Widerspiegelung der Natur und der Gesellschaft vom bürgerlichen Standpunkt aus in der Periode der bürgerlichen Revolution und in der Periode des Imperialismus

042017

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Der Widerspiegelungsprozeß erfolgt als aktive ideelle Aneignung der ob­jektiven Realität auf der Grundlage praktischer Tätigkeit, d.h. der Teil­nahme an der Entfaltung der Produktivkräfte (z.B. im wissenschaftli­chen Experiment und im Herstellen eines Handwerkzeugs) und der Teil­nahme an den politischen Formen des Klassenkampfes. In welchen For­men und mit welchem Wahrheitsgehalt die objektive Realität jeweils an­geeignet wird, hängt also vom historisch erreichten Grad der Beherr­schung der Natur ab und von der Beherrschung der eigenen gesellschaft­lichen Beziehungen. Auf früher Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, wo Entwicklung der Produktivkräfte, Teilung der Arbeit, Bildung von Klassen noch kaum erfolgt ist, verharrt dementsprechend die Widerspie­gelungstätigkeit in Bezug auf die Gesellschaft in affektiven und instinkti­ven Formen und es wird die Natur, entsprechend dem geringen Grad ih­rer Beherrschbarkeit in dämonisierenden, animalistischen, totemistischen Formen widergespiegelt. Jedoch ist diese Qualität der Widerspiegelung im Zusammenhang der gesellschaftlich-historischen Praxis dieses Gesell­schaftsverbandes funktional und enthält in historisch möglicher und not­wendiger Deutlichkeit die objektive Realität, sie ist "Sprache des wirkli­chen Lebens" (97).

Der Grad der gesellschaftlichen Beherrschung der Natur und der Grad der Beherrschung der gesellschaftlichen Beziehungen und damit der mög­liche Wahrheitsgehalt bei der Widerspiegelung der Natur und der Wider­spiegelung der Gesellschaft sind in der Entwicklung der Gesellschaft in widersprüchlicher Weise aufeinander bezogen. So etwa steigert die  kapitalistische Gesellschaft bis zu einem gewissen Zeitpunkt in uner­hörtem Maß die praktische Herrschaft über die Natur und treibt die Entwicklung der Naturwissenschaften voran, gleichzeitig läßt aber die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise, deren Gesetze sich als blinder Zwang "hinter dem Rücken der Produzenten" durchsetzen, die Widerspiegelung der Gesellschaft vom bürgerlichen Standpunkt aus zu immer größeren Mystifikationen gelangen.

Der Widerspruch zwischen den entfalteten Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen äußert sich also auch in den Wi­derspiegelungsformen. Sind mit der Entfaltung der Produktivkräfte den mystifizierenden, dämonisierenden Widerspiegelungen der vormals unbe­herrschten Natur die Grundlagen entzogen, sind die "Erdgeister und Waldteufel" (Lenin) verschwunden, so spuken sie nun in den widerge­spiegelten gesellschaftlichen Verhältnissen umher. So hat Marx bei Ge­legenheit der Analyse der einfachen Warenproduktion gezeigt, wie das naturwüchsige Aufeinanderwirken der für den Austausch produzieren­den Privatproduzenten in der Gestalt des Marktes eine gesellschaftliche Bewegung erzeugt, die unabhängig von Bewußtsein und Willen der Pro­duzenten als fremde, unerkennbare Macht auf diese zurückwirkt. Ein Reflex dieses Widerspruchs im bürgerlichen Bewußtsein zwischen der fortschrittlichen auf die Natur bezogenen Widerspiegelung und der auf die Gesellschaft bezogenen mystifizierenden Widerspiegelung ist das stete Bemühen der geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Ideo­logen, einen Schnitt zwischen sich und den Naturwissenschaften zu machen. So etwa gingen, um ein Beispiel zu nennen, eine Reihe von bürgerlichen Ideologen zu einem Zeitpunkt (Ende des 19. Jahrhun­derts), als die Naturwissenschaften mit wachsendem Erfolg in die Gesetze der Natur eindrangen, dazu über, die Unerkennbarkeit der objektiven Realität zu behaupten und redeten wieder von der Unerkennbarkeit des "Dings an sich". Durch die Art und Weise, in der die Widerspiege­lung der Natur und der Gesellschaft aufeinander bezogen sind, erklärt sich auch, daß der Fortschritt in der Widerspiegelungstätigkeit jeweils abhängt von der Klasse, welche die Produktivkräfte entfaltet und be­reit und fähig ist, das Werk ihrer politischen Entfesselung aus den alten, zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen zu vollbringen. Zum Zeit­punkt der Französischen Revolution hatte sich die bürgerliche Wider­spiegelung der Natur bereits zu einem materialistischen, wenn auch erst mechanischen Standpunkt durchgearbeitet. Die bürgerliche Wider­spiegelung der Gesellschaft erfaßte vor allem die Momente der feudalen Gesellschaft, die der Entwicklung der Produktivkräfte und der Entfal­tung kapitalistischer Verkehrsformen hemmend entgegenstanden. Sie faßte dabei die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als aprio­rische, zeitlose Vernunftprinzipien. Die Gesellschaftstheorie der Ideo­logen der bürgerlichen Revolution widerspiegelt den revolutionären Pro­zeß der Beseitigung des Feudalismus als Vernichtung der feudalen Un­vernunft vor den Schranken ewig feststehender, natürlicher Vernunft­gründe.

Es handelt sich hier um eine Widerspiegelung, die immerhin noch von dem progressiven Handlungsraum der bürgerlichen Klasse in der Perio­de des fortschrittlichen Kapitalismus bestimmt ist. Denn diese Mysti­fikation der Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu Vernunft­gesetzen, die dem Menschen natürlicherweise eingeboren seien, spiegelt die Tatsache wider, daß die kapitalistische Produktionsweise noch die Produktivkräfte entfaltet, somit den gesellschaftlichen Fortschritt för­dert. Kurz: Wie die Natur erscheint auch noch die Gesellschaft be­herrschbar. Der Gesellschaft wird die Gesetzmäßigkeit der Natur un­terlegt. In ihrer Beherrschbarkeit sind beide, Natur und Gesellschaft, für das bürgerliche Bewußtsein in der revolutionären Periode noch eins. In der revolutionären Periode der Bourgeoisie unterstellte die bürgerli­che Ideologie die aus den Gesetzen des Warenaustauschs resultierenden bürgerlichen Handlungsmaximen und Verhaltensnormen als Vernunft­gesetze der Menschheit schlechthin. Die menschliche Gesellschaft er­scheint als eine Assoziation, die aufgrund einer von diesen Vernunftge­setzen bestimmten 'freien Entscheidung' der assoziierten Individuen zustande kommt. In der geschichtlichen Mächtigkeit jener Vernunft­prinzipien spiegelt die Bourgeoisie ihre noch fortschrittliche Rolle wider, spiegelt sich die Tatsache wider, daß die Bourgeoisie noch eine revolu­tionäre Klasse ist.

An der Entwicklung der bürgerlichen Soziologie in den letzten Jahr­zehnten läßt sich der erneute, unter den Bedingungen des Imperialis­mus vollzogene Versuch der Verbindung der Widerspiegelung der Na­tur und der Gesellschaft vom bürgerlichen Standpunkt beobachten. Dieser erneute Versuch reflektiert das Bemühen, zu einem Zeitpunkt der anwachsenden Bedrohung der Herrschaft der Bourgeoisie durch die pro­letarische Revolution, der imperialistischen Gesellschaftsordnung die Gestalt eines naturmächtigen Seins, durchwirkt von unumstößlichen Naturgesetzen, zu geben. Im Unterschied zu der Widerspiegelung der Gesellschaft in der revolutionären Periode der Bourgeoisie, wo der Ge­sellschaft ebenfalls Naturgesetzlichkeit unterlegt wurde (jedoch in der Form der Vernunftgesetze der 'souveränen menschlichen Natur'), wer­den jetzt die Gesetze der imperialistischen Gesellschaft als eine Art von Natur- und Sachzwängen widergespiegelt, die unabhängig vom Menschen bestünden und denen gegenüber flexible Anpassung die ein­zige Chance des Überlebens sei.

a) "Pragmatische" bürgerliche Soziologie (Dürkheim)

Am Beispiel des französischen Soziologen Emile Dürkheim (1858 -1917) läßt sich das zeigen. Dürkheim repräsentiert diese Entwicklung in einem Teilbereich der bürgerlichen Wissenschaft in besonders präg­nanter Weise. Die bürgerlichen Ideologen rechnen ihn zu den hervorra­genden Begründern einer gegen den historischen Materialismus gerich­teten Konzeption einer bürgerlichen "Wissenschaft von der Gesellschaft".

Dürkheim entwickelt seine Konzeption in Frankreich in den Jahren vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg. Während die bürgerlichen Ideo­logen dieser Jahre in der Regel die imperialistische Gesellschaft als von chaotischen Instinkten, Lebensmächten und Willensäußerungen durch­waltet widerspiegeln, gelangt Dürkheim zu der 'Entdeckung', daß die Gesellschaft ebenso wie die Natur von unumstößlichen, vom mensch­lichen Willen unbeeinflußbaren Gesetzen bestimmt sei. Er nennt diese quasi naturgesetzlichen Vorgänge 'soziologische Tatbestände'. Er ent­wickelt seine Theorie auf dem Hintergrund der zunehmenden Notwen­digkeit für das Kapital, die Herrschaftstechniken selbst zu 'verwissen­schaftlichen'. Am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkrieges unternimmt es Dürkheim, Imperialismus und Chauvinismus als einen solchen unumstößlichen, durch keinen Klassenkampf zu beseitigenden 'soziologischen Tatbestand' zu definieren.

"Was wir vor allem kennen lernen möchten, sind die Daseinsgründe der nationalen Gefühle und des Patriotismus; ob sie in der Natur der Dinge begründet liegen oder ob es sich dabei, wie so manche Doktrinäre of­fen oder versteckt behaupten, nur um Vorurteile und Überreste der Barbarei handelt ... Wieder muß der Professor der Philosophie ihnen (den Menschen) begreiflich machen, daß die psychischen und sozia­len Phänomene Tatsachen sind wie andere auch, Gesetzen unterwor­fen, daß der menschliche Wille sie nicht nach Belieben stören kann und daß folglich Revolutionen im strengen Sinn ebenso unmöglich sind wie Wunder ... Liegt es nicht auf der Hand, daß diese Ideen zu jenen gehö­ren, mit denen junge Menschen vor Eintritt in das Gymnasium ausge­rüstet sein müssen ...? " (98)

Die Tatsache, daß in der Periode des Imperialismus die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise samt der damit einhergehenden Un­fähigkeit zur "Herrschaft über die eigenen gesellschaftlichen Beziehun­gen" (Engels) seitens der Bourgeoisie gesteigert wird, diese Tatsache spiegelt die bürgerliche "Wissenschaft von der Gesellschaft" wider als das, ohnmächtige Unterwerfung erheischende Wirken einer gesellschaft­lichen Naturgesetzlichkeit. Die gewaltsame Herrschaft der Bourgeoisie wird zum Gesetz der "Zwangswirkung" der "soziologischen Tatbestän­de" auf die Individuen mystifiziert.

Die "soziologischen Tatbestände", zu denen Dürkheim das pflichtge­mäße Verhalten des "Bürgers eines Staates" (99) rechnet, werden defi­niert als "Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb des einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft derer sie sich ihnen aufdrängen" (100). Man müsse sich bei diesen "soziologischen Tatbeständen" darüber im klaren sein, "daß wir hier vor einem Ding stehen, das nicht von uns abhängig ist. Sofern wir also die sozialen Erscheinungen wie Dinge betrachten, passen wir uns ledig­lich ihrer Natur an." (101)

Nachdem Dürkheim die realen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in Naturgesetzlichkeiten verwandelt hat, denen gegenüber Klassenkampf, Revolutionen sowohl aussichtslos als auch kriminell sind, wird für Dürk­heim anschließend diese Mystifikation zur methodischen Grundlage mög­licher Erkenntnis überhaupt: 'Tatsächlich ist eine Wahrnehmung umso objektiver, je starrer der Gegenstand ist, auf den sie sich bezieht." (102) Also: je weitgehender der Gegenstand - die kapitalistische Gesellschaft als klassenkampffreier Regelkreis widergespiegelt wird, um so größer die Hoffnung, auf der Grundlage und durch Kenntnis dieses apparatemäßig funktionierenden Regelkreises eine umfassende Manipulation nach dem mechanischen input-output bzw. Ursache-Wirkungs-Schema ausüben zu können. Diese Konzeption bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für die weitere Entwicklung der bürgerlichen Soziologie in die Richtung einer "Wissenschaft', der 'Sozialtechnik'. Ihre reale Gestalt gewinnt diese "Wissenschaft' in der bürgerlichen Industriesoziologie mit ihren 'Model­len' zur 'Verbesserung des Betriebsklimas', mit ihren Versuchen, 'soziale Techniken' herauszufinden, welche 'Lohnzufriedenheit' schaffen sollen, ohne daß die Löhne erhöht zu werden brauchten. Diese "Wissenschaft' ist die Ausgeburt der Hoffnung der Bourgeoisie, die Produktionsverhältnisse mittels grenzenloser Manipulation aufrechterhal­ten zu können. Gibt sich eine solche Wissenschaft gegenüber dem 'höheren Blödsinn' anderer Sparten bürgerlicher Ideologie auch einen exakt-natur­wissenschaftlichen Anstrich, so erweist sich ihre Ohnmacht an den wirk­lichen Gesetzen des Klassenkampfes.

Diese Wissenschaft wird in der Regel in unmittelbarer Regie des kapi­talistischen Staatsapparates oder der Konzerne betrieben. Ihr Ansehen in den Machtzentren der kapitalistischen Herrschaft verdankt sie den an sie gehefteten Erwartungen, in politischen und ökonomischen Krisen des Monopolkapitalismus, Techniken der Kanalisierung und Steuerung zu entwickeln. Mit unverhüllter Parteilichkeit bekennen sich die Vertre­ter dieser Wissenschaft zu ihrer Existenzquelle, dem kapitalistischen Machtapparat.

Im Räume ihrer Wissenschaft verwandeln sie die praktischen Vorausset­zungen ihrer Wissenschaft, ihren unmittelbar kapitalistischen Auftrag, in theoretisch-methodische 'Reflexion': "Die Institutionen sind daher nicht nur Zweck-, sondern auch Denksynthesen, in die die einzelnen Wissenschaften mit ihren partiellen Wahrheiten einzugehen haben, um das System eines sozialen Handelns zu ermöglichen." (103)

b) "Kritische Theorie" (Habermas)

In diesem Zusammenhang noch ein kurzes Wort zu den Vertretern der Tcritischen Theorie der Gesellschaft' aus der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Habermas, Offe): Bewundernd stehen diese Theoretiker vor einer solchen 'pragmatischen' Soziologie als einer Form der Verwis­senschaftlichung der kapitalistischen Herrschaftstechniken. Gleichzeitig aber machen sie auf 'Mängel' in diesem System aufmerksam. Aus diesen Mängeln leiten sie ihre Daseinsberechtigung als Pendant zu den 'prag­matischen Soziologen' ab.

"Das Aufregende ... ist ... die Tatsache, daß die zentralen Plan- und Ver­waltungsstellen in einer hochindustrialisierten Gesellschaft mit weitrei­chenden Kompetenzen und entsprechend wirksamen Instrumenten aus­gestattet sein müssen, ohne daß eine wissenschaftliche Rationalisierung die inneren Höfe spontaner Bewertungen und Entscheidungen durch­dringen kann." (104)

Das Kapital seiner 'Spontaneität' zu berauben, in die 'inneren Höfe' seiner Entscheidungszentren die 'wissenschaftliche Rationalisierung' zu tragen, das ist die Aufgabe, welche sich die kritischen Theoretiker setzen. Was ist das für eine Rationalität, für die die kritische Theorie Partei nimmt? : "Wenn daher der Soziologe über die Pragmatik einer analy­tisch-empirischen Planungswissenschaft hinaus noch eine Aufgabe über­haupt zugemutet werden kann, dann ist es die: statt sichtbar zu machen, was ohnehin geschieht, gerade bewußt zu halten, was wir ohnehin machen, nämlich planen und gestalten müssen, gleichviel, ob wir es mit Bewußtsein tun oder blindlings und ohne Besinnung." (105)

"Sie nimmt den prätendierten Sinn der bestehenden Einrichtungen beim Wort, denn noch wo es utopische Worte sind, erschließen diese, realistisch verstanden, am Bestehenden das, was nicht ist." (106)

Die kritischen Theoretiker wollen die pragmatischen Soziologen, die an der Verwissenschaftlichung der kapitalistischen Herrschaftstechniken ar­beiten, ergänzen, indem sie die Gesellschaft zu einem Gegenstand des Ver-stehens, der Interpretation und der Deutung machen. Das reflektierende Individuum, das den "unabgegoltenen Sinn" in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Wege der Deutung, auch "marxistische Hermeneu­tik" genannt, entdeckt, vermag damit die herrschende Macht an den "prätendierten" aber nicht erreichten "Sinn" zu erinnern. Das politi­sche Konzept der kritischen Theoretiker ist deshalb die Herstellung ei­nes Publikums räsonierender und reflektierender Individuen, genannt 'politische Öffentlichkeit'. "Die öffentliche, uneingeschränkte und herr­schaftsfreie Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen ... eine Kommunika­tion dieser Art auf allen Ebenen der politischen und wieder politisch ge­machten Willensbildungsprozesse ist das einzige Medium, in dem so etwas wie 'Rationalisierung' möglich ist." (107) Diese 'Rationalisierung' würde "die Mitglieder der Gesellschaft mit Chancen einer weitergehenden Eman­zipation und einer fortschreitenden Individuierung ausstatten" (108).

Charakterisiert wäre diese Emanzipation durch geringere "Repressivität", verstanden als "Toleranz gegenüber Rollenkonflikten", geringere "Rigi­dität", verstanden als "Chance einer individuell angemessenen Selbstre­präsentation", und durch größere "Rollendistanz", verstanden als die Fähigkeit, gesellschaftliche Nonnen zwar zu "internalisieren" aber der "Reflexion" zugänglich zu erhalten (109).

Die deutsche Soziolinguistik hat nach diesem Schema der räsonierenden und der den Sachzwängen unterworfenen Individuen sich ihre Be­griffe vom "elaborierten" und "restringierten" Sprachgebrauch gemacht. Die restringiert Sprechenden, die zur "Unterschicht" gehören, müssen auf die Stufe der elaborierten Sprache gehoben werden. Sie können sich dann mit der "Mittelschicht" zusammen, die aufgrund ihrer sozialen Her­kunft in der elaborierten Sprache geübt ist, an dem "Prozeß der verall­gemeinerten Reflexion", an der "herrschaftsfreien Diskussion" betei­ligen. (110)

In dem Unterfangen, die Niveauhebung der "Unterschicht" zu bewerk­stelligen, versuchen diese Soziologen ihren "pragmatischen" Kollegen gleichzukommen. Ihren, vom Standpunkt des Kapitals durchaus löbli-Hchen Absichten, der Arbeiterklasse "Toleranz gegenüber Rollenkon­flikten", also Toleranz dem Klassenfeind gegenüber zu lehren, sowie die Arbeiterklasse dazu zu bewegen, von der Revolutionierung der gesellschaft­lichen Verhältnisse zugunsten ihrer "Reflexion" Abstand zu nehmen, diesen Absichten ist die Ohnmacht doch zu deutlich auf die Stirn ge­schrieben, als daß diese "Wissenschaft' im besonderen Maße vom Kapital subventioniert werden brauchte. Die Aufgabe dieser Wissenschaft er­schöpft sich in der Hauptsache deshalb auch darin, Studenten an eine neue Form des "höheren Blödsinns" zu fesseln.

"Kritische Theorie' und 'pragmatische Soziologie', Habermas und Dürkheim (bzw. Schelsky), sind Vertreter einer Widerspiegelung der Gesellschaft vom bürgerlichen Standpunkt aus in der Periode des Imperialismus, die sich wech­selseitig ergänzen. Beide Richtungen teilen die Unfähigkeit, die Gesetze der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Imperialismus zu erkennen. Beide sind sie bestimmt von der Illusion grenzenloser Stabilität des Monopolka­pitalismus. Während aber die 'pragmatische Soziologie' die Gesellschaft als eine Maschine ansieht, deren Gebrauchsanleitung sie für das Kapital anfertigt, sieht die kritische Theorie die Gesellschaft eher wie ein Kunst­werk an, in das sie sich einfühlt, das sie deutet und interpretiert. Setzt die pragmatische Soziologie, indem sie die Gesellschaft als mechani­sche Natur widerspiegelt, die bewußte Unterwerfung unter die Gewalt des Monopolkapitals voraus, so will die 'kritische Theorie' mit dieser Gewalt versöhnen, indem sie die in den bürgerlichen Geisteswissenschaften geübte Form der Unterwerfung, die 'verstehende und interpretierende' Anpas­sung betreibt.

Anmerkungen

97) Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 26
98) E. Durkheim, La philosophie dans les universite's allemandes (1887), zit.nach: E.D., Soziologie und Philosophie, Frankfurt/Main 1967, S. 10 f.
99) Durkheim, Regeln der soziologischen Methode (1895). In: Sozio­logische Texte 3, Neuwied 1965, S. 105
100) Ebd., S. 107
101) Ebd., S. 101
102) Ebd., S. 138
103) H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, S. 126
104) Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1967, S. 228
105) Ebd., S. 228
106) Ebd., S. 229
107) Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt/Main 1968, S. 98
108) Ebd., S. 99

109) Ebd., S. 99
110) Ebd., S. 98

Quelle: Autorenkollektiv sozialistischer Literaturwissenschaftler Westberlin, Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im Klassenkampf, Westberlin 1971, S. 90-102