STAND:
21. April 16
Eine
Mobilisierung folgt der anderen, auch wenn sie
vordergründig betrachtet erst einmal wenig miteinander
gemeinsam haben. Am Dienstag dieser Woche (19. April)
fand auf der zu Frankreich gehörenden Inselgruppe
Mayotte, einem der südlichsten Zipfel des französischen
Staatsgebiets – neben dem ebenfalls im Indischen Ozean
liegenden „Überseebezirk“ La Réunion -, ein „Tag der
toten Insel“ statt. Damit wollten EinwohnerInnen, allen
voran die Mütter, die in der traditionell
matriarchalisch geprägten Gesellschaftsordnung von
Mayotte eine Schlüsselrolle spielen, gegen die
„wachsende Unsicherheit“ und Gewaltkriminalität
protestieren. Voraus ging am vorigen Freitag, den 15.
April der Mord an einem 38jährigen europäischen
Einwohner von Mayotte, der seit dreißig Jahren dort
lebte und nur sein Kind vom Judo abholen wollte, als er
mit einer Gruppe von Jugendlichen in Konflikt gerieten,
die ihn zu beklauen versuchten.
Nur einen
Tag zuvor waren die Straßensperren abgebaut worden, die
bis dahin alle wichtigen Kreuzungen auf der Hauptinsel
verbarrikadiert und den Verkehr blockiert hatten. Ihre
Präsenz hing allerdings mit einer sozialen Bewegung
zusammen, mit dem über zweiwöchigen Generalstreik, der
dort am 30. März begonnen hatte. In Wirklichkeit
bildete er aber nur eine Verlängerung von zwei
Arbeitskampfbewegungen, die im September und Oktober
vorigen Jahres gestartet worden waren. Nach den
Attentaten vom 13. November 2015 in Paris, in deren
Folge der Ausnahmezustand über ganz Frankreich –
einschließlich der weit entfernten liegenden
„Überseebezirke“, zwischen Mayottes Hauptstadt
Mamoudzou und Paris liegen 8.000 Kilometer – verhängt
worden war, wurde der Generalstreik damals
vorübergehend ausgesetzt.
Dessen Hauptforderung beruhte darauf, eine
„tatsächliche Gleichheit“- égalité réélle
– herbeizuführen, also eine Angleichung der
Lebensverhältnisse mit dem übrigen Frankreich. Und dies
insbesondere auch im Bereich der Arbeitsgesetzgebung.
Bislang gilt auf Mayotte ein eigenes, stark
ausgedünntes Arbeitsgesetzbuch, der Code du
travail de Mayotte, das auf nur wenigen
ausgewählten Kapiteln des in Frankreich geltenden
Arbeitsrechts beruht. Ferner wurden
Branchenkollektivverträge, die in Frankreich Anwendung
finden, grundsätzlich nicht auf Mayotte übernommen,
auch wenn sie einer Allgemeinverbindlicherklärung
unterlagen, also für alle Arbeitgeber verbindlich
waren. Auf Mayotte hätte dafür der Präfekt, der
Vertreter des Zentralstaats vor Ort, unterschreiben
müssen. Dies tat er jedoch in keinem Fall.
Auf
diesem Gebiet hat die Streikbewegung erreicht, dass die
Regierung nachgeben musste. Ab dem 1. Januar 2018 soll
das französische Arbeitsrecht nun auch auf Mayotte
Geltung erlangen, dafür soll ein eigenes Gesetz
verabschiedet werden. Auch soll dieses noch zu
entwerfende Gesetz garantieren, dass
Branchenkollektivverträge auch auf der Inselgruppe
automatisch Anwendung finden, sofern sie in Frankreich
einer Allgemeinverbindlicherklärung unterliegen.
Auf
anderen Gebieten ist es noch ein weiter Weg bis zur
Gleichheit. So bei den Pensionen. Die Grundrenten
sollen bis nach bisherigen Plänen im Jahr 2036 an
französisches Niveau angeglichen werden. Ferner
weigerte die Regierung sich bisher kategorisch, die
Laufbahn von öffentlich Bediensteten vor dem Jahr 2009
zu berücksichtigen – also aus Zeiten, in denen Mayotte
für Frankreich nur ein „Überseegebiet“ und keinen
„-bezirk“ darstellte. Erstere Gebiete zählen im
Gegensatz zu den Letztgenannten nicht unmittelbar zum
französischen Staatsverband, sondern stellen eine Art
Protektorate dar wie derzeit Neukaledonien. Nach dem
Generalstreik hat die Regierung sich nun immerhin, doch
vage bleibend dazu verpflichtet, Verhandlungen zu dem
Thema aufzunehmen.
Mayotte bildet heute den 101. französische
Verwaltungsbezirk, der als letzter hinzu kam. kam
außergewöhnlich spät hinzu. Am 29. März 2009 war über
die Umwandlung in eine solche Verwaltungseinheit, die
départementalisation, abgestimmt worden.
Zuvor war Mayotte ein französisches „Überseegebiet“ mit
begrenzter Autonomie. 95,2 Prozent der an der
Volksabstimmung Teilnehmenden hatten ihr zugestimmt.
Allerdings hatten sich fast vierzig Prozent der Stimmen
enthalten, und viele Beobachter beklagten, es habe
keinerlei offene und plurale Debatte über die
Abstimmungsvorlage gegeben. Nur die Anhänger des „Ja“
waren damals in der Öffentlichkeit zu Wort gekommen.
Und hohe Staatsvertreter wie der Präfekt – der
Repräsentant des französischen Zentralstaats vor Ort –
und viele Beamte machten offen Wahlwerbung für die
Annahme der Vorlage, obwohl sie juristisch
grundsätzlich zu politischer Neutralität in ihrer
Außendarstellung verpflichtet sind.
Als
einzige im Parlament vertretene politische Kraft hatte
sich damals die Französische kommunistische Partei
gegen das Referendum geäußert. Anlässlich eines Besuchs
ihrer Parlamentarierin Eliane Assassi und eines
weiteren Führungsmitglieds der Partei, Jean-Louis Le
Moigne, auf Mayotte im März 2009 waren sie von
Aktivistinnen am Flughafen in Empfang genommen und mit
Sprechchören niedergebrüllt worden. Die daran
beteiligten Damen bezeichnete man im Volksmund als
les chatouilleuses (ungefähr: „die kitzelnden
Frauen“). Unter dem gleichen Namen war in den 1960er
Jahren eine Miliz aktiv, die ihre politischen Gegner
damals allerdings nicht niederschrie, sondern tötete.
Davon unbeirrt besuchten die KP-ParlamentarierInnen
diverse Orte auf der Inselgruppe, unterhielten sich mit
NGOs und Bürgerrechtsaktivistin, und dank ihres Status
als Parlamentarierin konnte Assassi das berüchtigte
Abschiebegefängnis auf Mayotte besuchen.
Doch
schon damals gab es auch vor Ort grundsätzliche Kritik
an der definitiven Einverleibung durch Frankreich. Die
frühere Kolonialmacht hatte die Inselgruppe der
Komoren, zu denen Mayotte gehört, im Jahr 1975 über die
Unabhängigkeit abstimmen lassen. Auf drei der vier
Hauptinseln kam eine Mehrheit für die Unabhängigkeit
zustande, nicht jedoch auf Mayotte. Entgegen vorheriger
Versprechungen, die Komoren ungeteilt in die
Unabhängigkeit zu führen oder bei Frankreich zu
belassen, spaltete die Pariser Regierung daraufhin den
Archipel.
Dies
legte jedoch die Grundlage für dauerhafte
Ungleichheiten und Unfrieden. Aus Sicht vieler
Einwohner/innen der Komoren befinden sie sich auf
Mayotte in ihrem eigenen Land. Aufgrund der materiell
ungleichen Situation – oder auch nur der Vorstellung
von vermeintlichem Wohlstand auf Mayotte – reisen viele
von ihnen, auch unter Lebensgefahr und auf wackeligen
Booten mit der Bezeichnung kwassa-kwassa, über die 70
Kilometer breite Meerenge zwischen den Inseln Anjouan
und Mayotte. Seitdem Frankreich 1994 eine Visumspflicht
für komorische Staatsbürger/innen auf Mayotte einführte
und die Boote Radaranlagen und Kontrollen der
Küstenwache vermeiden müssen, sind NGOs zufolge
mindestens 10.000 Menschen, andere sprechen von 20.000,
bei der Überfahrt ertrunken.
Doch auf
Mayotte, das offiziell laut der letzten Volkszählung
von 2012 rund 212.000 Einwohner/innen zählt und real
wohl mindestens 350.000, sind rund 40 Prozent der
Bevölkerung unter dem Blickwinkel des Aufenthaltsrechts
„illegalisiert“. Dadurch können wachsende Teile sich
nicht stabilisieren und keine garantierten
Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Slums wachsen
schneller als Wohnviertel mit festen Bauten, und in
manchen dieser Slums leben verwahrloste Jugendliche,
die ohne erwachsene Familienangehörige aufwachsen, sich
zu gewalttätigen Gangs zusammenschließen und oft keine
Grenze kennen. Daraus resultiert ein wachsender Unmut
von anderen Teilen der Inselbevölkerung - die seit
gewalttätigen riot-ähnlichen Ausschreitungen in der
Nacht vom 11. und 12. April dieses Jahres und
Plünderungen nun zum Teil damit drohen, ihrerseits
Einwohnerwehren zu errichten.
70
Prozent der Kinder in den örtlichen Kliniken werden von
als „Illegale“ gezählten Müttern geboren. Denn wenn ein
Elternteil selbst noch vor der Unabhängigkeit der
Komoren – 1975 – geboren wurde und das Kind auf
französischem Boden zur Welt kommt, hat es aufgrund des
so genannten „doppelten Bodenrechts“ – des double
droit du sol - einen Anspruch auf die
französische Staatsangehörigkeit. (In der Praxis reißt
die Staatsmacht aber in solchen Fällen oft Familien
auseinander.)
Im
vergangenen Jahr 2015 schob die Staatsmacht 18.500
Menschen aus Mayotte ab (in aller Regel auf die übrigen
Komoren). Das sind fast so viele Abschiebefälle wie im
ganzen europäischen Frankreich, was an der
Grundsituation vor Ort jedoch wenig ändert (zumal die
Abgeschobenen meist alsbald über das Meer zurückkehren,
was an der Brutalität des staatlichen Vorgehens gegen
diese Menschen nichts ändert). Vergangene Woche wurde
ein ohne seine Eltern auf Mayotte aufgegriffener
Fünfjähriger allein dem Richter vorgeführt und in
Abschiebegewahrsam genommen. In den
Abschiebehaftanstalten herrschen NGOs zufolge unsagbare
Zustände.
Diese soziale Instabilität für bedeutende Teile der auf
Mayotte lebenden – aber oft eben offiziell nicht
existierenden – Bevölkerung ist der Hintergrund für
wachsende Gewalt, ebenso wie für soziale
Unzufriedenheit. Zu Letzterer trägt aber auch die
Politik des französischen Staats und vieler Unternehmen
bei. Zwar sind Grundnahrungsmittel, die an Ort und
Stelle angebaut werden, vergleichsweise billig.
Zahlreiche Bedarfsgüter werden jedoch aus dem
europäischen Frankreich importiert, da die „Metropole“
direkten Wirtschaftsbeziehungen mit Europa den Vorzug
gibt, statt solche mit Nachbarländern wie Madagaskar zu
entwickeln. Viele Waren sind dem entsprechend oft sogar
eher teurer als im europäischen Frankreich. Renten
betragen dagegen oft nur 200 Euro. Der französische
Staat nimmt darauf keine Rücksicht. Wie Salim Nahouda
von der CGT-Mayotte in der linken Pariser Tageszeitung
Le Progrès social an einem Beispiel
ausführt: Eine Verkehrssünde kostet 90 Euro, genau wie
im europäischen Frankreich, egal, ob die Menschen von
einem Bruchteil der dortigen Einkommen leben müssen.
Der
Generalstreik und andere Unmutsbekundungen sind ein
Ausdruck davon, dass das Pendel der öffentlichen
Meinung – nach dem massiven „Votum für Frankreich“ –
nun zurückschwingt.
Auch in
anderen französischen „Überseebezirken“ und „-gebieten“
ist Bewegung aufgekommen. Auf La Réunion begann
vorletzte Woche ein massiv befolgter Streik der
Bauarbeiter für Lohnerhöhungen. Auf Neukaledonien fand
am vorigen Freitag eine Demonstration gegen „das teure
Leben“, also zu hohe Kosten für elementare Bedürfnisse,
statt. Anfang 2009 hatte ein damals 44 Tage dauernder
Generalstreik auf der zu Frankreich gehörenden
Karibikinsel Guadeloupe das gesamte Land im Atem
gehalten.
Editorische Hinweise
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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