Leser*innenbrief
zu
Siegfried Buttenmüller: Der alte Irrweg der  "Linken"

von Anton Holberg

04/2016

trend
onlinezeitung

13.4.2016

Da es alle möglichen Linken gibt, darunter nicht wenige, die sich in aktuell zentralen Konflikten (z.B. Syrien und Ukraine) faktisch auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade befinden, sogar dann, wenn sie sich etwa als „trotzkistisch“ definieren, kann es nicht weiter verwundern, dass auch in Hinblick auf die „nationale Frage“ zumindest Unklarheit herrscht, so insbesondere auch bei S. Buttenmüller. Er hat natürlich recht, wenn er feststellt, dass die Gründung neuer Staaten nichts an der kapitalistischen und das heißt unvermeidlich auch imperialistischen Verfassung der gegenwärtigen Welt ändert. Aber das ist gar nicht die Frage. Diese ist vielmehr, wie jene, die eine nachkapitalistische – sprich: sozialistische und schließlich kommunistische – Welt anstreben, mit der unbestreitbaren Tatsache umgehen sollen, dass nationales Bewusstsein in der kapitalistischen Welt (und eine andere gibt es heute nicht) eine hervorragende Stellung einnimmt. Abgesehen von der Tatsache, dass der Nationalstaat Produkt der kapitalistische Ordnung und das heißt auch des im Kapitalbegriffs angelegten widersprüchlichen Tendenz zur Ausdehnung einerseits und zur (konkurrierenden) Abgrenzung andererseits ist, liegt ihm auch das allgemein menschliche Streben zu Grunde, sich insbesondere mit denen zu gesellen, mit denen man auf Grund der gleichen Sprache am einfachsten kommunizieren kann (wobei die gleiche Sprache ja gleichzeitig auch Trägerin relativ ähnlicher Kultur ist).

Dieser Tatsache kann eine revolutionäre Linke nicht durch Leugnung aus dem Weg gehen. Vielmehr muss sie an die – keineswegs nur ökonomischen – Bedürfnisse der werktätigen Massen anknüpfen und für sie Antworten finden, natürlich solche, die perspektivisch über ihr aktuelles Bewusstsein hinausgehen. Die marxistische Linke, d.h. die revolutionäre Linke, unterscheidet deshalb stets zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen. Sie stellt sich auf die Seite der unterdrückten Nationen, auch wenn deren Nationalbewegung von Kräften geführt wird, deren Ziel es letztlich ist, zu einer neuen herrschenden – also die Mehrzahl der eigenen Bevölkerung unterdrückenden – Klasse zu werden. Der Grund ist einfach: proletarische Revolutionäre kämpfen gegen jede Art von Unterdrückung (mit Ausnahme der Unterdrückung von Unterdrückern), unabhängig davon, ob es sich dabei direkt um Klassenunterdrückung handelt oder nicht. Deswegen sind sie gegen die Unterdrückung religiöser Minderheiten, obwohl sie selbst nicht religiös sind, gegen Unterdrückung von Homosexuellen, auch wenn sie selbst heterosexuell sein mögen, und natürlich auch gegen ethnische und nationale Unterdrückung. Die revolutionäre Linke verlangt nicht die staatliche Trennung der unterdrückten Nation von den unterdrückten Massen der unterdrückenden Nation. Sie setzt sich im Gegenteil für möglichst große Einheit ein. Aber solche Einheit ist nur „nachhaltig“ wenn sie freiwillig ist. Aber ebenso wie die revolutionäre Linke – so Lenin - nicht die allgemeine Auflösung von Ehen, wohl aber das Recht auf Scheidung verlangt, verlangt sie auch das Recht auf staatliche Trennung. Sie muss das nicht nur aus grundsätzlicher Erwägungen tun, sondern auch aus ganz praktischen. Sie wird keinen Fuß bei den werktätigen Massen der unterdrückte Nation auf den Boden bekommen, wenn sie deren nationaler Unterdrückung gegenüber indifferent bleibt.

Das Recht auf einen eigenen Nationalstaat ist ein bürgerliches Recht, aber die revolutionäre proletarische Bewegung fällt nicht hinter die bürgerliche Demokratie zurück, sondern kämpft dafür, dass die Demokratie real wird und nicht nur formal. Das kann sie letztlich nur jenseits des Kapitalismus und also jenseits der sozio-politischen Herrschaft der Bourgeoisie (auch der der unterdrückten Nation). Aber um dahin zu kommen, müssen zunächst einmal die Bedürfnisse der Massen ernst genommen werden, auch wenn diese unvermeidlich durch das herrschende Bewusstsein, das eben das der Herrschenden ist, begrenzt sind. Und in der Tat ist es ein durchaus legitimes Bedürfnis, wenn z.B. mehr oder minder gleichermaßen der kurdische Bourgeois wie der kurdische Arbeiter, Bauer, Viehzüchter, Schuster oder Angestellte im Büro in der Türkei seine Sprache (Kurmanci oder Zazaci) in Schule und Behörde frei benutzen können will, was ihm erst dank des jahrelangen blutigen Kampfes der PKK seit relativ kurzer Zeit teilweise vom Staat zugestanden wurde. Und in der Ukraine unterstützen wir selbstverständlich das Recht der russischsprachigen Bevölkerung im Donetz, sich von einem ukrainischen Staat zu trennen, der nicht nur die zuvor geltende Gleichberechtigung der russischen Sprache aufkündigte (auch wenn er dann schnell wieder zurückruderte), sondern der unverkennbar russophoben ukrainischen Nationalisten (bis hin zu offenen Faschisten) Tür und Tor öffnet. Ebenso verteidigen wir natürlich auch das Recht der Ukraine, ein eigenständiger Staat getrennt von Russland zu bleiben. Und wir würden auch das Recht all derer, die sich als Teil eines „jüdischen Volkes“ – was auch immer wissenschaftlich betrachtet sein mag – verstehen, auf die Gründung eines eigenen Staates unterstützen müssen, wenn das denn in dieser Welt möglich wäre, ohne das Recht anderer Völker zu verletzen. Ein Recht auf die nationale (und beileibe ja nicht nur diese) Unterdrückung z.B. der Palästinenerser, die mit der Etablierung des „jüdischen Staates“ unvermeidlich einhergeht, kann es natürlich nicht geben. Diese Haltung ist zweifellos die unverzichtbare, wenngleich natürlich durchaus nicht ausreichende Voraussetzung dafür, mit den unterrückten und ausgebeuteten Massen der herrschende Nation ebenso wie der beherrschten Nation darüber ins Gespräch zu kommen, wie denn ihre ökonomischen und politischen Probleme – also ihre Klassensituation – verändert werden könnten.

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