Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Der Schweinepriester in einer sunnitischen Variante?
Tariq Ramadan von Vergewaltigungsvorwürfen schwer belastet – Eine schwere Krise in den politisierten Islamverbänden ist die Folge

04/2018

trend
onlinezeitung

Doch so viele!: Ein paar Dutzend Menschen kamen am Samstag, den 03. März 18 auf den Trocadéro, den Pariser Platz, von dem ein Teil offiziell „Vorplatz der Menschenrechte“ (Parvis des droits de l’homme) heißt und auf dem oft besonders symbolträchtige Kundgebungen stattfinden. Unter den Teilnehmenden waren viele eher fortgeschrittenen Alters, Frauen mit Kopftüchern und einige Männern mit angegrauten Bärten. Sie forderten mit mehr oder weniger frenetischer Überzeugung „Freiheit für Tariq Ramadan!“ und untermalten dies unter anderem mit Herzchen, die neben das rot-weiße Kreuz der Schweizer Fahne gemalt waren. Dies hängt damit zusammen, dass der islamische Theologe, Prediger und Hochschullehrer Tariq Ramadan seit langen Jahren in Genf ansässig war, auch wenn er daneben in Oxford als Islamwissenschaftler unterrichtete. Seit dem 02. Februar dieses Jahres allerdings hat er vorläufig eine Adresse in Fleury-Mérogis südlich von Paris. Dort liegt Europas größte Haftanstalt. Ramadan belegt dort eine Zelle im Prominententrakt.

Größeren Erfolg als die Kundgebung hingegen hatte die Kampagne Free Tariq Ramadan bislang allerdings im Internet. Am 21. Februar d.J. starteten deren Betreiber einen Crowdfunding-Aufruf in den social media zur Finanzierung von Anwalts- und Kampagnenkosten. Innerhalb von fünf Tagen kamen dabei über 100.000 Euro zusammen. Zum selben Zeitpunkt (d.h. Ende Februar 18) hatte eine Facebook-Seite unter demselben Motto 43.000 Abonnent/inn/en; unter ihnen mögen neben Unterstützern sicherlich auch Neugierige, Journalistinnen oder politische Gegner sein. Und eine Onlinepetition erreichte bis in der letzten Februarwoche d.J. 99.000 Unterschriften. Ein Twitterkonto unter dem Usernamen FreeTariqRamadan hatte mit damals 642 Followern - am 07. März d.J. waren mittlerweile 1.003 verzeichnet - vergleichsweise geringeren Anklang.

Me too & der Moralprediger

Tariq Ramadan ist, neben dem amtierenden Finanzminister Gérald Darmanin, das zweite prominente „Opfer“ – der Begriff ist natürlich unpassend - des französischen Ablegers der internationalen „MeToo“-Kampagne gegen sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt geworden. Darmanin konnte bislang die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs von sich abprallen lassen. Nicht so Tariq Ramadan.

Seit Oktober 2017 wurden explizite Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn laut. Die Betreffenden betonen, durch den Kontext der französischen Kampagne Balance ton porc (ungefähr: „Verpetze Deine Sau“), die dem internationalen „MeToo“-Phänomen entspricht, ermutigt worden zu sein.

Zwei der Frauen, die entsprechende Vorwürfe gegen ihn erhoben, waren zum damaligen Zeitpunkt identifiziert: Die eine ist nur unter ihrem Pseudonym bekannt, „Christelle“, und ist eine französische Islamkonvertitin mit einer Körperbehinderung an den Beinen. Sie beschuldigt Ramadan, bei einem Besuch auf seinem Hotelzimmer im Vorfeld einer Konferenz des Theologen im Jahr 2009 sei dieser zudringlich geworden und habe dabei ihre Behinderung an den unteren Gliedmaßen ausgenutzt. Die zweite Klägerin ist auch mit ihrem Klarnamen sowie ihrem Gesicht an die Öffentlichkeit gegangen: Es handelt sich um Henda Ayari, eine frühere Salafistin, die heute von ihrer vormaligen Ideologie abgefallen ist und als Kämpferin für Frauenrechte auftritt. Sie gibt an, Tariq Ramadan, beeinflusst von seinen Schriften, im Frühjahr 2012 in einem Hotelzimmer aufgesucht zu haben. Eric Morain, ein Opferanwalt, kündigte unterdessen an, es könnten weitere Strafanzeigen gegen Ramadan eintreffen. Er selbst habe eine der betreffenden Frauen, die bislang nur als Belastungszeugin und noch nicht als Klägerin im eigenen Namen vernommen worden sei, dabei begleitet.

Am Abend des 07. März d.J. kam eine dritte Strafanzeige hinzu. Die marokkanischstämmige Klägerin gibt an, insgesamt neun mal in den Jahren 2013 und 2014 durch Ramadan vergewaltigt sexuell missbraucht worden zu sein, unter dessen psychologischem Einfluss sie gestanden habe. // Vgl. https://francais.rt.com // Zwar scheinen einige Fragezeichen über ihrer Aussage zu stehen, und ihre Glaubwürdigkeit zu belasten: Besagte Klägerin trat in den Jahren ab 2011 bereits als Zivilklägerin gegen einen anderen Herrn mit – sagen wir mal – mutmaßlich ausufernden respektive übergriffigen Sexualpraktiken auf, einen gewissen Dominique Strauss-Kahn („DSK“), arbeitete früher als Edelprostituierte und scheint die Nähe gewisser Figuren gesucht zu haben. (Umgekehrt suchten aber auch ebendiese Figuren die ihre, also die Nähe dieser Dame.) Sie selbst gibt an, auf Sinnsuche an den islamischen Theologen und Prediger Tariq Ramadan geraten zu sein, welcher sie just mit ihrer Vergangenheit quasi erpresst habe: Sie möge ruhig auspacken, man glaube ihr ohnehin nicht.

Allerdings verfügt sie allem Anschein nach über einen starken Trumpf (neben mit den anderen Klägerinnen übereinstimmenden Details): Zusammen mit ihrer Klage wurden erstmals auch Fotoaufnahmen und SMS-Nachrichtenwechsel mit Tariq Ramadan zu den Akten gegeben. Offenkundig betrieb Ramadan wirklich einen regen Austausch mit ihr – fragt sich eben nur, mit welcher Motivation seinerseits!

Die juristische Unschuldsvermutung gilt für Tariq Ramadan ebenso wie für andere Menschen, weswegen an dieser Stelle selbstverständlich kein Schuldspruch über ihn gefällt werden kann, bevor ein Prozess stattgefunden hat. Die Ermittlungsbehörden halten die Vorwürfe allerdings für stichhaltig genug, dass sie Ramadan am Ende einer polizeilichen Vernehmung und Gegenüberstellung mit der Klägerin „Christelle“ am 02.02.18 in Untersuchungshaft nahmen – um zu vermeiden, dass Druck auf die Klägerinnen oder auf Zeuginnen ausgeübt und die Ermittlungen behindert würden, hieß es dazu. Tatsächlich hatten solche Personen zum Teil Dutzende von mehr oder minder unflätigen Hassbotschaften in Form von SMS oder E-Mails erhalten, wohl von Ramadan-Sympathisanten.

Ausschlaggebend für die Verhängung von Untersuchungshaft war allerdings, dass „Christelle“ Details zu Tariq Ramadans Körperbau angeben konnte, die sie wohl nicht wissen könnte, falls die Vorwürfe unbegründet wären; in den Medien ist von einer kleineren Narbe an Ramadans rechter Hüfte die Rede. Die Anhänger Tariq Ramadans präsentierten in der Öffentlichkeit umgekehrt ein ausgedrucktes Flugticket, das belegen solle, dass Ramadan an dem von „Christelle“ genannten Datum, dem 09. Oktober 2009, nicht bereits am Nachmittag in Lyon gewesen sein könne.

Ein Alibi bröckelt

Tariq Ramadan war an dem Tag aus London angereist, um einen Vortrag in einem überfüllten Saal zu halten – in jener Zeit fanden seine Konferenzen bei jungen Muslimen besonders im Raum Lyon zeitweilig erheblichen Anklang -, und „Christelle“ gab an, die Ereignisse hätten sich am Nachmittag abgespielt, draußen sei es hell gewesen. Das elektronische Ticket sollte nun beweisen, Ramadan sei erst gegen 19 Uhr am Flughafen von Lyon eingetroffen, also mehr oder weniger kurz vor seiner Abendveranstaltung, zu der er gegen 21 Uhr verspätet eintraf.

Nun präsentierte allerdings am 24. Februar 18 die Webseite The Muslim Post ein Dokument, das belegte, dass kurz vor Tariq Ramadans Abreise eine Umbuchung erfolgt sei. Der Theologe wechselte demnach seine Reiseroute, flog (infolge einer Veranstaltung im südspanischen Jerez am Vortag) schlussendlich über Madrid und traf am fraglichen Tag bereits um 11.15 Uhr in Lyon ein.

Spaltung in Islamverbänden

Bemerkenswert ist, dass es gerade eine dezidiert muslimische Webseite war, die diese Information veröffentlicht hat, welche seitdem von zahllosen französischen Medien aus dieser Quelle übernommen wurde. Es widerspiegelt in Wirklichkeit die extrem tiefe Spaltung in muslimischen Kreisen in Frankreich, die durch die Ramadan-Affäre nachweislich hervorgerufen wurde.

Denn während deutsch-superdeutsche Ideologieproduzenten, die sich selbst für „Ideologiekritiker“ und irgendwas mit „antideutsch“ halten, in diesen Tagen erklären, bei der „MeToo“-Kampagne und ihren Ablegern handele es sich um eine „massenhysterische asexuelle Belästigung“ (sic) - vgl. http://redaktion-bahamas.org// ; ja, genau dasselbe rechtslastige pseudo-intellektuelle Gesocks tritt als Ankläger gegen die Frauenrechtskampagne UND gegen „den“ Islam auf -, werden inzwischen auch in manchen männlich-muslimischen Kreisen die Vorwürfe sexueller Belästigung von Frauen durchaus ernst genommen.

Nicht so bei Figuren wie Yamine Makri und Fetulalh Othmani. Diese beiden Imame, die treue Unterstützer Tariq Ramadans geblieben sind, beschäftigen sich eifrig damit, die gegen ihr Idol auftretenden Frauen im Internet mit Dreck zu bewerfen. Ihnen und einigen weiteren Anhängern des Theologen zufolge handelt es sich um Frauen mit niedriger Moral und schmutzigen Absichten, die sich nun dazu hergeben, sich für niedrige Propagandaziele einspannen zu lassen. Das dahinter stehende Ziel der Planer sei es, einen ausgewiesenen muslimischen Religionskenner und Prediger „auszuschalten“, als Figur des öffentlichen Lebens zu vernichten. Dahinter stünden wahlweise Feinde des Islam, atheistische Kreise oder - wie bei den social media dann oft schnell folgt – „die Zionisten“.

Letzterer Vorwurf wird mitunter dahingehend konkretisiert, dass erwähnt wird, die rechtszionistische, mitunter deutlich rassistisch argumentierende Vereinigung Europe Israël habe auf ihrer Webseite mit folgendem Hinweis für ein Buch der Klägerin Henda Ayari geworben: „Kaufen Sie dieses Buch, und finanzieren Sie mit fünf Prozent des Kaufpreises Europe Israël!“ Dazu wird ein Screan-shot geliefert, um die Aussage zu belegen – die auch tatsächlich stimmt. Ja, Überprüfungen haben ergeben, dass dies sogar zutrifft. Es stützt jedoch nicht die zugrunde liegende Behauptung, die Vereinigung stehe hinter Ayari, ja steuere ihre Aussagen: In Wirklichkeit hatte Europe Israël schlicht und einfach eine Reihe von Henda Ayaris Büchern bei Amazon zu einem Rabatt von fünf Prozent des Kaufpreises aufgekauft - und vertrieb sie selbst zum Nominalpreis weiter, in der Hoffnung, durch die Preisspanne eine Gewinnmarge erzielen zu können, in der Hoffnung, daraus Finanzen zu schöpfen.

Die Betreiber der sich darum spinnenden Kampagne interessieren solche Details natürlich nicht. Bei Youtube sind dementsprechend Videos unter Titeln wie „Henda Ayari, Agentin des Mossad“ aufzurufen, deren Überschrift den gesamten Inhalt vorwegnimmt.

Doch nicht alle muslimischen Kreise, selbst orthodoxe, teilen diese Kampagnen und ihre Zielsetzungen.

Insbesondere die Vereinigung Musulmans de France (früher UOIF), die die Muslimbrüder in Frankreich repräsentiert, ist allem Anschein tief gespalten. Am 18. Februar 18 sollen bei einer internen Tagung in Lyon heftig die Fetzen zum Thema geflogen sein. Viele Repräsentanten dieser Strömung distanzieren sich inzwischen von Tariq Ramadan, zumal intern bekannt war, dass er nicht nur einmal seine Aura benutzt haben soll, um sich Frauen dienstbar zu machen.

Am Osterwochenende hielt die Vereinigung Musulmans de France oder Ex-UOIF – wie alljährlich zu diesem Datum und am selben Ort, seit 1983 – ihre öffentlichen Veranstaltung in der Pariser Vorstadt Le Bourget ab. Dazu kamen, wie in jedem Jahr, Zehntausende Menschen. Ein Stand, an welchem Unterstützungsunterschriften für Tariq Ramadan gesammelt wurden, rief laut mehreren Medienberichten bei einem Teil der Besucher/innen Verstörung oder Kritik hervor (vgl. http://www.leparisien.fr/ ). Der Vorsitzende der Ex-UOIF, Amar Lasfar, verteidigte Tariq Ramadan zugleich tendenziell, sich dabei stets auf die – argumentativ überstrapazierte – Unschuldsvermutung berufend. Zugleich argumentierte er, selbst im Falle einer Verurteilung des Theologen blieben seine positiven Ideen bestehen. (Vgl. http://www.europe1.fr/) Allerdings bleibt er insofern vorsichtig, als er davon spricht, die Justiz solle unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen, und es komme nicht in Frage, von einer „Verschwörung“ zu sprechen; und jedes muslimische Opfer (gemeint: sexueller Übergriffe) solle den Täter denunzieren. (Vgl. https://www.saphirnews.com/ ) Ganz offensichtlich versucht die Leitung des Verbands, Tariq Ramadan weiterhin die Stange zu halten oder ihm Brücken zu bauen, zugleich jedoch auf wachsende Kritik auch von der eigenen Basis einzugehen.

Andere äußern sich nuanciert wie der Imam im nordfranzösischen Roubaix, Abdelmonaïm Boussenna. Er erklärt zwar, Ramadan derzeit zu unterstützen, da die Unschuldsvermutung gelte, fügt aber hinzu, falls seine Schuld nachgewiesen werde, sei dieses Urteil zu respektieren“. Vor allem erklärt er gegenüber der Regionalzeitung La Voix du Nord: „Man muss aufhören, von einer angeblichen Ungleichbehandlung durch die Justiz zu reden“ – wie der harte Kern der Unterstützer Ramadans -, „das klingt nach Verschwörungstheorie. Es gibt keine Verschwörung“.

Hintergründe

Tariq Ramadan ist einer der Enkel des Begründers der Muslimbrüder in Ägypten, Hassan al-Banna. Er selbst gibt sich – im Gegensatz zu seinem salafistisch orientierten Bruder Hani Ramadan - bei seinen Vorträgen in Frankreich ein moderateres und modernes Image und betont vor allem die Gesetzestreue in den nicht-muslimisch geprägten Ländern, in denen Muslime leben und in denen ihm zufolge sie an den Institutionen partizipieren sollten. Seit Jahren wird Ramadan jedoch vorgeworfen, etwa durch den Buchautor Ian Hamel, die Schriften von Hassan al-Banna verfälschend übersetzt zu haben, um ihn in milderem Licht erscheinen zu lassen. Aus „Soldaten“, die al-Banna im Original befehligen möchte, werden bei Ramadan etwa (mit einem ziemlich dehnbaren, und eher sympathisch klingenden Begriff belegte) „Aktivisten“.

Auch internationale politische Akteure, die sich zu Legitimationszwecken auf „den Islam“ berufen und sich als seine Repräsentanten darstellen, mischen sich nun in die Ramadan-Affäre ein – und stützen dabei mitunter wüste Verschwörungs- und andere Quarktheorien. Die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu, in Zeiten des Erdogan-Regimes und der Mediensäuberung in ihrem Land, publizierte am 19. Februar 18 einen Beitrag, in dem es unter anderem hieß: „Fast 125 Jahre nach der Dreyfus-Affäre erleben wir in Frankreich einen weiteren Rufmord, erneut mit politischen und rassistischen Motiven.“ // Vgl. https://aa.com.tr/fr/ // Denn, so fuhr die Quatschargumentation fort: „Die aus der Geschichte gezogenen Lehren enthüllen, dass diese gegen Tariq ­Ramadan ausgeheckte Verschwörung mit explizit antimuslimischen ­Motiven nicht nur auf die Persönlichkeit eines einzelnen Muslims zielt, sondern auf die ganze muslimische Gemeinschaft Frankreichs und ­Europas.“

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autore für diese Ausgabe. Es ist eine gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung, die am 15. März 18 in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World‘erschien. Die Ausgangsfassung wurde für den vorliegenden Beitrag vom Autor nochmals aktualisiert, insbesondere um kleine Ausführungen zum jährlich am Osterwochenende stattfindenden Islamkongress der Ex-UOIF erweitert.