Die Initiative
Mietenvolksentscheid (MVE) hat entschieden, den Ersten
Mietenvolksentscheid nicht weiterzuführen. Mit
deutlicher Mehrheit hat das „Aktiven-Plenum“ für den
Rückzug des Gesetzentwurfs votiert. Bei den 50.000
Unterzeicher*innen der ersten Phase der
Unterschriftensammlung wird dies sicher auch zu
Enttäuschung führen. Nicht Wenige werden darin einen
Rückschlag für die Mieter*innenbewegung sehen. Bei den
Koalitionsparteien des Berliner Senats und
Immobilienverbänden mag vielleicht Jubel ausbrechen.
Auch innerhalb der Initiative gab es während der
Diskussionen enttäuschte und resignative Reaktionen.
Es mag Viele überraschen:
Wir sehen mehrheitlich keinen Anlass zur Resignation,
im Gegenteil. Obwohl wir mit dem Volksbegehren nicht
wie geplant in die zweite Sammelphase gehen, betrachten
wir den Mietenvolksentscheid als Erfolg – für die
Berliner*innen, für die stadtpolitische Bewegung, für
die Wohnungspolitik in der Stadt.
Als Reaktion auf den
großen Zuspruch in der ersten Phase wollten SPD und
Union reagieren. Per „Abfanggesetz“ wollten sie der
Initiative den Wind aus den Segeln nehmen mit dem
vorrangigen Ziel, eine Zuspitzung des kommenden
Wahlkampfs auf die eskalierenden Wohnungsprobleme der
Stadt zu verhindern. Ein solches Abfanggesetz hat das
Abgeordnetenhaus mit schwarz-roter Mehrheit bei
Zustimmung der Grünen und Ablehnung der Linkspartei mit
dem „Wohnraumversorgungsgesetz“ (WoVG) Ende letzten
Jahres verabschiedet.
Was haben wir
erreicht – was nicht?
Das vom
Abgeordnetenhaus beschlossene WoVG fällt zwar an vielen
Punkten hinter unseren Gesetzesentwurf zurück. Es gibt
allerdings aus unserer Sicht keinen Grund, das WoVG in
Grund und Boden zu verdammen oder – wie vereinzelt zu
hören – sogar als Verschlechterung gegenüber dem
bislang geltenden Zustand einzuschätzen. Mit dem WoVG
ist auf unseren Druck eine qualitative Veränderung der
Wohnungspolitik in Berlin erkämpft worden.
So ist ab dem 1.
Januar das Mietzuschussvolumen für den sozialen
Wohnungsbaubestand verdreifacht worden, von der ca.
30.000 Menschen profitieren können. Ebenso soll es die
volle Übernahme der Miete von Transfer-Haushalten
geben, wenn diese die Kosten der Unterkunft übersteigt.
Die über Jahre großzügig praktizierte Freistellung von
Bindungen der Sozialwohnungen ist endlich vorbei. Die
Wohnraumförderung gibt es nicht mehr nach
Gießkannenprinzip sondern erstmalig gestaffelt nach
Einkommen. Mit dem „Wohnraumförderfonds Berlin“ als
Sondervermögen in Form eines revolvierenden Fonds, der
über die zurückfließenden Zins- und Tilgungsleistungen
der vergebenen Darlehen sich selbst refinanziert, wird
die Abhängigkeit von privaten Banken und
steuersparenden Anwälte*innen und Zahnärzt*innen
abgebaut. Über den Fonds wird erstmalig das Land per
Gesetz zur Förderung der energetischen Modernisierungen
verpflichtet. Mit der neuen „Dach-AöR“ können die
Landeswohnungsunternehmen (LWU), die bislang von der
Politik verselbständigt agierten, besser verpflichtet
werden, sich nun an politische Leitlinien der AöR
halten. Erstmalig existiert nun eine
Mieter*innenbeteiligung bei den LWU durch Sitz und
Stimme einer Mieter*innenratsvertretung im
Aufsichtsrat. Über zwei Mitglieder aus dem Fachbeirat
im Verwaltungsrat der AöR wird Kontakt zur
Mieter*innenschaft der LWU hergestellt und damit der
bisherigen Intransparenz und Geheimhaltungspolitik der
LWU Grenzen gesetzt. Im Gesetz zur AöR wird über eine
Sperrminorität von zwei Mitgliedern des Verwaltungsrats
explizit ein Veto gegen die Privatisierung von den LWU
ermöglicht. Die Vermietungspraxis der LWU wird
zugunsten einkommensschwacher Haushalte verändert.
Auch wenn damit Teile
unserer Forderungen vom Senat aufgegriffen wurden, sind
ohne Zweifel viele andere Regelungen unseres
Gesetzentwurfs nicht umgesetzt worden. Die Obergrenze
des jährlichen Mietzuschussvolumens setzte die SPD nur
auf 45 Mio. fest. Der Zuschuss wurde auf 2,50 € pro Qm
begrenzt und bezieht sich nur auf die Kaltmiete. Mehr
gebe laut SPD der Haushalt nicht her. Angesichts
jährlicher Überschüsse von bis zu 900 Mio. und
Zinssätzen von unter einem Prozent für Berlins Schulden
war dieses Argument offenkundig vorgeschoben. Außerdem
sind Information, Rechtsanspruch und Antragsverfahren
beim Mietzuschuss für Sozialmieter*innen nicht geklärt.
Eine nachhaltige Reparatur des absurden Berliner
Kostenmietensystems statt Nachsubventionierung wird
sich der Senat offensichtlich nicht ersparen können.
Die bei fehlenden
120.000 bezahlbaren Wohnungen krasse Unterschätzung des
Wohnungsbestands und die preistreibende Überbetonung
des Wohnungsneubaus rücken die Senatsparteien nicht
ab. Die finanzielle Ausstattung des Fonds und
Ausgestaltung seiner Programme bleiben mangelhaft. Die
geplante Förderung von 3.000 neuen Sozialwohungen pro
Jahr, mit viel zu kurzen Bindungszeiten ist völlig
unzureichend. Wir brauchen eine massive Ausweitung des
kommunalen sozialen Wohnungsbaus. Der Umwandlung der
Landeswohnungsunternehmen (LWU) in öffentliche
Unternehmen („Anstalten öffentlichen Rechts“ – AöR) hat
sich der Senat vollständig verweigert. Die Weisungen
der Dach-AöR sind nicht bindend. Vor allem eine
qualitative Ausweitung der Mieter*innenmitbestimmung
wurde verhindert. Zwangsräumgen und Ablehnung von
Mieter*innen wegen eines Schufa-Eintrags wurden zwar
erschwert, aber nicht ausgeschlossen. Das Mietenbündnis
des Senats mit den LWUs wurde nun gesetzlich fixiert.
Dadurch werden sich Probleme für die städtische
Mieter*innenschaft z.B. mit Modernisierung und
Mieterhöhungen trotzdem nicht grundlegend verbessern.
Warum haben
wir uns gegen eine Fortsetzung des MVE entschieden?
Unser Gesetzesentwurf
enthielt Regelungen, die mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit vor dem Landesverfassungsgericht
keinen Bestand hätten. Wie wir trotz interner
juristischer Fachberatung im Nachhinein lernen mussten,
verstößt die Unterstützung der sechs
Wohnungsunternehmen als AöR mit zusätzlichem
Eigenkapital und die Gewährträgerhaftung des Landes
ohne sehr strenge, von uns aber nicht beachtete
Auflagen gegen EU-Beihilferecht. Wir wollten die
vorzeitige Ablösung von Förderdarlehen durch die
Eigentümer*innen unattraktiv machen. Der Senat
betrachtet das als Verstoß gegen den Eigentumsschutz
im Art. 14 Grundgesetz. Auch andere Regelungen hat die
Rechtsprüfung durch den Senat als rechtswidrig
beurteilt. Nicht alle vermeintlichen Verstöße, die der
Senat auflistet halten wir für plausibel. Insbesondere
die zuerst genannten Punkte machen unser Gesetz jedoch
nach unserer Einschätzung juristisch angreifbar. Wir
mussten uns also eingestehen, dass wir bei der
Formulierung eines sehr komplizierten Gesetzes Fehler
gemacht haben. Während in einem parlamentarischen
Verfahren jedoch bis zur endgültigen Abstimmung immer
Möglichkeiten zur Änderung bestehen, ist dies bei einem
Volksentscheid offenbar kaum möglich. Hier müssen die
Möglichkeiten der direkten Demokratie dringend
erweitert werden, statt sie – wie von der
Regierungskoalition geplant – auch noch
einzuschränken.
Die
Senatsinnenverwaltung hat es uns nicht erlaubt, diese
Rechtsfehler nachträglich in unserem Gesetz zu
korrigieren. Sie hat diese als „wesentliche Änderung“
gewertet, die gegen das für Volksentscheide geltende
„Abstimmungsgesetz“ verstoßen würden. Es ist also sehr
wahrscheinlich, dass unser Gesetz als verfassungswidrig
eingestuft wird, wenn wir weitermachen. Außerdem
wollten wir über die hohen Kosten der Mietensubvention
den Druck auf den Senat erhöhen und haben dabei
versäumt, enge Grenzen für eine Mieterhöhung der
Vermieter*innen zu setzen. Wir hätten sie gerne über
eine Richtsatzmiete an den Kosten des alten Sozialen
Wohnungsbaus beteiligt, das ging aber in unserem Gesetz
wegen des „Kopplungsverbots“ nicht.
Würden wir also
unseren MVE fortsetzen, hätte dies eine längere
juristische Auseinandersetzung mit sehr geringen
Erfolgsaussichten zur Folge. Wir hätten auf keinen Fall
wie geplant die zweite Sammelphase während des
Wahlkampfes durchführen können. Das juristische
Verfahren hätte viele Kapazitäten und finanzielle
Mittel gebunden. Wir halten es deshalb politisch nicht
für sinnvoll, den MVE fortzusetzen. Wir halten es für
sinnvoller, offen zu unseren handwerklichen Fehlern zu
stehen und unsere Kräfte nun für die nächsten
politischen Schritte zu sammeln. Denn wir wollen noch
immer die Wohnungsmisere zu einem zentralen Thema im
Wahlkampf machen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass
dieser MVE nur ein erster Schritt sein kann („Erster
Mietenvolksentscheid“). Ende Februar wollen wir daher
auf einer ‚Stadtpolitischen Aktivenkonferenz‘ (26. Bis
27.02.2016 an der Technischen Universität Berlin),
gemeinsam mit vielen anderen Aktiven in der Stadt
diskutieren, wie eine stadtpolitische Offensive im
Wahlkampf 2016 aussehen kann.
Politische
Selbstermächtigung ausbauen, die nächsten Schritte in
Angriff nehmen!
Trotz der Erfolge ist
der Wohnungsnotstand in Berlin mit dem WoVG mitnichten
beseitigt. Wir können aber von dem bisher Erreichten
ausgehend unsere nächsten Schritte und Forderungen
angehen. Nicht nur, weil nach jahrlangem Stillstand und
Hickhack der Parteien im Abgeordnetenhaus Bewegung in
die wohnungspolitische Landschaft gekommen ist. Durch
den Druck der Stadtgesellschaft sahen sich die
Koalitionsparteien zum Handeln gezwungen. Dies kann
auch der direkten Demokratie weiteren Schub verpassen –
und dies, obwohl sie nicht über die finanziellen,
logistischen und medialen Ressourcen der Parteien
verfügt.
Wir werden deshalb
weitermachen und die nächsten Schritte angehen. Klar
ist, dass die Möglichkeiten von Volksentscheiden
beschränkt sind, auch weil wir uns auf die
Eingriffsmöglichkeiten auf Landesebene im Rahmen
bestehender Bundesgesetze beschränken müssen.
Wir werden die
Umsetzung des WoVG kritisch begleiten und einfordern,
dass die AöR als wirksames Steuerinstrument der
Wohnungspolitik auch genutzt wird. Der Umgang des
Senats mit dem Tempelhof 100%-Gesetz zeigt, dass
bereits Erreichtes immer wieder verteidigt werden
muss. Ebenso fordern wir, dass der Senat die neue
Expert*innenkommission zum Kostenmietensystem
tatsächlich nutzt, um es zu untersuchen und zu
reparieren. Und zwar gemeinsam mit geeigneten
Expert*innen, Vertreter*innen aus Parlament und
betroffenen Mieter*inneninitiativen.
Auf der
Stadtpolitischen Aktivenkonferenz werden wir
diskutieren, wie wir die Wohnungsmisere weiter zu einem
zentralen politischen Thema in der Stadt machen
können. Die Themen liegen auf der Straße:
Rekommunalisierung der früher öffentlichen
Wohnungsbestände von Deutsche Wohnen und/oder Vonovia,
schärfere Steuerung des privaten Wohnungsmarkts gegen
Spekulation und Mieterhöhungen ohne Gegenleistung,
Abschöpfung von Planungsgewinnen und eine geänderte
Liegenschaftspolitik, Verbot von spekulativem Leerstand
durch Verschärfung der Wohnungsaufsicht etc. etc. In
diesem Sinne werden wir uns sicht- und hörbar auch in
den kommenden Wahlkampf einbringen. Zu guter Letzt
wollen wir uns auch selbst mit besseren internen
Strukturen demokratischer aufstellen und
handlungsfähiger machen.
Quelle:
https://mietenvolksentscheidberlin.de/warum-wir-den-mietenvolksentscheid-nicht-fortsetzen-und-trotzdem-weitermachen/
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