Literatur- Geschichte(n)
Willi Bredels Romantrilogie
„Verwandte und Bekannte“ (1941-1953)


von Wilma Ruth Albrecht
 

04/2019

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Von der Herrschergeschichtsschreibung …

Unter Chronik (griechisch Chronika = Zeitbuch, Zeitgeschichte, Ortsgeschichte) versteht man die Aufzeichnung von Ereignissen in zeitlicher Reihenfolge. Die literarische Chronik umfasst sowohl eine Darstellung historischer Ereignisse, von Genealogien (Abstammungskunde, Geschlechterfolge, Verwandtschaftskunde) als auch die Wiedergabe von nicht belegten Geschichten, Mythen, Wundern, Volkerzählungen und/oder Interpretationen. Insofern besaß und besitzt die Chronik immer eine Nähe zur fiktionalen Literatur.

Chroniken haben immer auch legitimatorischen Charakter, literarische Chroniken in noch stärkerem Maße als schlichte Zeittafeln. So wird schon in den zwei Büchern „Chronik“ der Bibel die Geschichte des jüdischen Volkes als ausgewähltes Volk Gottes von Adam bis zum Ende der babylonischen Gefangenschaft als ständiger Wechsel von Gott gefälliger und Gott abfälliger Herrschaft erzählt, wobei Gottgefälligkeit immer mit Freiheit und Macht einhergeht, Gottabfälligkeit mit Gefangenschaft und Unterdrückung.

Mit der Verbreitung des Christentums versuchte zuerst Eusebios von Caesarea zu Beginn des 4. Jahrhunderts die Ereignisse des Alten Testaments und der Kirchengeschichte mit der Profangeschichte des Aufstiegs des Oströmischen Reiches zu verknüpfen und zu synchronisieren. Die „Fredegar-Chronik“ (bis 642 n. Ch.) zieht Verbindungslinien von den siegreichen Trojanern zu den Römern bis hin zu den Franken. In der im Umfeld von Bayernherzog Heinrich dem Stolzen (1126-1139) entstandenen „Kaiserchronik“ wird die Herrschaft der Kaiser seit Caesar als weltgeschichtlicher Verlauf von den Anfängen im Römerreich bis ins 12. Jahrhundert erzählt. Auch der große Humanist Hartmann Schedel (1440-1514) erklärte noch in seinem „Buch der Chroniken“ (1493) den geschichtlichen Prozess gesamtheitlich von der Weltschöpfung aus als sechs Weltalter von Adam bis Kaiser Maximilian I. (1493-1519), der sich noch auf verschiedenen freien Blättern fortschreiben lässt, um mit dem Jüngsten Gericht und dem Ende der Welt abzuschließen.

Mit dem Niedergang der großen mittelalterlichen Kaiserhäuser im deutschen Reich und dem Aufkommen der Territorialstaaten im Zuge des Erstarkens des Bürgertums entstanden Landes-, Stadt- und Hauschroniken, wie die „Braunschweigische Reimchronik“ (bis 1279), das „Boich von der stede Colone“ des Gotfried Hagen (1230-1299) oder die „Denkwürdigkeiten brandenburgischer (hohenzollerischer) Fürsten“ des Ritters Ludwig von Eyb (1417-1502).

Auch das Patriziertum (Stadtadlige, ratsfähige Bürger in den freien Reichsstädten) bediente sich zur Selbstbespiegelung seiner Macht und seines Einflusses dieses Genres, wie das „Püchel von mein geslechte und awentewer“ des Nürnbergers Ulman Stromer (1329-1407).

Mit der Industrialisierung wurde die vorher vorgenommene Verknüpfung und Einbindung von Ereignissen eines Herrscherhauses oder einer Familie in den welthistorischen Lauf aufgebrochen und die Chronik hauptsächlich als Genre der fiktionalen Literatur verstanden und individualisiert. Dies tritt deutlich in den Vordergrund bei dem Romantiker Clemens von Brentano in der „Chronika eines fahrenden Schülers“ (1818) oder auch bei Wilhelm Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“ (1856), die das Leben und Sterben in der bürgerlichen Nachbarschaft des alten Gelehrten Wachholder aus dessen Sicht fünfzig Jahre lang spiegelt. Schon bei ihm wird die Zeit vom Zusammenbruch Preußens nach der Niederlage gegen Napoleon (1806) bis zum Ende der Heiligen Allianz (Österreich/Russland/Preußen) und der Neugruppierung der europäischen Mächte auf dem Kontinent nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg 1853 bis 1856 als abgeschlossene Epoche empfunden.

Auch Thomas Manns bekannter Roman „Buddenbrooks“ (1901) thematisiert nicht allein den Niedergang einer Patrizierfamilie (vom Ende des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts), sondern auch das Ende des liberal-bürgerlichen Zeitalters mit Beginn des Zollvereins bis zum Sozialistengesetz (1834-1878) und dem Übergang des Kapitalismus in sein finanzmonopolistisches und imperialistisches Stadium, der mit einem Werteniedergang des aufgeklärten Bürgertums und einer philosophischen Verfallsideologie einherging. Letztere wiederum war das große ideologische Thema seines Romans „Doktor Faustus“ (1947). Dieser ist ebenfalls als Chronologie angelegt, um über eine Verbindung von Fiktion und Realität eine als abgeschlossen geltende oder verstandene Epoche nicht nur zu beschreiben, sondern auch kulturphilosophisch zu interpretieren.

Mehr historisierend, phantastisch und zeitverklärend und damit nicht mehr auf der Höhe der Zeit stehend müssen die nachfolgenden Chroniken gewertet werden: Gustav Freytags „Die Ahnen“ (1872-1880), in denen in sechs Bänden ein germanisch-deutsches Geschichtspanorama vom 4. nachchristlichen Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entworfen wird; Elias Canettis „Die Blendung“ (1935/36), in der der Autor von dem lebensfremden Sinologen und Privatgelehrten Dr. Peter Kien erzählt, der sich in die Welt der Bücher zurückzieht, von seiner Haushälterin mit Hilfe des früheren Polizisten Pfaff vertrieben, ruiniert und in den Selbstmord getrieben wird; Heimito von Doderers „Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff“(1956), der den Verfall und Niedergang der alten Wiener Gesellschaft in den Jahren 1926 und 1927 beschreibt; Wolfdietrich Schnurres „Das Los unserer Stadt“ (1959), in dem losgelöst vom realistischen Hintergrund Tiere agieren, um den Wertrelativismus in einem „pluralistischen Zeitalter“ zu erfassen, sowie Walter Kempowskis „Tadellöser & Wolff“ (ab 1971), der als sentimentaler Roman mit Repetitionsstruktur bürgerlicher Lebensverhältnisse aufgefasst werden kann.

Mit dem Niedergang des klassischen Bürgertums und dem Übergang der kapitalistischen Gesellschaft in ihr imperialistisches Stadium rückte auch das Leben der Lohnabhängigen, insbesondere der organisierten Arbeiter, mit deren gelungenen und/oder misslungenen Emanzipationskämpfen ins Zentrum literarischer Gestaltung: Es bildete sich der „sozialistische Realismus“ als Literaturstil heraus. Beispiele sind Maxim Gorkis „Die Mutter“ (1906/07) und Michail Scholochows „Der stille Don“ (1928-1940).

In der deutschsprachigen Literatur ging es aber auch darum, zeitgeschichtlich bedeutende Ereignisse mit neuen Gestaltungsformen verstehend zu beschreiben und sinnhaft zu deuten. Dazu gehören die Novemberrevolution 1918 in Form einer ‚großen‘ dokumentarischen Romantrilogie von Alfred Döblin „November 1918“ (seit 1939, 1948, 1949, 1950), die gescheiterte ungarische Räterepublik 1919 als Simultanroman von Anna Seghers „Die Gefährten“ (1932) und die Misere deutscher Politik von 1918 bis 1945 in Anna Seghers ‚großem‘ Epochenroman „Die Toten bleiben jung“ (1949) und der diesem folgenden früh-„realsozialistischen“ Romandiologie „Die Entscheidung“ (1959) und „Das Vertrauen“ (1968). Hier wird anhand idealtypischer Figuren die Verantwortung für Faschismus und Zweiten Weltkrieg angesprochen. Ursachen und Hintergründe der zwei Weltkriege, des Faschismus sowie das politische Versagen der Arbeiterbewegung wurden nun auch zu Themen literarischer Chroniken, speziell sozialistischer Arbeiter- und sozialistischer Familienromane.

zur ´proletarischen´ Familienchronik „Väter“ – „Söhne“ – Enkel“
 

Bredels Romantrilogie „Verwandte und Bekannte“ mit „Die Väter“ (1941), „Die Söhne“ (1943/1949) und „Die Enkel“ (1953) gilt als herausragendes Werk ´proletarisch´-realistischer Literatur des 20. Jahrhunderts. Willi Bredel (1901-1964) kam aus dem sozialen Milieu, das er beschrieb. Als Sohn eines Zigarrenmachers in Hamburg lernte er Dreher, engagierte sich in der Sozialistischen Arbeiterjugend, im Spartakusbund und später in der KPD. Bredel war an politischen Kämpfen in der Weimarer Republik beteiligt und wurde mehrfach politisch verfolgt und verurteilt. Er flüchtete nach 1933 ins Exil (Prag, Paris, Spanien, Moskau), kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republik, wirkte im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (NKFD) in der Sowjetunion und engagierte sich als KPD-Funktionär, Schriftsteller und Kulturpolitiker beim sozialistischen Aufbau der DDR.

Diese Erfahrungen gingen, wie auch bei anderen Schriftstellern, in Bredels Werk ein, so auch in die Chronik. Sie werden jedoch nicht einfach als Lebensweg beschrieben, obwohl viel Autobiografisches aufscheint, sondern ästhetisch anspruchsvoll als Entwicklungsweg vor allem der deutschen Arbeiterklasse in der Zeit von 1870/71 bis 1948 gestaltet.


Willi Bredel - Zeichnung der Autorin [2010]
 

Die Väter“

In diesem Roman erzählt der Autor vom Leben des Eisengießers Johann Hardekopf und des Zigarrenarbeiters und späteren Ladenbesitzers Carl Brenten in den Jahren 1901 bis 1914 und deren Familien in Hamburg, über Rückblenden zu Hardekopfs Leben wird die Zeit 1870/71 bis 1901 einbezogen. Hardekopf und Brenten repräsentieren jedoch nicht nur zwei Arbeitertypen, sondern auch unterschiedliche soziale Strömungen der sozialdemokratischen Partei: Hardekopf ist Sozialist Bebelscher Ausrichtung. Diese steht für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Verteidigung der Pariser Kommune, für Antimilitarismus, für Internationalismus, für den sozialistischen Volksstaat, für die disziplinierte Organisiertheit in Gewerkschaft und Partei. In der Figur Brenten und dessen Leben verkörpert sich einerseits schon die „revisionistische“, sozialintegrative Richtung der deutschen Sozialdemokratie: unpolitische Aktivitäten im sozialistischen Vereinswesen, politische Ausrichtung auf Wahlen, Verselbstständigung des Partei- und Gewerkschaftsapparates, kleinbürgerliche Aufstiegshoffungen, Verzicht auf Massenaktivität gegen Nationalismus, Kolonialismus, Militarismus und Krieg; andererseits aber auch die alte Tradition des radikalen Sozialismus und Antimilitarismus. Eine wichtige Rolle im Leben der sozialistischen Arbeiter spielen die Frauen, hier in Gestalt der starken Ehefrauen und Mütter Pauline Hardekopf und Frieda Brenten, geborene Hardekopf.

Bredels „Die Väter“ ist als Roman klar aufgebaut und gestaltet: Der Text umfasst vier Teile, wobei im ersten Teil Personen und Sozialmilieus vorgestellt werden, im zweiten und im dritten Teil politisch-gesellschaftliche Ereignisse im Leben der Protagonisten im Vordergrund stehen und der abschließende vierte Teil sich als Resümee dieser Zeitgeschehnisse darstellt. Entsprechend lauten die Titelüberschriften: „Neuer Anfang“, „Geschichte eines Vereins“, „Träume und Wirklichkeit“ und „Das Ende“.

Bredel gelingt in diesem ersten (hier nicht inhaltlich referierten) Band als Schriftsteller das Einfache, das so schwer zu machen ist: politische Ereignisse und ideologische Strömungen mit Stadtgeschichte, Natur- und Landschaftsbeschreibungen, Familien- und Individualschicksalen glaubhaft, realistisch und ironisch-amüsant so zu verbinden, dass der Roman auch heute noch keineswegs antiquiert daherkommt, sondern spannend und aufklärend zu lesen ist.

Die Söhne“

Der zweite Band, „Die Söhne“ (geschrieben 1943, veröffentlicht 1949), erzählt von den Jahren 1915 bis 1924 in Hamburg. Im Mittelpunkt steht Carl Brentens Sohn Walter, der sich als Auszubildender zum Metalldreher bei Blohm & Voss in der Jugendbewegung, speziell in der sozialistischen Arbeiterjugend, engagiert und die Arbeitersache wie sein Onkel Fritz Hardekopf, der sich vom Kriegsfreiwilligen zum Antimilitaristen gewandelt hat, in der Revolution 1918/19, im Kapp-Putsch 1920 und in den Abwehrkämpfen gegen die Konterrevolution 1923 kämpferisch vertritt. Darüber hinaus geht es aber auch darum, wie in Zeiten größter Inhumanität, in Kriegszeiten, die Jugend, die neue Generation, zu einem humanistischen und fortschrittlichen Weltbild finden kann. Am Lebensweg Walter Brentens wird somit die frühe Entwicklung der KPD aufgezeigt.

Wie der erste Roman umfasst auch dieser zweite vier Teile: „Ein deutsches Lied“, „Unter gleichen Sternen“, „... und zu leicht befunden“ und „Das Ende vom Lied“. Im ersten Teil werden die Personen vorgestellt, die schon bekannten Familien Hardekopf und Brenten, hinzu kommen später Walter Brentens Arbeitskollegen (Peter Kagelmann, Ernst Timm, Hübner), Freunde aus der SAJ (Audi Meyn, Fiete Peters) und Freundinnen (Catharina Cramers).

Erzählt wird eingangs, wie die sozialistische Jugendgruppe aus Hamburg-Neustadt einen Elternabend zum Thema „Das deutsche Lied“ im Gewerkschaftshaus organisiert, auf dem Walter Brenten das Hauptreferat hält. Diese Veranstaltung wird wie auch andere behördlich überwacht und als staatsfeindlich befunden. Diese und ähnliche antimilitaristische Aktionen können jedoch nur mithilfe der revisionistischen Funktionäre in SPD und Gewerkschaften unterbunden werden. Ein solcher wird in der Person Schönhusen vorgestellt. Dieser ist es auch gewesen, der Carl Brenten aus der Gewerkschaft ausschließen ließ. Carl wird zum Militär gezogen, kommt jedoch nicht an die Front, sondern wird in Neustrelitz kaserniert. Von dort schickt er der Familie Bittbriefe, um Geld und Zigarren zu erhalten, damit er durch Bestechung seiner unmittelbaren Vorgesetzten sein Soldatenleben etwas erträglicher gestalten kann. Als seine Frau Frieda unter Familienmitgliedern um Geld bettelt, trifft sie ausgenommen ihres Schwagers Gustav Stürck nur auf Ablehnung. Allerdings gelingt es ihrem Sohn Walter, die zwei Goldstücke zu beschaffen, mit denen sich sein Vater zehn Tage Urlaub erhandelt.

Der Vater kommt auf Urlaub und versucht, die Tage zu nutzen, um unter Verwandten und Bekannten jemanden zu finden, der ihn für eine Zivilbeschäftigung vom Militär anfordert. Doch weder bei seinem Bruder Matthias, noch bei Paul Papke und schon gar nicht bei Louis Schönhusen erhält er Hilfe und Unterstützung.

Unterdessen engagiert sich Walter in der sozialistischen Jugend, die zunehmend von idealistischen Ideen der Wandervogelbewegung beherrscht wird. Gleichwohl hat der sozialdemokratische Parteivorstand den Jugendbund verboten. Die Jugend, insbesondere die Arbeiterjugend, als deren Protagonisten Walter Brenten und sein Lehrlingskollege Peter Kagelmann auftreten, muss sich somit selbst neu orientieren, eigenständig bilden und organisieren, so in der Euterpe-Gruppe (Euterpe = Muse der vom Flötenspiel begleitenden Lyrik). Die jungen Leute suchen nach humanistischen und rationalen Vorbildern in Literatur und Geschichte und nach Erklärungen für die Ursachen von Kriegen. Neue oppositionelle Lebensformen scheinen auch die unpolitische, bündisch organisierte Natur- und Wanderbewegung zu bieten; doch die harte politische Opposition entwickelt sich in den Betrieben. Das erfährt auch Walter, als sein älterer Arbeitskollege und später sein Freund Peter wegen Antikriegsaktivitäten verhaftet werden.

Die deutsche Arbeiterbewegung während des Großen Krieges als „erstem Weltfest des Jahrhunderts“ (Thomas Mann) ist und bleibt personal führungs- und politisch orientierungslos. Sie wird von der Gewerkschafts- und SPD-Politik gelähmt, so zum Beispiel beim großen Streik im November 1918: Louis Schönhusen lässt das Gewerkschaftshaus vor den Demonstranten schließen. So sind es nicht Arbeiter in den Fabriken, sondern Soldaten in den Garnisonen Hamburgs und (des damals preußischen) Altonas, die sich auf die Seite der revolutionären Matrosen schlagen und SPD und Gewerkschaften mitreißen, wobei sich deren Führer an die Spitze der Bewegung stellen, um sie zu zerbrechen. In den anstehenden Auseinandersetzungen zwischen sozialem Fortschritt und Reaktion wird schnell deutlich, dass die Trennungslinie nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen sozialen Klassen verläuft: Die Jugend lebt nur scheinbar „unter gleichen Sternen“.

Ein gesellschaftliches Ereignis wie „Revolution“ schafft Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer. Zunächst scheint die Familie Brenten zu den Gewinnern zu gehören: Carl Brenten, Mitglied der USPD, wird Vorsitzender des Wohnungsausschusses. Er benutzt diese Position nicht nur, um seiner Familie eine bürgerliche Wohnung zu verschaffen, sondern verhilft seinem ehemaligen Freund Paul Papke, der sich vom kriegerischen Patrioten wieder zum Sozialdemokraten gewendet hat, zum Posten des Verwaltungsdirektors beim Städtischen Theater, seinem Bruder Matthias zur Stellung des Zolldirektors und seinem Schwager Hinrich Willmers zum Kauf neuer Grundstücke.

Wesentlich konsequenter wirkt Brentens Schwager Fritz Hardekopf in den revolutionären Kämpfen. Von Anfang an hat er am Matrosenaufstand in Kiel mitgewirkt, fährt dann mit einer Freiwilligenformation nach Berlin, kämpft am Marstall und am Schloss gegen die Noskes und Legiens und wird schließlich im Keller der Reichskanzlei gefangen gehalten. Durch solidarisches Handeln eines Soldatenkameraden kann er Mitte Januar 1919 dem konterrevolutionären Terror entkommen, fällt dann aber im Ruhrkampf als Truppführer bei der Verteidigung des Essener Wasserturms.

Nachdem die Revolution durch führende Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert und Phillip Scheidemann in bürgerliche Bahnen gelenkt wurde, geht die kapitalistische Ausbeutung in den Betrieben unverändert weiter, wird teilweise noch verschärft. Arbeiter haben von der neuen Weimarer Republik kaum Vorteile, gleichwohl verteidigen sie 1920 die Reichsregierung im Kapp-Putsch durch Generalstreik. Verlierer der gescheiterten Revolution sind Carl Brenten und sein Sohn Walter, der nun auch seine Arbeit bei Blohm & Voss verliert, sodass die Familie wieder verarmt. Sie sucht vergeblich Hilfe bei den angepassten Revolutionsgewinnern in der näheren Verwandtschaft, die sich nun wieder zu bürgerlichen Nationalisten wandeln.

Im Zusammenhang mit einer Aktion, die Hamburger Polizei zu demokratisieren, für die Walters Freund Ernst Timm ihn gewonnen hat, wird der junge Brenten wegen „Zersetzung der Polizei“ festgenommen und angeklagt. Während seiner Haft erfährt er von den Herbstkämpfen des Jahres 1923 und dem Hamburger Aufstand, die beide durch Reichswehreinsätze niedergeschlagen werden. Brenten selbst wird im Frühjahr 1924 verurteilt und weiß von seiner Freundin Catharina, genannt Cat, dass sein Sohn Viktor am 28. März 1924 geboren wurde.

Die Enkel“

Der dritte Band umfasst die Zeit von 1933 bis 1948 und ist den „Enkeln” gewidmet: Walter Brenten und Herbert Hardekopf, den Enkeln von Johann Hardekopf, und Viktor Brenten, dem Enkel von Carl Brenten. Er umfasst zwei Teile: „Die Niederlage“ in den Jahren 1933 bis 1941 und „Der Sieg“ in den Jahren 1941 bis 1948 und erzählt hauptsächlich vom antifaschistischen, auch internationalen Widerstand speziell der Kommunisten und dem sowjetischen Abwehrkampf gegen den nationalsozialistischen Hitlerfaschismus.

Hauptfigur in diesem dritten Band ist Walter Brenten. Er verkörpert als Person den Idealtypus des deutschen Antifaschisten und Kommunisten: illegale Aufklärungsarbeit, Denunziation und Festnahme, Dunkelzellenarrest im KZ Fuhlsbüttel („Santa Fu“), Flucht bei einem Arbeitseinsatz der Sträflinge im Moor, erneute Illegalität und Widerstandsarbeit, Exil in Prag und Paris, republikanischer Spanienkämpfer und dort verwundet, Exil in Moskau und nach dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR Propagandist an verschiedenen Abschnitten der Ostfront, Organisator des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ und zum Schluss Redakteur und SED-Mitglied in der DDR. Ihm zur Seite stehen sein Vater, der schon früh in „Schutzhaft“ genommen wird und an deren Folgen stirbt; sein Freund und Genosse Ernst Timm, ein ehemaliger Arbeitskollege, ebenfalls Widerstandskämpfer, 1935 in Dresden verhaftet, 1936 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, nach der Entlassung im Januar 1945 von der SS ermordet; die schwedische Kommunistin Aina, der alte Sozialdemokrat Gustav Stürck, Heinrich Armbruster und Walter Brentens unehelicher Sohn Viktor, der mit seiner Mutter, der Kommunistin und Widerstandskämpferin Cat, ebenfalls nach Moskau ins Exil geschickt wird, später als Rotarmist kämpft und an der Eroberung Berlins teilnimmt.

Die gegnerische, faschistische Seite repräsentieren unter anderem Staatsrat Dr. Hans Ballab und Polizeisenator Rudolf Pichter, der Ehemann seiner Kusine Reeder Steeven Morgenthal, Chefinspektor Heinz-Otto Wehner, der Ehemann seiner Jugendfreundin Ruth, der ehemalige Lehrer Hugo Rochwitz.

Dazwischen stehen der Kommunist Otto Wolf, der sich zum Verräter entwickelt, und Walters Vetter Herbert Hardekopf, der sich beim brutalen, mörderischen Arbeitsdiensteinsatz in Russland auf die Seite der Partisanen schlägt. Und dann ist da noch die völlig bescheidene, ehrliche und glaubhaft gezeichnete Mutter Frieda Brenten. Sie verkörpert gelebte praktische Menschlichkeit als Humanität im Arbeitermilieu.

Der dritte Band Bredels, im Episodenstil gestaltet, erscheint zunächst als literarisch (zu) trocken und politisch (zu) ideologisch. Dem kann insofern begegnet werden: Es gab solche kommunistischen Persönlichkeiten wie Walter Brenden; er ist nicht nur das alte Ego des Erzählers, sondern verkörpert einen realen Typus von kommunistischen Widerstandskämpfern in der Zeit des Nationalsozialismus und von engagierten deutschen Sozialisten in der Weimarer Republik und nach 1945. Diese lassen sich auf regionaler oder städtischer Ebene vielfach nachweisen.

Hinzu kommt: Illegale Widerstandstätigkeit, Gefängnis- und KZ-Aufenthalt, Bürgerkrieg und Krieg sind nicht unterhaltsam, müssen auch nicht unterhaltungsliterarisch erzählt werden. Als Autor realisierte Bredel jedoch, dass es nicht beim Beschreiben und Erzählen des Bösen, Hässlichen, Zynischen und Traurigen getan sein kann; deshalb verweist er immer wieder mit Landschafts- und Stadtbeschreibungen, Erinnerungen an Musik- und Literaturabende oder Darstellungen von Volksfesten an das Natur- und Kunstschöne als human(istisch)e Orientierung.

Ausblick

Bredels letzter Band der „Verwandte und Bekannte“-Trilogie, der im frühen Schicksalsjahr der DDR-Entwicklung 1953 erschienene Roman „Die Enkel“, fällt gegenüber den erstbeiden Bänden der Trilogie in doppelter Weise – sowohl hinsichtlich der erzählerischen Breite und Dichte als auch der sprachlichen Ausdrucksmittel – zurück; auch wenn es sich keineswegs nur, so einer der Kampfgefährten und Kollegen des Autors, um „unlesbares Parteischrifttum“ (Alfred Kantorowicz) handelte. Bredels episodisch angelegter „Enkel“-Band ist passagenweise eher realsozialistische DDR-Romanliteratur (in) der ersten Hälfte der 1950er Jahre als arbeiterklassenbezogene kritisch-realistische Zeitliteratur, insofern vergleichbar etwa Romanen aus der DDR-Produktionssphäre von Eduard Claudius, Hans Marchwitza und Rudolf Fischer. Und auch Bredels DDR-Romantrilogie „Ein neues Kapitel“ (1959-1964) konnte die dichte Literarizität seines authentisch-antifaschistischen Romans “Die Prüfung“ (1935) und der ersten beiden (hier diskutierten) - 1943 und 1949 veröffentlichten - Trilogiebände von „Verwandte und Bekannte“ nicht mehr erreichen.

In seiner letzten Lebensphase, 1953-1964, war Willi Bredel vor allem in zentralen DDR-Einrichtungen als kommunistischer Spitzenfunktionär gesellschaftspolitisch aktiv: als Chefredakteur der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ (1953-1957), als Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (1953-1964) und schließlich, bis zum Tod Ende Oktober 1964, als Präsident der Akademie der Künste der DDR (1962-1964).
 

Willi Bredel

  • Verwandte und Bekannte. Romantrilogie. Erster Band: Die Väter [1941/42]. Berlin: Aufbau, 1959, 451 p.; zweiter Band: Die Söhne [1949]. Berlin: Aufbau, 1953, 440 p.; dritter Band: Die Enkel [1953]. Berlin: Aufbau, 1969, 627 p.

  • Dokumente seines Lebens. Berlin: Aufbau, 1961, 276 p.

  • Publizistik. Zur Literatur und Geschichte. Berlin; Weimar: Aufbau, 1976, 555 p.

Editorische Hinweise

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.). Sie veröffentlichte unter anderem die Bücher Harry Heine (Shaker Verlag 2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker Verlag 2008), Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFÄLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) sowie zuletzt ihr vierbändiges Werk ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019). - Der Beitrag wurde zuerst in der Kieler Zeitschrift Auskunft, 32 (2012) 2, S. 213-223, gedruckt.

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