Vor 70 Jahren: Befreiung vom Hitlerfaschismus
In den befreiten Stadtteilen

Leseauszug aus: Berlin 1945-1986 (Teil 2)

04-2015

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....Während die Schlacht noch tobte, begannen sowjetische Of­fiziere in den schon befreiten Gebieten von Berlin wie­der normale Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu schaf­fen. Grundlage dafür war der Befehl Nr. 5 des Kriegsrates der 1. Belorussischen Front vom 23. April 1945, der die Bildung von Militärkommandanturen unmittelbar nach dem Durchzug der Kampftruppen vorsah. Den Kommandanten oblag es zunächst, die Sicherheit der Sowjettruppen im frontnahen Gebiet zu ge­währleisten und versprengte faschistische Truppen und Banden des sogenannten Werwolfs unschädlich zu machen. Gleichzeitig kümmerten sie sich um die elementaren Lebensinteressen der Bevölkerung in ihrem Bereich. Herumliegende Munition mußte eingesammelt, Brände mußten gelöscht werden. Es galt, eine er­ste medizinische Fürsorge zu organisieren, Lebensmittel für die nächsten fünf Tage auszugeben und die Obdachlosen unterzu­bringen. Die Militärkommandanten nahmen umgehend Verbin­dung zur Bevölkerung auf. Ein sowjetischer Offizier erläuterte später gegenüber einem britischen Journalisten: »Wenn wir auf einen Mann stießen, der den Faschismus schon in Spanien be­kämpft hat oder der wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus jahrelang Gefangenschaft erdulden mußte, dann sahen wir in ihm einen Menschen, der uns helfen würde, die Reste der Naziherrschaft auszurotten.«(9)

Zumeist stellten sich deutsche Antifaschisten - aus der Illega­lität heraustretende Kommunisten und Sozialdemokraten sowie andere aufrechte Hitlergegner - sofort den Kommandanten zur Verfügung. Ihr erster Auftrag lautete, aus den aufbaubereiten Kräften einen Bürgermeister und Mitglieder für neue Orts- und Bezirksverwaltungen vorzuschlagen. So wurde am 22. April in Wilhelmshagen der Kommunist Jakob Weber zum Ortsbürger­meister ernannt. Einen Tag später setzte der Militärkommandant den Kommunisten Erwin Hübenthal als Ortsbürgermeister von Friedrichsfelde ein. In Weißensee forderte der Kommandant Oberstleutnant Jakowlew eine Gruppe Antifaschisten auf: »Ho­len Sie alles zusammen. Kommunisten, Sozialisten, Doktoren, Professoren.«(10) Er benannte am 25. April den Kommunisten Ja­kob Kaszewski zum ersten Bezirksbürgermeister von Weißensee.

Am gleichen Tag meldete sich in Johannisthal eine Gruppe von KPD-Genossen in der Kommandantur, die Georg Neumann zum Ortsbürgermeister berief. So geschah es überall: in Müggelheim, Rauchfangswerder, Bohnsdorf und anderen Randgebieten ebenso wie in dichtbesiedelten Bezirken, die bereits befreit wa­ren. In Steglitz wurde der Kommunist Fritz Starke mit der Bil­dung einer Bezirksverwaltung beauftragt, in Spandau der Sozial­demokrat Dr. Münch. In Stadtbezirken mit einem geringeren Anteil von Arbeitern an der Wohnbevölkerung beteiligten sich viele bürgerliche Hitlergegner an den ersten Schritten zum Wiederaufbau. Uber die Bildung der Bezirksverwaltung Wilmersdorf am 1. Mai liegt folgender Bericht vor:

»Es war eine denkwürdige Sitzung. Es galt, sterbende Mensehen zu retten, Brände zu löschen, Krankenhäuser mit Lebens­mitteln zu versorgen. Nachdem in formlosester Weise einige Auf­gaben verteilt worden waren, begab sich dieses Gremium zum sowjetischen Kommandanten, der sein Quartier in einem Wohn­haus der Berliner Straße aufgeschlagen hatte. Auch diese Vor­stellung bei dem sowjetischen Major wird den Beteiligten unver­geßlich bleiben. Fast alle waren von der Herzlichkeit der Begrüßung überrascht. Nachdem der Kommandant seiner Freude Ausdruck gegeben hatte, Vertreter eines antifaschisti­schen Deutschlands vor sich zu sehen, entwickelte er ein Pro­gramm des Wiederaufbaus in Wilmersdorf, daß den Anwesenden angesichts der rauchenden Trümmer draußen ganz schwindlig wurde. Allen wurde dabei klar: Hier sprach ein Freund zu Freun­den, der Vertreter einer Macht, die mit allen Kräften am Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu helfen gewillt war. Diese Besprechung fand statt, während zwei Kilometer weiter am Fehr-belliner Platz noch geschossen wurde.«(11)

Die wichtigste Aufgabe, die sowjetische Kommandanten und deutsche Antifaschisten gemeinsam anpackten, war die Verteilung der Lebensmittel, die die Rote Armee anlieferte. Auf Befehl des Kriegsrates der 1. Belorussischen Front vom 23. April standen als erstes 6 000 Tonnen Mehl, 1 250 Tonnen Fleisch, 75 Tonnen Schweinespeck, 12000 Tonnen Kartoffeln, 550 Ton­nen Salz, 500 Tonnen Zucker und 65 Tonnen Kaffee aus Armee­beständen zur Verfügung. Diese Mengen erhöhten sich in den Folgetagen. Gemeinsam mit aufbauwilligen Kräften kümmerten sich die neuen Bürgermeistereien um eine gerechte und schnelle Verteilung der Lebensmittel. Bäckereien begannen wieder zu ar­beiten, Geschäfte wurden eröffnet. Der Ortsbürgermeister von Wilhelmshagen, Jakob Weber, berichtete: »Wir haben von Anfang an täglich pro Hausausweis 300 g Brot ausgegeben, für das die Rote Armee das Mehl lieferte. Wenige Tage später hat die Rote Armee auf Lkw fünf Tonnen Brot und regelmäßig Mehl ge­liefert. Vom zweiten Tag der Anwesenheit der Roten Armee, also ab 24725. April, hat sie an alle Kinder der Gemeinde ein Mittag­essen ausgegeben. Das hat natürlich große Befriedigung hervor­gerufen und auch Auftrieb gegeben.«(12) Berichte gleichen Inhalts liegen auch aus anderen Berliner Stadtbezirken und Ortsteilen vor.

Vielerorts ergriffen die Antifaschisten selbst die Initiative, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und Plünderungen zu unterbinden. So berichtete Karl Ohlew, damals kommissari­scher Bürgermeister in Kaulsdorf-Nord:

»Zu der Zeit, als bei uns schon die Rote Armee war, tobten im Stadtinnern noch Kämpfe. Es gab keine Lebensmittelkarten und wurden eingefangen und im Auftrag des Bürgermei­sters von dem Schlächtermeister Grahlke in der Schlächterei von Adelhoch, Giesestraße, geschlachtet.

Wir fertigten Lebensmittelkarten aus alten Postkarten an, auf die wir Fleisch ausgaben.

Schlecht sah es mit Brot und Kartoffeln aus. Teile der völlig verzweifelten, oft keinen Ausweg sehenden Bevölkerung plünder­ten die Kartoffelmieten auf den Rieselfeldern. Hier mußte un­sere freiwillige antifaschistische Polizeigruppe eingreifen. Sie schützte die Mieten und sicherte damit eine gleichmäßige Vertei­lung der geringen Bestände an die Bevölkerung.

Die Mehlvorräte des Bäckermeisters Schnabel beschlagnahmte die Rote Armee, um sie vor der Plünderung zu schützen, und übergab sie der Bürgermeisterei zur Herstellung von Brot.
So versuchten wir, die Not zu lindern. Auch die durchziehen­den Kolonnen der Roten Armee gaben den Einwohnern Brot.«(13)

Anmerkungen:

9) Zit. nach: Gordon Schaffer: Ein Engländer bereist die russische Zone, Berlin 1948, S.21.
10) »Es begann in der Großen Seestraße«. In: BZ am Abend, 17. Mai 1965.
11) »Erste Schritte der Freiheit in Wilmersdorf«. In: Berliner Zeitung, 1. Mai 1955.
12) Bezirksleitung Berlin der SED, Bezirksparteiarchiv (im folgenden: BPA), Sammlung Erinnerungsberichte.
13) Die letzten Tage des Krieges. Die ersten Tage des Friedens. 40.Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes. Hrsg.: Bezirksvorstand Berlin der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Beriin o.J. (1985), S. 41/42.
 

Editorische Hinweise

Text und Bildmaterial wurden übernommen aus: Gerhard Keiderling Berlin 1945-1986, Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 24-29