Massenproteste in Algerien
Bernard Schmid berichtet


           Teil 2: Die Krise spitzt sich zu

04/2019

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Artikel vom Montag, den 11. März 2019 – welcher innerhalb von Stunden Makulatur wurde, da im Laufe des Abends der Rückzug der Kandidatur des Altpräsidenten verkündet werden sollte. Doch er widerspiegelt gut den Stand des Konflikts vor der Ankündigung dieses Kandidaturverzichts

Am Sonntag Abend (10. März 19) landete ein Flugzeug in Algier, das einen prominenten Passagier beförderte. Es brachte den seit Anfang dieses Monats 82jährigen und gesundheitlich seit Jahren schwer angeschlagenen Staatpräsidenten Abdelaziz Bouteflika ( korrekte Transkription aus dem Arabischen in internationaler Lautschift : 'Abdel'aziz Butfliqa ) zurück. Er war seit dem 24. Februar d.J. in einem Krankenhaus in Genf stationär behandelt worden.

Die Gerüchteküche brodelte unterdessen eifrig. Herr Bouteflika (Boutefliqa) sei längst tot, mutmaßten die Einen. Um es zu belegen, begab sich der populistisch auftretende und politisch äußerst schillernde Oppositionspolitiker Rachid Nekkaz – seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl scheiterte vor dem Verfassungsgericht daran, dass er auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt oder jedenfalls besaß, während die Verfassung die Bewerbung von Doppelstaatsangehörigen jedenfalls offiziell nicht zulässt – am Freitag, den 08. März in die Genfer Klinik, wo Bouteflika zu dem Zeitpunkt lag. Er wollte zu ihm vordringen oder aber beweisen, dass dieser, wie er behauptete, längst verstorben sei. Nekkaz wurde daraufhin durch die schweizerischen Behörden für einige Stunden in Polizeigewahrsam gesteckt.

Einige Stunden später wurde bei einem Genfer Gericht eine Zivilklage von anderen algerischen Staatsangehörigen, deren Identität nicht bekannt wurde, eingereicht. Sie verlangte von den Richtern, Bouteflika unter Vormundschaft stellen zu lassen, da er sich nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befinde und deswegen Manipulationen seitens seiner „familiären und politischen Umgebung“ ausgesetzt sei. Wieder Andere – die angeblich die Flöhe husten hörten - behaupteten, es sei längst ein Drehbuch im Umsetzung begriffen, das Bouteflika auf den Weg ins Exil bringe.

Das Flugzeug solle in die Vereinigten Arabischen Emirate weiterfliegen, wollte ein Teilnehmer an der sonntäglichen Kundgebung in Paris wissen, wo rund Zehntausend Menschen (überwiegend algerische Staatsangehörige und algerischstämmige Franzosen, aber auch einige Unterstützer aus internationalistischen Gruppen oder „Gelbwesten“) zusammenkamen. Vielerorts auf der Welt, von Genf bis Washington D.C., hatten algerische Zivilgesellschafter, Opponenten und zum Teil auch Unterstützer in den vergangenen Wochen ihre Unterstützung demonstriert. Unterdessen hat in Algerien selbst die Anzahl der Protestierenden auf den Straßen spätestens seit dem letzten Freitag (08.03.19) und höchstwahrscheinlich bereits seit dem vorletzten Freitag, den 1. März 19 die Millionengrenze überschritten.

Allein in der Hauptstadt Algier, behauptete jedenfalls die mutmaßlich auflagenstärkste Tageszeitung El Watan, waren es am Freitag, den 08. März d.J. nunmehr eine Million, die demonstrierten. Hinzu kamen, wie an den Freitagen zuvor, aber auch Mobilisierungen in urbanen Zentren wie Oran und Constantine sowie Annaba im Nordosten, in der Berberregion Kabylei, sowie ebenfalls in mittleren Provinzstädten wie Tiaret oder Mascara. Auch in der Saharastadt Ghardaïa wurde protestiert.

Auch wenn die Flöhe manchen Beobachtern etwas Anderes ins Ohr gehustet hatten, kehrte Bouteflika unterdessen an diesem Sonntag, den 10. März 19 ins Land zurück. Dies deutet darauf hin, dass zumindest Teile der regierenden Oligarchie nach wie vor entschlossen scheinen, an seiner Präsidentschaftskandidatur festzuhalten, und nicht etwa auf seine medizinische Disqualifizierung setzen, um – ausgestattet mit einer ärztlichen Bescheinigung – beispielsweise den Wahltermin vorläufig für ungültig zu erklären und zu verschieben.

Das Festhalten an der Option Bouteflika widerspiegelt in Wirklichkeit vor allem die Unfähigkeit der unterschiedlichen Teile der herrschenden Oligarchie – Teile des Unternehmerlagers, Staatsbürokratie, leitende Schichten der früheren Staats- und noch immer mitregierenden Partei FLN („Nationale Befreiungsfront“), Armeehierarchie -, sich auf eine alternative Nachfolge zu einigen. Diese Einigung soll nun offiziell um ein Jahr verschoben werden; denn in einem „Brief an die Algerier“ vom 03. März 19 kündigte Bouteflika an, nach Ablauf eines Jahres solle eine „Nationale Konferenz“ einberufen werden und die Modalitäten der Nachfolge regeln; im Anschluss daran werde er dann auf das Mandat verzichten. Längst hat sich nun aber eine Bresche im System geöffnet, in die eine aktiv werdende Gesellschaft vorstößt.

Als möglicher „Plan B“ des regierenden Systems gilt in manchen Augen noch die Kandidatur des Generals Ali Ghediri. Im Gegensatz zu ihm zogen andere potenzielle Bewerber ihre Kandidatur kurz vor dem Stichdatum am 03. März 19 zurück, unter ihnen auch politische Repräsentanten von Gewicht. Zu ihnen zählen der frühere Premierminister der Jahre 2000 bis 2003, ‘Ali Benflis, welcher bereits zwei mal – 2004 und 2014 – bei Präsidentschaftswahlen gegen ‘Abdel‘aziz Boutefliqa antrat und jeweils Zweiter wurde. Benflis kommt zwar aus dem Establishment der früheren Einheitspartei (vor 1989) und jetzigen Koalitionspartei FLN, gilt jedoch persönlich als relativ integer. Vor seiner Übernahme von Regierungsfunktionen war er als Menschenrechtsanwalt tätig, sein Vater war im Befreiungskrieg der Jahre 1954 bis 62 durch die Kolonialmacht Frankreich buchstäblich zu Tode gefoltert worden. In seiner Amtszeit als Premierminister 2000 bis 2003 war er allerdings ebenfalls an der Niederschlagung von Massenprotesten („schwarzer Frühling“ in der Berberregion Kabylei 2001) beteiligt, und später erteilte zeitweilig u.a. auch jener Flügel der Privatbourgeoisie ihm seine Unterstützung, dem es mit „marktwirtschaftlichen Reformen“ nicht schnell genug ging. 2015 gründete er die Partei „Avantgarde der Freiheitsrechte“. Allerdings könnte seine Aura sich mittlerweile abgenutzt haben. Seitens der legalistisch und vordergründig moderat auftretenden, seit 1999 über ein Jahrzehnt lang mitregierenden islamistischen Partei MSP-Hamas – die schon vor dem Bürgerkrieg der Neunziger Jahre eine andere Strategie einschlug als jene Islamisten, die dann zu den Waffen griffen – wurde die angekündigte Kandidatur ihres neuen Chefs Abderrazak Makri zurückgenommen.

Die Mehrzahl der potenziellen Oppositionskandidaten setzt wohl darauf, dass die auf den 18. April 19 angesetzte Präsidentschaftswahl doch noch abgesagt wird oder aber, aufgrund extrem niedriger Beteiligung, in den Augen weitester Kreise als illegitim erscheint. Hingegen ist die Strategie von ‘Ali Ghediri nach wie vor undurchsichtig. Ihm war es gelungen, auch als zivilgesellschaftlich geltende Kreise wie die Bouteflika kritisierende Vereinigung moutawanat (Staatsbürgerlichkeit) für eine Unterstützung zu gewinnen. Sein Wahlkampfleiter war der zu diesen Kreisen gerechnete Anwalt Mokrane Aït Larbi. Letzterer hat ihm allerdings seine Unterstützung entzogen und zog sich aus der Vorbereitung der Präsidentschaftswahl, deren Stattfinden er unter gegebenen Bedingungen nun ablehnt, gänzlich zurück.

Zuvor war es Aït Larbi gewesen, welcher am 03. März 19 beim Verfassungsgericht die Bewerbungsunterlagen für Ghediri einreichte, obwohl dieser persönlich in den Räumlichkeiten anwesend war. Dies lässt potenziell einen doppelten Schluss zu. Die geltende Wahlgesetzgebung schreibt vor, Kandidaturen müssten persönlich eingereicht werden, Bouteflika war dazu jedoch am Stichtag nicht in der Lage. Entweder wird Ghediri seine Argumentation flankieren, indem die Umgebung Bouteflikas argumentieren könnte, auch andere Bewerber seien ja genau wie er vorgegangen, ohne ihre Kandidatur persönlich einzureichen. Oder aber er trägt mit seinem Verhalten dazu bei, Grundlagen für eine juristische Anfechtung der Präsidentschaftswahl zu halten. In jedem Falle halten Teile der Gesellschaft Ghediri für die Verkörperung eines „Plan B“ des Establishments. Das zentrale Problem dabei dürfte sein, dass er in weiten Teilen der Öffentlichkeit schlicht unbekannt ist oder es jedenfalls bis vor kürzester Zeit war.

Die Normalbevölkerung stellt sich unterdessen weniger solcherart taktische Fragen, sondern nutzt die Gunst der Stunde, um den Überdruss gegenüber einem System auszudrücken, das Algerien seit Jahrzehnten regiert. Bereits einmal, im Oktober 1988, brachte eine Jugendrevolte, welcher Streik vorausgingen, das damalige Einparteiensystem zum Zusammenbruch, über zwanzig Jahre vor dem so genannten „Arabischen Frühling“. Seitdem besteht in Algerien ein Mehrparteiensystem, das jedoch nur die faktische Macht immer derselben Oligarchie notdürftig kaschiert.

Um zu verhindern, das sich das Szenario von 1989-1991 wiederholt, als sich der radikale Islamismus zur vermeintlichen Systemalternative aufbaute, setzt ein Großteil der Teilnehmenden an den Protesten auf Gewaltlosigkeit und „demokratische Reife“. Am vorigen Freitag Nachmittag (08.03.19) kam es dennoch zu Straßenschlachten mit einigen Hundert frustrierten Jugendlichen, die nach etwa vier Stunden jedoch durch Anwohner vertrieben wurden. 112 Polizisten wurden verletzt, 195 Festnahmen wurden vorgenommen. Unkontrollierte Elemente oder aber Provokateure plünderten das historische Museum.

Kennzeichen der Proteste am vergangenen Freitag, den 08. März dieses Jahres war insbesondere die äußerst massive weibliche Beteiligung. Da der dritte zentrale Demonstrationstag mit dem internationalen Tag für Frauenrechte zusammenfiel, betonten die Aufrufe diese Dimension sehr stark. In Oran etwa stellten Frauen laut Beobachtenden rund die Hälfte des Protestzugs. Üblicherweise wurde in den vorigen Jahren der Frauentag in Algerien eher als Datum für galante Gesten, mit Einladungen ins Restaurant und Musikdarbietungen, denn als Kampftag begangen. In diesem Jahr verlief es anders. Trotz hohen Alters nahmen auch einige Moudjhadidate, also Frauen, die während des Befreiungskriegs bewaffnet mitkämpften, teil. Bereits am 1. März 19 ging Djamila Bouhired, eine 1935 geborene Heldin des Unabhängigkeitskriegs (und „Bombenlegerin“ während der Stadtguerillaphase des Befreiungskriegs 1956/57 in Algier), die durch die französische Armee schwer gefoltert und später zum Tod verurteilt worden war, in Algier mit den jüngeren Generationen auf die Straße. Das Andenken an diese weiblichen Kämpferinnen war lange verschüttet worden, nachdem das 1984 vom damaligen FLN-Regime verschärfte – und 2001 unter Bouteflika etwas entschärfte – Familiengesetz die Frauen zeitweilig aus dem öffentlichen Leben zu verbannen suchte. Langfristig allerdings total vergeblich.

Am Sonntag, den 10.03.19 – Sonntag ist in Algerien der erste Werktag der Woche - ging die Mobilisierung auch mit einem Aufruf zum Streik einher. Dieser richtete sich an Lohnabhängige wie etwa auch an selbständige Händler. Er wurde je nach Örtlichkeiten unterschiedlich befolgt, im Zentrum von Algier (wo auch die Demonstrationen stattfinden) waren alle Geschäfte geschlossen, in den Vororten hingegen teilweise geöffnet. Der öffentliche Verkehr war jedenfalls in der Hauptstadt vollständig blockiert.

Am Sitz der Nutzfahrzeugfabrik SNVI, einstmals „der“ Vorzeigebetrieb des früheren algerischen Staatssozialismus mit über 20.000 Arbeitern, heute noch mit 6.000 Beschäftigten, in Roubia im Südosten des Stadtgebiets von Algier wurde die Arbeit vollständig niedergelegt. Hier hatte vor nunmehr drei Jahrzehnten die Protestwelle, die zur Explosion im Oktober 1988 führte, ihren Ausgang genommen. Die Zeiten sind andere. Ein Problem ist damals wie heute dasselbe: Der Apparat der einstmaligen Staatsgewerkschaft, des noch immer dominierenden Gewerkschaftsverbands UGTA, unterstützte damals das FLN-Regime und steht heute unter seinem Chef ‘Abdelmadjiid Sidi-Said vollständig hinter Bouteflika. Doch auch innerhalb der UGTA beginnen sich nun Widersprüche zu regen, oppositionelle Aufrufe kursieren, wie etwa jener des Ortsverbands von Rouiba.

Editorische Hinweise

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