Editorial
(West)Berlin: Roter 1. Mai [1968-2018]

von Karl Mueller

04/2018

trend
onlinezeitung

"Das Regierungskartell von Gewerkschaftsspitzen und Parteien hat in Westberlin zustandegebracht, was weder im kaiserlichen Deutschland noch unter dem Einfluß der bewaffneten Noske-Macht in der Weimarer Republik möglich gewesen ist: den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse abzuschaffen. Das steht im Aufruf des in dieser Woche konstituierten "Sozialistischen Maikomitees 1968 Westberlin", dem Mitglieder des Republikani­schen Clubs, der Gewerkschaftlichen Studentengruppe an der FU, dem Jüdischen Arbeitskreis, des SDS, des SHB, der Falken, des Sozialistischen Clubs, der Kampagne für Demokratie und Abrüstung und der Jungen Linken in der SPD angehören. Der 1. Mai sei in Westberlin ein Feiertag der "Volksgemeinschaft", die unter dem Druck stalinistischer Politik zustandegekommen sei. Heute, da wirtschaftliche Schwierigkeiten und eine demokratiefeindliche Senatspolitik die Stadt von innenher bedrohten, müsse die Arbeiterklasse Westberlins am 1. Mai ihre Interessen den Herren aus Wirtschaft und Politik deutlich machen. Wie weiter zu erfahren ist, wird das Sozialistische Maikomitee mit Unterstützung des Hamburger Rowohlt Verlags am Nachmittag des 1. Mai in der Deutschlandhalle eine Veranstaltung durchführen, die unter dem Motto "Kampf für direkte Demokratie" steht. Unter dem gleichen Motto findet am Vormittag des 1. Mai die Kampfdemonstration der Westberliner Sozialisten statt. Bis zum 1. Mai sollen Flugblätter und Veranstaltungen die Bevölkerung zur Teilnahme an dieser Kundgebung aufrufen."

Diese Mitteilung stand  im "Berliner Extra-Dienst" vom 06. April 1968. Seitdem gibt es in Berlin (zunächst im Westteil) am 1.Mai mindestens eine - von "Gewerkschaftspitzen und Parteien" unabhängige 1.Mai-Demo mit sozialrevolutionärer Ausrichtung. Und das ist gut so! Im Editorial die bewegte Geschichte dieses "roten 1. Mai" über 50 Jahre nachzuzeichnen, würde allerdings dessen Rahmen sprengen, so dass wir uns mit einem kurzen Blick auf den Anfang dieser 1.-Mai-Geschichte und die heutige Situation begnügen wollen.

Auffällig für die gegenwärtige Situation ist, dass wir Anfang (!) April 2014 rund 40 sozialrevolutionäre 1.Maiaufrufe aus der BRD dokumentieren konnten, während es heute 2018 am 3. April nur vier (Stand 3.4.18) sind. Wir möchten über die politisch-ideologischen Gründe dieser Ebbe nicht spekulieren. Allerdings hoffen wir, dass alsbald folgende Maiaufrufe, sich dem Tenor des Berliner Aufrufs anschließen, der die Internationale Solidarität angesichts der brutalen Versuche der türkischen Neoimperialisten und ihrer Unterstützer, das linke Projekt "Rojava" militärisch zu zerschlagen, ins politische Zentrum für diesen 1.Mai stellt.

Eine im Hinblick darauf vergleichbare Situation hatten wir vor dem 1.Mai 1968:

Die internationale Vietnamkonferenz (17./18. Februar 1968) war mit einer Massendemo in Westberlin unter roten Fahnen zu Ende gegangen, wo die radikale Linke über alle sonstigen Differenzen hinweg ihre Solidarität mit dem Kampf des "vietnamesischen Volkes für Unabhängigkeit und sozialistische Demokratie gegen den barbarischen US-Imperialismus" bekundete.(siehe dazu: Schlußerklärung der Internationalen Vietnam-Konferenz). Allerdings ließ die oben zitierte Mitteilung, die 1. Mai-Demo 1968 unter die zentrale Parole "Kampf für direkte Demokratie" zu stellen, befürchten, dass die internationale Solidarität am ersten autonom organisierten "1. Mai" in Westberlin nur einen  Nebenplatz einnehmen werde. Und so kam es dann auch.


Quelle: MAO-Archiv - dort kann die komplette Ausgabe gelesen werden

In der 1.Mai-Zeitung tauchte die internationale Solidarität im Hinblick als Thema fast gar nicht mehr auf. Und danach blieben internationale Fragen weiterhin außen vor - nämlich solange wie die "Außerparlamentarische Opposition" (APO) den Kampf gegen die "Notstandsgesetze als einen gemeinsamen aller linken Strömungen führte.

Zwar wurden die Klassenkämpfe in Frankreich im Mai zur Kenntnis genommen, aber erst im August 1968 rückte der Internationalismus wieder in den Mittelpunkt von linken Debatten, als nämlich die Truppen der Warschauer Paktstaaten in die CCSR einmarschierten, um eine Reform des Sozialismus zu unterbinden. Dieser brutale Überfall führte zur ersten Spaltung der APO: In moskauorientierte, die Invasion befürwortende Kräfte und Kritiker*innen des Einmarsches. Ab Mitte 1969 zerfiel schließlich der politische Block, der die Vietnam-Konferenz initiiert und getragen hatte, in ein Patchwork aus K- und Spontigruppen mit ihrem jeweiligen politischen Internationalismusverständnis.

Wenn es richtig ist, dass das Lernen aus der Geschichte für die Veränderung des "Hier und Jetzt" substantiell ist, dann könnte die Lehre aus 1968 lauten, kehren wir die damalige Entwicklung um. Machen wir die gemeinsame Solidarität - von anarchist*innen bis MLer*innen - für Rojava zum ersten Schritt der Überwindung des linken Zirkelwesens in der BRD.

++++++++++++++++++

Zum Zerfall der APO und der Herausbildung der "K-Gruppen"-Bewegung gehörte auch das Entstehen einer selbstorganisierten Frauenbewegung, die in der BRD sinnbildlich mit den Tomatenwürfen der Frauen auf die SDS-Funktionäre im September 1968 begann. Diese Aufkündigung eines gemeinsamen Diskursraumes mit den Männern - zunächst in der Beschränkung auf sogenannte Frauenfragen - führte trotz sukzessiver Erweiterung der Inhalte bis in die 1980er Jahre nicht vollends zur theoretischen Abnabelung von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.


Die Abbildung wurde entnommen aus: Feminismus,
Inspektion der Herrenkultur, hrg. v. Luise F. Pusch, Frankfurt/M 1983, S. 466

Dass nicht nur die "patriarchalische" sondern auch die "feministische" Lesart von Marxtexten bis heute von Irrungen und Wirrungen begleitet wird, soll in dieser Ausgabe durch zwei Texte  aus diesem Jahrtausend unterstrichen werden. Zunächst handelt es sich um eine Rezension des Buches von Silvia Federici "Caliban und die Hexen", wo die wohlwollende Rezensentin keine Probleme mit der ahistorischen Behandlung der Marxschen "Ursprünglichen Akkumulation" durch Silvia Federici hat. Ines Schwerdtner wirbt in ihrem Aufsatz dafür, dass eine "Neue Klassenpolitik" von einer "marxistisch-feministischen" Analyse getragen wird. Sie erfindet dafür den Begriff "Klassentheorie nach Marx". Ein Blick ins Marxsche "Kapital" (MEW 25, S.892f) zeigt allerdings, dass diese dort leider nicht zu finden ist.

Zum Thema Marxismus und Frauen steuerte für diese Ausgabe Detlef Georgia Schulze eine synoptische Auflistung von Zitaten bei, worin sie*er sich einen Diskurs-Korpus namens "Zetkin-Linke" denkt, um diesem sein*ihr Konstrukt "feministischer Gegenpositionen" dagegenzuhalten. Auch hier heißt es wieder, Irrungen & Wirrungen eingeschlossen, wenn Detlef Georgia Schulze schreibt: " 'Die „Frauenfrage' ließe sich nur dann als 'Klassenfrage' (im marxistischen Sinne) verstehen, wenn Frauen eine Klasse wären (was sie aber im marxistischen Sinne nicht sind)."

++++++++++++++++++

Nachdem TREND-Redaktionsgenoss*innen mit Genoss*innen der maoistischen Gruppe "Internationalistisches Kollektiv" im März ein Gespräch über deren politisches Selbstverständnis und ihre Differenzen zu anderen maoistischen Gruppen geführt hatten, wollten wir ursprünglich - um diese Differenzen interessierten Genoss*innen bekannt zu machen - eine dazu vom "Kollektiv" empfohlene Schrift mit dem martialischen Titel "Wider die Bande von rechten Liquidatoren, die als „Jugendwiderstand“ ihr Unwesen treiben" in dieser Ausgabe ganz oder auszugweise reprinten.

Nachdem wir uns durch diese Schrift gequält hatten, entschieden wir auf "Nichtveröffentlichung", denn es handelt sich u.E. um eine inhaltsleere Propagandaschrift, die davon lebt, Stories aus der juvenilen Maoist*innen-Szene zu erzählen. In diese werden dann Glaubenssätze von folgender Qualität wie Leitplanken eingerammt: 

"Der Marxismus unterscheidet zwischen Idee, Haltung, Kriterium und Standpunkt. Wobei diese in der Reihenfolge zunehmend systematisiert sind und ein Standpunkt eine begründete Stellungnahme im Klassenkampf darstellt. Eine Linie ist ein zusammenhängendes System von Standpunkten, das einer Weltanschauung entspricht. Die proletarische Linie ist die (im Sinne des Proletariats) richtige und korrekte Linie, anhand derer man die richtigen taktischen und strategischen Entscheidungen zu jedem Zeitpunkt, in jedem Moment der Entwicklung des Klassenkampfes treffen kann."

Oder

"Die höchste Form der Unterstützung der Revolution in anderen Ländern ist die Entwicklung der Revolution im eigenen Land. Das bedeutet, die beste Unterstützung der Volkskriege auf der Welt ist die Einleitung des Volkskrieges im eigenen Land."

Wer dies für unterhaltsam oder gar lehrreich hält, findet die Schrift zum Weiterlesen im Netz hier: http://www.demvolkedienen.org

++++++++++++++++++

Ein wenig Statistik zum Schluss

Quelle: https://www.alexa.com/topsites/category/World/Deutsch/Medien/Alternative_Medien 

Laut Alexa entfallen 92,3 % des Infopartisan-Traffic auf TREND