berichtete ein tunesischer Masterstudent der
Psychologie. Doch der in der französischen Kolonialzeit eingeführte
Paragraph 230 des Strafgesetzbuches, der sittenwidriges Verhalten
unter Strafe stellt und gegen Sodomie angewandt wird, richtet sich
zwar theoretisch gegen alle sexuellen Orientierungen - aber in der
Praxis gegen Homosexuelle. Seine praktische Anwendung bleibt selten,
unterhält jedoch ein Klima der Diskriminierung. Eine Studie der
„Gesellschaft zur Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten“ habe
ergeben, dass 13 Prozent der tunesischen Bevölkerung homosexuell
seien. „Es ist an der Zeit, dass wir an die Öffentlichkeit treten“,
meinte der Psychologiestudent unter Applaus. Der Aktivist Hamza
vertrat die marokkanischen Homosexuellenvereinigungen, in deren Land
homosexuelle Handlungen theoretisch mit Haft zwischen sechs Monaten
und drei Jahren belegt werden können.
Die „Vereinigung für die Rechte
unverheirateter Mütter“ aus Tunesien, die algerische AIDS-Hilfe und
andere – zahllose Kräfte aus der so genannten Zivilgesellschaft
waren auf diesem Forum präsent, die noch vor wenigen Jahren nicht
deutlich an die Öffentlichkeit getreten wären. Unvermittelt stand
ihre Präsenz oft in räumlicher Nachbarschaft mit jener von völlig
anderen Kräften. Etwa mit der Anwesenheit einer kleinen, aber
lautstarken Gruppe von iranischen Regimeanhängern oder –agenten.
Letztere traten in diesem Jahr diskreter auf als noch auf dem WSF
von 2013, aber mit einer ähnlichen Strategie: Anfänglich gaben sie
sich nicht offen zu erkennen, im Laufe der Tage zeigten sie jedoch
immer frecher und unverhohlener Präsenz. Am ersten Tag sah man nur
Fotos von mehr oder weniger verheerenden Auswirkungen israelischer
Militäraktionen im Gazastreifen, doch am dritten Tag die iranische
Flagge und ein Plakat, auf dem die Reichweite iranischer Raketen
gepriesen wird. Hingegen mischten tunesische Islamisten wesentlich
weniger auf dem und rund um das Forum mit als noch 2013, als das
damalige WSF in die Zeit ihrer Regierungsführerschaft fiel. Heute
regieren sie nur noch als kleinere Partner der stärkeren
Säkularisten von Nidaa Tounès mit.
Jihadismus & restaurative Tendenzen
Negative Auswirkungen befürchten viele Anwesende
jedoch auch von den politischen Maßnahmen,
die unter Berufung auf den jihadistischen Mordanschlag im
Bardo-Museum vom 18. März 15 eingeführt oder gefordert werden. Denn
ein Teil der politischen Elite, mit Unterstützung auch aus Segmenten
der tunesischen Gesellschaft, nutzt die Gunst der Stunde, um
errungene Freiheitsrechte wieder kassieren zu wollen. Menschenrechte
gälten „nicht für Terroristen“, skandierte etwa ein
Nidaa Tounès-Abgeordneter. Eine Ingenieurin, die auf der von
Zehntausenden Menschen besuchten Kundgebung am Sonntag, den 29. März
15 gegen den jihadistischen Terror teilnahm und durch mehrere
französische Medien zitiert wurde, rief ihrerseits aus: „Sie
verdienen den Tod, das sind keine Menschen, das sind Tiere.“ Die
Motive und Ausdrucksformen der Teilnehmer waren jedoch
unterschiedlich. Andere Menschen auf der Kundgebung bekundeten etwa,
sie seien gerade gekommen, um zu bekunden, dass die Tunesier eine
friedliebende Bevölkerung seien und Gewalt verabscheuten.
Viele verbanden ihre Präsenz auch mit
ökonomischen Beweggründen und erklärten, ein Einbruch des Tourismus
drohe ihr Land zu ruinieren. Ein Berufsverband von
Fremdenführer/inne/n hatte eine große
Mobilisierung mit eigenen Bussen und Plakaten organisiert.
Tatsächlich vermeldete die französische Presseagentur AFP am Montag
dieser Woche, die Buchungen für den Fremdenverkehr in Tunesien seien
seit dem Attentat um 60 Prozent zurückgegangen. Präsident Béji Caïd
Essebsi („BCE“) sucht unterdessen ökonomische Abhilfe in den
Golfstaaten. Wie die tunesische Zeitung La Presse
berichtet, bemühte er sich am Rande des Gipfels der Arabischen Liga
im ägyptische Seebad Scharm el-Scheikh besonders darum,
Investitionen aus den Golfmonarchien anzuziehen, und bezeichnete
dabei solche Versuche zum Ankurbeln der Wirtschaft explizit als
Mittel gegen den Terrorismus. La Presse berichtet
ausführlich über Unterredungen des Präsidenten mit dem Emir von
Kuwait und dem König von Bahrain.
Der Innenminister der neuen
tunesischen Regierung, der 54jährige Najib Gharsalli, war unter dem
alten Regime über zehn Jahre lang Vorsitzender Richter in Kasserine,
seit 2000. In dieser Stadt in Westtunesien starben in den letzten
vierzehn Tagen der Ben Ali-Diktatur besonders viele Menschen durch
Schusswaffeneinsätze der staatliche Sicherheitskräfte. Gharsalli,
dessen Staatssekretär für Innere Sicherheit Rafik Chelly seinerseits
Sicherheitschef von Ben Alis Vorgänger Habib Bourguiba – Präsident
von 1956 bis 1987 – war, verkörpert in Vieler Augen eine besonders
starke Kontinuität zum Ancien Régime. Seit dem Amtsantritt von
Gharsalli und Chelly wurde viel Personal im Funktionärsapparat der
tunesischen Polizei ausgetauscht. Und dies nicht allein, um die
„Parallelpolizei“ im Innenministerium zurückzudrängen, die En-Nahdha
in der Zeit ihrer Regierungsführerschaft am Gesetz vorbei aufbaute.
Mostapha Tlili, der aus Tunesien
stammende Exekutivsekretär des in Brüssel ansässigen Internationalen
Gewerkschaftsbunds (IGB) für die arabischsprachigen Länder, machte
beim Gewerkschaftertreffen am letzten Tag des WSF (Samstag, den 28.
März d.J.) seinen Befürchtungen Luft. Die Gelegenheit erscheine
vielen Kräften gar zu günstig, „individuelle und kollektive Rechte
wieder zu kassieren“ und etwa Streiks in Zeiten des Notstands nur
noch als unnütze Ablenkung vom Wichtigen zu unterstreichen. Der
UGTT-Vertreter Sadok Chaibi pflichtete ihm bei und sprach von
„restaurativen, ja faschistischen Tendenzen“.
Aus teilweise ähnlichen, teilweise anderen
Gründen sagte unterdessen die tunesische Linkspartei Front
populaire (ungefähr, vergröbert übersetzt: „Volksfront“),
drittstärkste Kraft im Parlament, ihre Teilnahme an der Großkundgebung
vom Sonntag, den 29. März 15 – welche nach dem Abschluss des WSF
stattfand - im Vorfeld ab. Besonders wollte sie dadurch gegen die
Präsenz von En-Nahdha, die als Co-Organisatorin auftrat,
protestieren. Innerhalb des Front populaire ist die
Haltung zu Nidaa Tounès umstritten, aber jene zu
En-Nahdha stiftet einen Konsens: Beide Parteien werde als „zwei
Facetten der Reaktion“, der säkularen und der islamistischen
Reaktion, betrachtet. Umstritten bleibt, ob dabei Erstere noch als
kleineres Übel durchgehen könne oder nicht. Am Sonntag dominierte
aber der Wunsch, sich auf jeden Fall vom größeren
Übel zu distanzieren.
Editorische
Hinweise
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