Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich und die Attentate in Belgien
Politische Debatte um französische Notstandsregeln

04/2016

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Wir sind im Krieg, und Europa ist im Krieg!“ So lautete die erste Reaktion des französischen Premierministers, des sehr weit rechtsstehenden Sozialdemokraten Manuel Valls, am Dienstag (den 22. März d.J.) auf die mörderischen Attentate von Brüssel. Zum wiederholten Male äußerte der Politiker, der seit April 2014 an der Spitze der französischen Regierung steht, sich auf martialische Weise, die den Unterschied zwischen dem Terroranschlag einer kriminellen Gruppe und einem zwischenstaatlichen Krieg nivelliert.

Etwas zurückhaltender und feierlicher blieb dieses Mal sein Vorgesetzter, Staatspräsident François Hollande (er hatte aber ansonsten auch bereits von „Krieg“ im Zusammenhang mit den Attentaten auf französischem Boden gesprochen). Er sprach von „feigen und furchtbaren Attentaten“, erklärte seine „Solidarität und Freundschaft mit dem belgischen Volk und den belgischen Behörden“ und fügte hinzu: „Belgien wurde getroffen, doch Europa war im Visier, und die gesamte Welt ist betroffen.“

Auf stärker humoristische Weise wurde das Thema von vielen Zeichnerinnen und Karikaturisten verarbeitet. In der französischen Regionalzeitung La Montagne aus Clermont-Ferrand zeigte eine Karikatur etwa die beiden Comicfiguren Obelix und Tintin – deutsch in „Tim und Struppi“ -, die sich umarmen, um darauf anzuspielen, sowohl Frankreich (verkörpert durch Belgien) als auch Belgien (Tintin/Tim) seien in jüngster Zeit von Attentaten getroffen worden. Ebenfalls von Paris aus meldete sich der dort im Exil lebende algerische Karikaturist Ali Dilem. Er zeichnete ein Mann mit einem Schild „Ich bin Brüssel“, angelehnt an Je suis Charlie vom Januar 2015. Eine Menge von Schildträgern mit Aufschriften wie „Ich bin Mali“, „Ich bin Ankara“ oder „Ich bin Beirut“ schaut ihn an, und der Mann mit dem Brüssel-Schild fragt zaghaft: „Könnt Ihr mir ein bisschen Platz machen?“

Wie zu erwarten, wurde der Schrecken über die neuen Anschläge mit über 25 Toten aber auch alsbald politisch ausgenutzt. Der französische Minister für parlamentarische Angelegenheiten, Jean-Marie Le Guen, forderte etwa die beiden Kammern des Parlaments – Nationalversammlung und Senat – dazu auf, sich nun endlich zu einigen und die heftig umstrittene Ausbürgerungsregel zu verabschieden, um sie in die Verfassung aufzunehmen zu können. Diese geplante Bestimmung, die bislang noch durch Uneinigkeiten zwischen der sozialdemokratisch dominierten Nationalversammlung und dem konservativ beherrschten Senat verhindert wird – bei Verfassungsänderungen müssen beide Parlamentskammern einen im Wortlaut identischen Text annehmen -, wird als eine der Lehren aus den Pariser Attentaten vom November 15 verkauft.

Dabei geht (ging) es darum, verurteilten terroristischen Straftätern im Falle des Senats oder den Urhebern von „Verbrechen oder Vergehen gegen fundamentale Interessen der Nation“; laut der sehr viel vageren und weiter gefasste Version der Nationalversammlung, die französische Staatsbürgerschaft entziehen zu können. In den Augen des Senats soll es nur Doppelstaatsangehörige treffen können. Die, in sich zerstrittene, sozialdemokratische Mehrheit der Nationalversammlung versuchte, auf die Kritik zu antworten, derzufolge eine solche Regelung diskriminatorisch wirken würde. Ihr Textentwurf ermöglicht deswegen sogar die Ausbürgerung für alle Betroffenen, egal ob mit oder ohne zweite Staatsbürgerschaft, was angeblich weniger diskriminiernd ausfällt, aber das Problem der potenziell staatenlos Werdenden aufwirft. Die Vorstellung, man müsse bestimmte Straftätergruppen „aus der nationalen Gemeinschaft auschließen“ können, wurde zuvor seit Jahrzehnten durch die extreme Rechte erhoben, und im Juli 2010 griff der damalige konservative Staatspräsident Nicolas Sarkozy dasselbe Anliegen erstmals offensiv auf. Sozialdemokraten zeigten dafür erstmals seit November 2015 ein offenes Ohr.

Bislang schien es aber, als werde das stark ideologisch geprägte Vorhaben schlussendlich an der Uneinigkeit zwischen beiden Kammern scheitern. Minister Le Guen möchte nun die Gunst der Stunde nutzen, um doch noch zu ihrer Verabschiedung zu kommen. Ähnlich äußerte sich auch der (rechte) Vorsitzende der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, Bruno Le Roux; er beklagte sich auf Twitter darüber, dass die Haltung der Konservativen im Senat die geplante Verfassungsänderung zu Notstands- und Ausbürgerregelungen „blockiere“. Prompt fing er auf Twitter einen Streit mit einem – tendenziell kritischen – sozialdemokratischen Abgeordneten an, welcher kommentierte hatt, Le Roux solle jetzt keine Maulaffen feilhaben („Schweig’ lieber“) und die Sache politisch instrumentalisieren. Tatsächlich „blockiert“ sei in Wirklichkeit er selbst (der fragliche Abgeordnete), nämlich am Bahnhof in Brüssel, wo er die Attentate mitbekam und nun nicht mehr so schnll wegkomme. // ANMERKUNG zur AKTUALISIERUNG: Am späten Vormittag des Mittwoch, den 30. März d.J. hat Präsident François Hollande die ursprünglich geplante Verfassungsänderung nun anlässlich eines TV-Auftritts definitiv beerdigt. Es wird also keine Ausbürgerungsregelung im geplanten Sinne geben. Jedenfalls keine erweiterte Ausbürgerungsregelung; unter juristisch eng gesteckten Bedingungen ist ein Entzug der Staatsbürgerschaft ja bereits heute für verurteilte „Terrorstraftäter“ in den ersten zehn Jahren nach ihrer Einbürgerung möglich, dies betrifft real durchschnittlich circa zwei Personen pro Jahr. Die am 16. November 2015 durch Staatspräsident Hollande – der ein Ansinnen seines konservativen Herausforderers Nicolas Sarkozy vom 15. November 15 aufgriff – vorgeschlagene Regelung hätte jedoch erheblich weiter ausgreifen sollen. //

Ferner erhöhte die französische Regierung die Zahl der ständig patroullierenden Polizisten und Gendarmen am Dienstag Mittag (22.03.2015) um 1.600. Seit den Attentaten vom November 2015 sind aber neben Polizei und Gendarmerie zusätzlich auch 7.000 Soldaten im inneren Einsatz.

Auf der Ebene der strafrechtlichen Ermittlung erhofft die französische Regierung sich für die kommenden Monate Aufklärung über die Hintergründe der blutigen Attentate in Paris. Die Festnahme des zehnten und letzten überlebenden Teilnehmers an den Pariser Anschlägen, Salah Abdeslam, am Freitag Abend (18. März 16) ) in Brüssel soll ihren Erwartungen zufolge die Ermittlungen voranbringen. Abdeslam kooperiert bislang bei den Vernehmungen mit der belgischen Justiz, erklärte jedoch, er werde seine Auslieferung nach Frankreich ablehnen. Letztere wird bereits seit Freitag durch die französische Exekutive gefordert. Nachdem Abdeslam seinen Widerspruch einlegte, muss nun ein Gericht in den kommenden drei Monaten darüber entscheiden. // ANMERKUNG zur AKTUALISIERUNG: Salah Abdeslam akzeptiert, wie mittlerweile verlautet, seine Auslieferung an Frankreich inzwischen von selbst. //

In Paris wird in den letzten Wochen zunehmend Kritik von überlebenden Opfern und Angehörige von Ermordeten bei den Pariser Attentaten laut. Sie sparen nicht mit Vorwürfen sowohl an die Regierung als auch am parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Anschlägen. Einige von ihnen wurden am 15. Februar in den Räumen der Nationalversammlung angehört, anderen vor wenigen Tagen von Präsident Hollande empfangen.

Kritik üben sie an der Unterschätzung konkreter Risiken durch Jihadisten in der Vergangenheit, aber auch wegen der derzeitigen, ideologisch unterfütterten Schaupolitik der Regierung. „Warum höre ich ständig von Ausbürgerungsplänen reden, wenn ich das Radio einschalte?“ fragte Grégory Reibenberg, der Chef eines der Restaurants, die im November beschossen wurden, bei seinem Empfang im Parlament. Ihm und anderen zufolge ist dies wenig hilfreich, konkrete statt ideologischer Maßnahmen und bessere psychologische Hilfe für die Opfer wären ihnen lieber. Georges Salines, dessen Tochter zu den Opfern zählt, empörte sich wiederum über einen Ausspruch von Premierminister Manuel Valls. Der „Macher“-Politiker hatte über – ihm zufolge - „soziologische Erklärungen“ der Hintergründe beteiligter Terroristen Hohn & Spott ausgeschüttet und hinzugefügt: „Erklären bedeutet bereits ein Stückweit Entschuldigen“. Dem steht die Sichtweise mehrerer Opfer und Angehöriger entgegen: „Ich bin der Letzte, der denjenigen entschuldigen würde, der meine Tochter tötete“, erwiderte Salines. Aber die Ursachen dafür, warum apokalyptisch orientierte Jihad-Sekten überhaupt rekrutieren können, seien durchaus von Interesse.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Eine gekürzte Fassung davon erschien in der Tageszeitung ,Neues Deutschland’ am 23.03.2016. Anbei fügte der Autor einige aktualisierende Anmerkungen hinzu, Stand: 1. April 16. Die wichtigste Neuerung: Die in Frankreich geplante Verfassungsänderung zur Ausbürgerungsmöglichkeit für „Terroristen“ ist nun gescheitert!