Die Anfänge der Logik und Dialektik in Griechenland
Teil 1: Die Ionischen Naturphilosophen

von Athanase Joja

04/2019

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Die großen griechischen Schriftsteller priesen oft ihre eigenen Werke. So leitet etwa Thukydides seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges" mit folgenden stolzen Worten ein: „Dem Verfasser war es um ein Werk von dauerndem Wert, nicht um einen augenblicklichen Erfolg bei der Leserwelt zu tun."(1) Mit ebensolchem berechtigten Stolz beendet Aristoteles das Orga-non folgendermaßen: „... in der Rhetorik lag viel alter Stoff vor, in der Syllogistik aber hat bis jetzt unsere ganze Kunst darin bestanden, daß wir mit großem Aufwand von Zeit und Mühe planlos herumsuchten. Erhalten wir nun bei Betrachtung einer Theorie, die unter solchen Umständen zu entwer­fen war, den Eindruck, daß sie, verglichen mit den anderen, durch wissen­schaftliche Überlieferung stetig gewachsenen Disziplinen, gut ausgefallen ist, so bleibt uns allen, beziehungsweise unseren Zuhörern, nur übrig, mit den Mängeln dieser Theorie nachsichtig, für ihre Errungenschaften aber recht dankbar zu sein."(2)

Aristoteles war mit Recht stolz auf das Organon, das sicherlich eine der größten Leistungen des menschlichen Denkens ist. Noch heute fällt es schwer, anders als mit Bewunderung über das Organon zu sprechen. Vollendet und monumental wie das Parthenon, ist es reale Begriffsarchitektur, so wie das Parthenon steingewordene Logik ist. Diese unsterblichen Monumente des Hellenischen Genius gehen von demselben Gefühl für Maß, Ordnung, Ratio­nalität und Schönheit aus, das mit den griechischen Worten kosmos und logos zusammengefaßt wird.

Ursprünglich bedeutete „kosmos" Ordnung. Koßfieo eox£G$ai(*) bedeutet in der „Ilias" „geordnet marschieren". Kard Kod^ov bedeutet in der „Odyssee" „in Ordnung, wie es sich gehört" (8. Gesang, Vers 489), und weiter, in Vers 492, bezeichnet mnov xoO/U>$ dovQari'ov die Organisation, Konstruktion, Struktur des hölzernen Pferdes, das von Epeios gebaut worden war, um die Trojaner zu täuschen. In der „Ilias" wird kwt/tOS in der Bedeutung von „Schmuck", „Ausschmückung" gebraucht (24. Gesang, Vers 187). In Homers Poemen tritt Ordnung schon als Grundlage der Schönheit auf. Später, bei Heraklit, Parmenides und Pythagoras, bedeutet Kosmos „die Ordnung des Universums, das Universum".

KofffiovtovSe", sagt Heraklit, „diese Weltordnung", übersetzt Diels.(3) Das Universum erschien den Griechen nicht nur als eine universitas rerum, sondern insbesondere als Organisation, Ordnung der Dinge zu einem Sy­stem, als Proportion, als Vernunft und als Prozeß, Entwicklung - als logos, physis.

Kosmos ist Ordnung, aber Ordnung setzt Vernunft voraus, und diese vernünftige Ordnung ist Prozeß, Wachstum, Natur. Das Universum entfal­tet sich entsprechend seiner objektiven, wesentlichen, immanenten Ursache, entsprechend seinen eigenen Gesetzen. Schon bei Anaximander ist Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen des Existierenden im apeiron enthalten.(4) Die Existenz gewisser Dinge ist „ungerecht" für andere Dinge, denn sie schränkt die letzteren ein und beeinträchtigt ihre Unabhängigkeit. Für die Ungerechtigkeit, die sie einander antun, leisten sie einander Sühne und Buße nach der Zeit Anordnung.(5) Gerechtigkeit, Regel, Gesetz - dike - besteht im unaufhörlichen Zeitablauf, der die Ungleichheit dadurch aufhebt, daß alle Dinge unvermeidlich in das apeiron zurückkehren, aus dem sie entstan­den sind und das allein ewig und immer jung ist.(6) Das Existierende entsteht aus seinem materiellen Anfang (äQxi]) und vergeht in ihn; bei Thaies ist es das Wasser, bei Anaximander das unbestimmte Unendliche, bei Anaximenes die Luft.

Aristoteles bemerkt zu Recht: „Von denjenigen nun, die zuerst philosophiert haben, hielten die meisten die materiellen Prinzipien ausschließlich für die Prinzipien aller Dinge. Denn dasjenige, woraus alles Seiende besteht, und woraus es ursprünglich entsteht und in das es letzthin vergeht, indem die Substanz zwar beharrt, aber in ihren Eigenschaften wechselt, das ist ihnen zufolge Element und Prinzip des Seienden."(7) Im Gegensatz zu den theologoi, die die Welt mythologisch erklärten, suchten die Naturphilosophen - pbysio-logoi - eine Erklärung nicht in den Handlungen eines übernatürlichen We­sens, sondern in der Natur selbst, im materiellen Prinzip. Sie glaubten an eine Vernunft in der Natur, daran, daß sie mit einer Gesamtheit von we­sentlichen, ihr immanenten Gesetzen übereinstimmt. Während Pherekydes behauptete, „Zas und Chronos waren ewig wie auch Chtonie; Chtonie aber erhielt den Namen ,Erde', da ihr Zas die Erde als Ehrengeschenk gibt"(8), suchten die Naturphilosophen die rationale Erklärung der Welt in materiel­len Prinzipien, und Anaximander gelangte zur Abstraktion der Materie als solcher, der unbestimmten Materie, die Quelle aller Bestimmungen ist, mit einem Wort, zum Materiebegriff. Engels zitiert die erwähnte Passage aus der „Metaphysik" und bemerkt dazu: „Hier also schon ganz der ursprüng­liche, naturwüchsige Materialismus, der ganz natürlich in seinem Anfang die Einheit in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen als selbstverständlich ansieht und in etwas Bestimmt-Körperlichem, einem Be­sonderen sucht, wie Thaies im Wasser."(9)

Mit den Milesiern und insbesondere mit Anaximander entstanden ratio­nale Erklärung und logische Abstraktion im Denken der Griechen. Mit dem Begriff des apeiron entstand der philosophische Materiebegriff, der in der Geschichte des griechischen Denkens wahrscheinlich der erste philosophische Begriff, der Ausgangspunkt bewußten logischen Denkens, der Logik über­haupt ist. Die Dialektik des Einen und Vielen, des Einen, das sich entzweit, sich differenziert, sich verdoppelt, ist im Begriff des apeiron enthalten. Das apeiron ist das unbestimmte (und unendliche) Einheitliche; es ist eine un-differenzierte Materie, die spontan aus dem Zustand der Undifferenziertheit in Unterschied, Gegensatz und Widerspruch übergeht. Sie wird die Ursache alles Existierenden, des unendlichen Bereichs der Erscheinungen des Kos­mos, in welchem eine notwendige Ordnung herrscht, in welchem zwischen den Dingen Relationen und Korrelationen bestehen, - eine Wechselwirkung, die Gerechtigkeit, Ordnung und Ausgleich unter den Erscheinungen herstellt. Apeiron ist ä(ixrj, Prinzip, und so wird der Begriff „Prinzip" in das philo­sophische Denken eingeführt.(10) Apeiron ist ein dialektischer Begriff, der noch vor den Paradoxien des Heraklit als Keimzelle der dialektischen Logik betrachtet werden kann. Thaies und Anaximenes hielten sich an die sinnliche Erfahrung; Anaximander, der ebenfalls von der sinnlichen Anschauung aus­ging, vollzog den Sprung in das Rationale, in die Logik, und das ist in der Geschichte des philosophischen Denkens und der Geschichte der Logik über­aus wichtig. Wir meinen, daß die Logik (und selbst die dialektische Logik) von Anaximander an datiert werden sollte, über den der naive Diogenes Laertius schrieb: „Er behauptete, Anfang und Urelement sei das Unbe­grenzte (Apeiron), ohne Luft, Wasser oder sonst irgend etwas abzusondern. Die Teile seien wandelbar, das Ganze aber unwandelbar."(11) Es sei hier ver­merkt, daß Anaximander - vor Demokrit - die Unendlichkeit der Welten behauptete. Auf die Frage, weshalb sich das Existierende, die Himmel und Welten aus dem Unendlichen ausgeschieden hätten, antwortet Anaximander: auf Grund der ewigen Bewegung. Die Bewegung ist der unbestimmten Ma­terie immanent, sie ist ihre fundamentale Eigenschaft. Die Bewegung ist die physikalische Form der selbst undifferenzierten Materie. Durch die Bewe­gung entwickelten sich die Gegensätze, die dem Wesen nach im apeiron ent­halten sind.

Zu sagen, daß die ursprüngliche, anfängliche Materie unendlich ist, bedeu­tet, nichts über ihre Natur zu sagen, bedeutet, sie nicht zu bestimmen; Thaies, Anaximander und Anaximenes ging es darum, die ursprüngliche Materie zu finden und sie zu bestimmen, ihre Qualität, nicht ihre Quantität aufzuwei­sen. Thaies und Anaximenes definierten sie als bestimmte Natur, im Gegen­satz zu Anaximander, der sie als unbestimmte Natur definierte.

Diese ursprüngliche Materie ist qualitativ unendlich, d. h. unbestimmt, aber diese Unbestimmtheit ist die Quelle aller Bestimmungen dessen, was existiert, sie ist die ununterschiedene Einheit aller Unterschiede, aller Wider­sprüche, sie ist die Einheit des Vielen, Anderen, Entgegengesetzten. Na­türlich kann man noch nicht von einer Einheit der Gegensätze wie bei Hera­klit sprechen, also von einer Einheit, die das Entzweiende vereint; und doch enthält das apeiron bereits keimhaft den Herakliteismus.

M. A. Dynnik schreibt richtig: „Die altgriechischen Materialisten lehrten die ewige Veränderlichkeit und den ewigen Fluß der Naturerscheinungen. Anaximander warf bereits, wenngleich noch in sehr naiver Form, die Frage nach dem Vorhandensein von Gegensätzen innerhalb der einheitlichen ma­teriellen Grundlage auf, dank derer die einzelnen Naturerscheinungen ent­stehen. Aus dem Apeiron, so lehrte er, sondern sich die in ihm eingeschlos­senen Gegensätze des Warmen und des Kalten, des Trockenen und des Feuchten aus und bilden alle Dinge. In diesen Äußerungen liegt die Mut­maßung von der Dialektik des Einheitlichen und Vielfältigen eingeschlos­sen."(12)

Anaximenes, der Schüler des Anaximander, ist in diesem Sinne ein Rück­schritt in die Anfänge des philosophischen Denkens; er verzichtet auf logische Abstraktion und kehrt zum konkret-sinnlichen Charakter der Thalesschen Lehre zurück. Das wird gewissermaßen dadurch kompensiert, daß er die elementare Physik der Ionier präzisierte. Aus diesem Grunde übte er einen sichtbaren Einfluß sowohl auf seine Zeitgenossen als auch auf die nachfol­gende Epoche aus. Einige seiner Ideen wurden sogar von Leukipp und De­mokrit übernommen;(13) sie beeinflußten auch Pythagoras.(14)

Der Materialismus von Thaies, Anaximander und Anaximenes ist der ideologische Ausdruck der Tatsache, daß im 8. bis 6. Jahrhundert v. u. Z. die Entwicklung der griechischen Sklavenhaltergesellschaft ihren größten Aufschwung in Ionicn nahm, das an den Handelswegen zwischen Orient und Okzident lag. In den ionischen Städten, insbesondere in Milet und Ephesus, kam es zur Entstehung einer Klasse, die ihr Einkommen aus Hand­werk und Seehandel bezog, einer Klasse, die an der Entwicklung der Tech­nik und an der Erklärung der Naturerscheinungen interessiert war, insbe­sondere an der Erklärung der meteorologischen Erscheinungen, die für die Seefahrer äußerst wichtig waren. Die Herausbildung dieser Klasse von Handwerkern, Seeleuten und Schiffseigentümern führte zur Entwicklung der Sklavenhalterdemokratie, und das ermöglichte die freie Diskussion von re­ligiösen, sozialen und philosophischen Problemen, das Aufblühen wissen­schaftlicher Beobachtungen, das Entstehen von Hypothesen über die Natur­erscheinungen, aber auch die bemerkenswerte Entwicklung der Technik des Argumentierens in politischen Reden oder vor Gericht. Die Technik des Argumentierens, sowohl in bezug auf wissenschaftliche Hypothesen als auch bei politischen oder juristischen Reden, hatte großen Anteil an der Entwick­lung des philosophischen und an der Herausbildung des logischen Denkens. Die Sklavenhalterdemokratie war an der Ausarbeitung einer materialisti­schen Konzeption interessiert. In Milet wurde sie von drei Philosophen ent­wickelt, die gleichzeitig tätige Menschen, Gelehrte und Entdecker waren. So berichtet uns Herodot, daß Thaies eine Sonnenfinsternis voraussagte; Anaxi­mander ist der erste Kartograph der Geschichte, und Anaximenes führte die Theorie der Verdünnung und Verdichtung ein, die einen wichtigen Fort­schritt in der wissenschaftlichen Beobachtung und Erklärung im eigentlichen Sinne darstellt. Die drei Milesier lehnten den Mythos ab, suchten die Er­klärung der Naturerscheinungen in der Natur selbst und legten so den Grundstein für die philosophisch-wissenschaftliche Forschung in Griechen­land, für die Herausbildung wissenschaftlicher Hypothesen, die jedoch oft noch auf unzureichendem Beobachtungsmaterial beruhten. Daraus ergab sich wiederum die Notwendigkeit, die Technik des wissenschaftlichen Argumen­tierens zu entwickeln und über die sinnliche Anschauung hinaus zu ratio­nalem Wissen zu gelangen. Das geschah - besonders bei Anaximander -durch die Ausarbeitung der logischen Abstraktion, die dem Wesen, d. h. „der wirklichen Vertiefung unserer Erkenntnis der Welt" entspricht.(15) Das „Apei­ron" ist zweifellos eine hohe logische Abstraktion, aber keine „leere Abstrak­tion" wie das Kantsche Ding an sich, kein abstraktes Allgemeines, sondern das konkrete Allgemeine, das in sich den Reichtum des Besonderen, Indivi­duellen, Einzelnen einschließt. Tatsächlich ist das Apeiron als unbestimmte Materie gedacht, in der, auf Grund der ewigen Bewegung, alles Besondere und Individuelle bestimmt ist, der unendliche Bereich der Erscheinungen durch Gesetz und Notwendigkeit beherrscht wird. Der Materialismus der Ionier erscheint so nicht nur als Ausgangspunkt der griechischen Philosophie, sondern zugleich als Entwicklungslinie, die einerseits zur Heraklitischen Keimzelle der dialektischen Logik, andererseits zum Organon des Aristo­teles führt.

Anmerkungen:

*) Die kyrillschen Schriftzeichen konnten von dem OCR-Programm nicht entsprechend erfasst werden. Auf eine händische Nachbearbeitung wurde verzichtet.

1) Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Leipzig 1961, S. 20.
2)
Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 34. 185 b.
3) Siehe H. Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, Berlin 1951, 22, fr. 30.
4) Siehe ebenda, 12, fr. 1.
5) Siehe ebenda.
6) Siehe ebenda, 12, fr. 1-3.
7) Aristoteles, Metaphysik, A 3. 983 b 7-11.
8) W. Capelle, Die Vorsokratiker, Berlin 1958, S. 49.
9) F. Engels, Dialektik der Natur, S. 458.
10) Siehe Dizionario di filosofia, Milano 1957, S. 5.
11) Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1, Berlin 1955,
S. 73.
12) Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Berlin 1959, S. 67 f.
13) Siehe J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, Leipzig-Berlin 1913 S 66
14) Siehe ebenda, S. 95 f.
15) Siehe W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik". In: W. I. Lenin,
Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 84.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S.15-20.
Athanase Joja war damals Mitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung zweier Aufsätze, die 1960/61 in Rumänien veröffentlicht wurden. Die deutsche Übesetzung besorgten Frau G. Richter und Herr Pomerenke.

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