Sind die Grenzen des revolutionären Konsenses erst bei Antisemitismus überschritten?
Anmerkungen zu Anlaß und Gründen des Ausstiegs der Ökologischen Linken (ÖkoLi) aus dem Bündnis für die diesjährige revolutionäre 1. Mai-Demo in Berlin

von AutorInnenkollektiv

04/2016

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Auch in diesem Jahr wird es – wie in jedem Jahr seit 1988 – in Berlin mindestens eine 1. Mai-Demonstration geben, die beansprucht, „revolutionär“ zu sein. Die größte davon wird – ebenfalls traditionsgemäß – die um 18 h beginnende Demonstration sein. Seit Anfang April sind die Berliner Gruppen der internationalen, gegen Israel gerichteten Kampagne „Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) und der Struktur F.O.R. Palestine an dem Bündnis beteiligt. Dies nahm die Ökologische Linke nach eigenen Angaben bei dem Bündnistreffen in der vergangenen Woche zum Anlaß, u.a. die folgenden Formulierungen zur Abstimmung zu stellen: 

1. „Personen oder Gruppen, die auf der Revolutionären 1. Mai Demonstration in Berlin antisemitische Inhalte in Form von Transparenten usw. mit sich tragen, werden von der Demonstration ausgeschlossen. Beispiel für einen solchen Inhalt ist: ‚Israel verübt einen Genozid an den Palästinensern.’“ 

2. „Explizit antisemitische Gruppen wie der BDS und F.O.R. Palestine, welche nicht nur etwa Kritik am Staat Israel und seinen Handlungen üben, sondern ausdrücklich die Abschaffung und Zerstörung des Staates Israel zum Ziel haben, können nicht Mitglieder des Revolutionären 1. Mai Bündnisses sein.“ 

Nachdem diese Anträge abgelehnt wurden, hat die ÖkoLi das Bündnis verlassen. Wir halten unsererseits weder die beiden Anträge für adäquat formuliert, noch halten wir die Aufnahme der beiden fraglichen Gruppen in das Bündnis für richtig.

Zu den Anträgen der ÖkoLi

zu 1.: a) Uns scheint insbesondere der erste Satz des ÖkoLi-Antrages nicht geeignet zu sein, zu einer politischen Klärung beizutragen: In einem Bündnis, das absehbar keinen gemeinsamen Begriff von Antisemitismus hat, einen solchen allgemein gehaltenen Satz zu beschließen, ist u.E. nicht sinnvoll. Denn schon im Aufruf zur Demo wird sich – mit anscheinend zustimmender Intention – auf den „Kampf gegen Antisemitismus“ bezogen1; nur folgt aus diesem Bekenntnis kein Konsens, was Antisemitismus ‚ist’ bzw. was mit dem Wort bezeichnet wird (bzw. werden soll).

b) Die in Satz 2 des ÖkoLi-Antrages zitierte Parole („Israel verübt einen Genozid an den Palästinensern.“) ist faktisch unzutreffend und daher politisch falsch (s. dazu unten); dabei ist für uns insoweit nicht ausschlaggebend, ob diese Parole antisemitisch ist.

zu 2.: a) Die Behauptung, daß es sich bei BDS und F.O.R. Palestine um „[e]xplizit antisemitische Gruppen“ (unsere Hv.) handele, ist unzutreffend. F.O.R. Palestine beansprucht vielmehr, nicht antisemitisch zu sein: „wir sehen uns strikt als anti-kapitalistisch und gegen alle Formen der strukturellen Diskriminierung wie [...] Antisemitismus“ (http://for-palestine.org/de/uber-uns-4/). Die Frage, ob dieser Anspruch eingehalten wird, ist von der Frage zu unterscheiden, ob die Gruppe „[e]xplizit antisemitisch“ ist. – Es wäre daher unseres Erachtens allenfalls korrekt zu sagen, daß F.O.R. Palestine eine „implizit“ (oder [vermeintlich] „objektiv“) antisemitische Gruppe sei – obwohl sie explizit / subjektiv den gegenteiligen Anspruch vertritt.

b) Die Forderung / das Ziel, Israel abzuschaffen, wie auch die Realisierung dieses Ziels sind als solches nicht antisemitisch. Im Kommunismus gibt es keinen Staat mehr, also auch keinen Staat Israel mehr.

Wir finden es deshalb okay, daß sich IL, Radikale Linke u.a. bei der Abstimmung über die ÖkoLi-Anträge der Stimme enthalten haben. Wir finden allerdings unverständlich, daß keine besseren Anträge gestellt wurden, obwohl das Problem bereits vor dem Bündnistreffen bekannt war.

Die komplette Stellungnahme als PdF-Datei lesen

Quelle: Zusendung durch das Autor*innenkollektiv