Marxistisch-leninistischer Strukturalismus
Einige Anmerkungen zu "Der Deutsche imperialistische Staatsapparat", in: "Kommunismus" Nr.13, S. 34-37

von Karl Mueller

04/2019

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"Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter Nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach Außen als nach Innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“
Karl Marx, Friedrich Engels, MEW 3/62

"Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist."
Friedrich Engels, MEW 19/222

Im September 2014 verlautbarte die Gruppe "Kommunistischer Aufbau", dass sie sich gegründet habe, damit in der BRD wieder eine revolutionäre kommunistische Partei entsteht. Dazu gab sie eine Prinzipienerklärung heraus, worin es heißt, dass die "Anerkennung, Verteidigung und Anwendung des Marxismus-Leninismus und Anerkennung und Verteidigung seiner historischen Führer Marx, Engels, Lenin und Stalin" die zentrale Voraussetzung für den Parteiaufbau sei (1). Seitdem veröffentlichte der "Kommunistische Aufbau" 14 Themenhefte, die sich dieser Aufgabe widmen.

Das Themenheft "Kommunismus" Nr.13 vom November 2018  befasste sich mit der Frage "Unter welchen Bedingungen leben und kämpfen wir?". Und welches sind die "ersten Schritte zur Klassenanalyse"?  Darin untersuchen die Autor*innen auf der Seite 24-37 den BRD-Staatsapparat. In der Einleitung des Heftes formulieren sie den Anspruch an diese theoretischen Bemühungen folgendermaßen:

"Im Gegensatz zu anderen politischen Strömungen machen wir uns bewusst, dass wir unser Programm und unsere Strategie und Taktik nicht auf Glauben, Wünsche, Vorurteile und Dogmen, sondern auf Wissenschaft gründen müssen." (Nr.13/3)

Der "Arbeitskreis Kapitalismus aufheben" beschäftigte sich in mehreren Sitzungen mit einzelnen Aspekten dieser Untersuchung. Im Mittelpunkt der Erörterungen standen folgende Begriffe: Klasse, Proletariat, Partei, Kapital, Monopol und Staat. Hier folgten wir dem erkenntnistheoretischen Weg der Autor*innen, Sachverhalte "begrifflich zu klären", um dann gestützt auf Klärungen zentraler Begriffe zu "quantitativen Analysen" zu schreiten(2).

Auch wenn der Kommunistische Aufbau schreibt, dass "Definitionen, Erklärungen und Einschätzungen von Marx und Engels nicht dogmatisch übernommen, sondern dialektisch angewendet und weiterentwickelt werden müssen"(Nr.13/38), dann lässt der Begriff "Staatsapparat" im Titel dieses Abschnitt ihrer Klassenuntersuchung vermuten, dass es bei der Staatsfrage  weniger um Konstitutionsbedingungen und Prozesse dafür recht undialektisch um Apparate und Funktionen gehen wird.

Eine dialektisch-materialistische (begriffliche) Ableitung des Staates aus der Verdoppelung der Gesellschaft in Staat und Gesellschaft sucht mensch ebenso vergebens wie dessen Ableitung als "ideeler Gesamtkapitalist" (Engels) aus der Bewegung des Gesamtkapitals. Ziemlich schlicht heißt es dazu nur:

"Der kapitalistische Staat spielt bei alldem die Rolle, die Öffnung für den freien Kapitalverkehr zu organisieren, den Unternehmen durch Subventionen Gewinne zu sichern und dem Finanzkapital über die Staatsverschuldung Zugriff auf den Lohn der ArbeiterInnenklasse von morgen zu geben ... Gleichzeitig sorgt er u.a. als größter „Arbeitgeber“ in Deutschland (öffentlicher Dienst) für gesellschaftliche Stabilität, wobei er von den Kirchen unterstützt wird."(Nr.13/6)

Ferner sei der BRD-Staat "ein unverzichtbares Machtinstrument der deutschen Monopolbourgeoisie", wobei die "Herrschaft der Monopole über den Staat" zusehends wächst.(Nr.13/6) 

Die BRD ist spätestens seit dem Beitritt der DDR politisch und ökonomisch beherrschender Teil der europäischen Union geworden, was folgende Auswirkungen auf Rolle und Funktion des Staates hat:

  • Der BRD-Staat ist weder in seinen Formen noch hinsichtlich seiner repressiven, administrativen und integrativen Funktionen mit den Nationalstaaten zu vergleichen, die für die staatstheoretischen Untersuchungen von Marx, Engels und Lenin das historische Material lieferten.
  • Bereits auf der Erscheinungsebene ist ersichtlich, dass der BRD-Staat einerseits noch Nationalstaat ist, während er gleichzeitig einem Prozess der Internationalisierung unterworfen ist, hervorgerufen durch die Bewegung des Gesamtkapitals, das längst die Nationalstaatsgrenzen hinter sich gelassen hat.
  • Gleichzeitig verläuft dieser Prozess widersprüchlich. Zum einen müssen staatliche Funktionen, die auf Sicherung der Klassenherrschaft innerhalb der Nationalstaatsgrenzen – d.h. des inneren Marktes - ausgerichtet sind, weiter bestehenbleiben. Zum andern muss der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" Aufgaben an transnationale Institution abgeben.
  • Die Verlagerung solcher Funktionen in den transnationalen Raum stützt sich auf für diesen Zweck geschaffene, transnationale repressive und administrative Apparate, die ihrerseits auf die Formen der Klassenherrschaft in den jeweiligen Nationalstaaten  zurückwirken.

Diese Aspekte einer veränderten und weiterhin in Veränderung begriffenen gesellschaftlichen Klassenwirklichkeit sucht mensch vergeblich als Gegenstand der Klassenanalye des "kommunistischen Aufbaus". Stattdessen wird behauptet:

"Der Staatsapparat ist in Deutschland von der kommunalen bis zur Führungsebene durch alle Organismen hindurch mit den Monopolen verschmolzen und diesen untergeordnet."(Nr.13/24)

Dass der Monopolbegriff an keiner Stelle der Untersuchung auf der Grundlage der Marxschen Kapitaltheorie geklärt wird, sondern nur als politologische Begriffshülse duch die Untersuchung geistert, lassen wir einmal beiseite und fragen nach der logischen Tragfähigkeit der Begriffe "verschmelzen" und "unterordnen".

Bereits die Alltagserfahrung lehrt, dass, wenn zwei Gegenstände miteinander verschmelzen, sich ein Prozess vollzieht, in dem sich beide aufheben, wodurch aus beiden eine dritte Sache entsteht. Gesetzt der Fall der BRD-Staatsapparat wäre, wie behauptet, vollends mit den Monopolen verschmolzen, was wäre dann als dritte Sache entstanden? Was wäre ihre Qualität? Und warum kann trotz Verschmelzung das Monopol weiterbestehen und sich den ebenfalls weiterbestehenden Staat unterordnen? Diese Fragen sind keine Sophisterei.

Die im August/September 1917 von Lenin verfasste Schrift „Staat und Revolution“ bestand in einer Auswertung der Schriften von Marx und Engels zur Staatsfrage. In diesem Zusammenhang gibt Lenin folgenden zentralen Hinweis für eine Untersuchung der Staatsfrage:

Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus. Nein, er studiert - wie einen naturgeschichtlichen Prozeß - die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der alten zur neuen.“ (8)

Obgleich ihre Untersuchung bereits bei der Arbeit am  Begriff scheitert, versucht der Kommunistische Aufbau trotzdem, die Emipirie der Verhältnisse nach drei Gesichspunkten zu systematisieren, wobei im Dunkeln bleibt, warum dafür der soziologische Begriff "Rolle" gewählt wurde. Hierzu einige Schlaglichter:

Zur ökomischen "Rolle"

Wie wir gesehen haben, kennen die Autor*innen den Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“ nicht. Für sie ist der Staat ökonomisch betrachtet nur  „Dienstleister der Monopole“(Nr.13/27) und im Krisenfall die „Versicherung der Monopole“ (Nr.13/28). Darin erschöpft sich für sie die „ökonomische Herrschaft“ des modernen Klassenstaates. Diese wird exklusiv gefestigt durch den subjektiven Verrat von Gewerkschaftsführern (Nr.13/29), was sich angeblich daran zeigt, das Staat- und Gewerkschaftsapparat miteinander verschmelzen(?!!!) (Nr.13/29)

Zur ideologischen "Rolle"

Das staatliche Bildungssystem verbreitet „Illusionen“ und „Antikommunismus“, Funk und Fernsehen tun das Gleiche. Medienkonzerne übernehmen das Übrige. (Nr.13/30f) Dass ideologische Formung vornehmlich im Kontext der Zurichtung der Ware Arbeitskraft erfolgt, bleibt den Autor*innen verborgen. Vielmehr mutmaßen sie lieber über Einflußnahmen durch den „tiefen Staat“ der sich "aus langjährigen Mitarbeitern im Geheimdienst- und Militärapparat, der Justiz, der Ministerialbürokratie, sowie Vertretern der Monopolkonzerne" zusammensetzt (Nr.13/24f)

Zur militärischen "Rolle"

Eigentümlicherweise reduzieren die Autor*innen Repressionen im Kapitalismus auf staatliche - besonders auf das Wirken militärischer Apparate, zu denen sie auch die Justiz, die Polizei und die Geheimdienste sowieso zählen.(Nr.13/30-35) Dass im Alltag diese Apparate ihre Handlungen nahezu reibungslos vollziehen können, hängt ganz offensichtlich mit der Zustimmung der Massen zu diesen Handlungen zusammen. Warum dies so ist – ist unseren AutorInnen keine Frage wert. Dafür ist es ihnen wichtiger, vorstaatliche faschistische Strukturen den formellen Staatsapparaten zuzurechnen(Nr13/35f).

Irgendwie spüren die VerfasserInnen, dass sich bei ihnen Staatsfunktionen und Staatsapparate beständig vermischen, deshalb (er)finden sie als begrifflichen Ausweg den „tiefen Staat“. Es bleibt jedoch ungeklärt, warum die Autor*innen einen Begriff verwenden, dessen Begriffsinhalt durch die Vernetzung  von Militär, Geheimdiensten sowie Faschisten mit der Regierungspartei in den 1970er Jahren der Türkei bestimmt ist. Ein Begriff, der heute gern phobisch aufgeladen wird.(4)

Fazit

Die Ergebnisse unserer begrifflichen Durchsicht lassen sich ideologiekritisch folgendermaßen zusammenfassen:

1) Die Geschichte des Inhalts des Begriffs "Staat" fehlt. Stattdessen dient ein derart geschichtslos verkürzter Begriff dazu, um mit seiner Begriffshülle augenfällige aktuelle empirische Tatbestände irgendwie zu systematisieren.

2) Daher wird die im Begriff widerzuspiegelnde gesellschaftliche Realität, die ein von Widersprüche bestimmter Prozeß ist, nicht zu seinem Inhalt.

3) Die Folge ist eine schematische Aneinanderreihung von Tatbeständen und Sachverhalten, die nach revolutionärer Aufhebung verlangen, aber auf diesem Wege unbegriffen bleiben.

4) Als Surrogat für das Vernachlässigen von Geschichte, Widersprüchen und Prozessen bei der Arbeit am Begriff entsteht ein Gesellschaftsbild, worin die gesellschaftliche Totalität als eine ordnende Struktur für gesellschaftliche Teilbereiche erscheint. In Bezug auf diese Struktur stehen die Teilbereiche im Rang von Objekten, d.h. sie erhalten ihre Bestimmung durch die Struktur.

Kurzum - wir haben es hier mit einer Spielart von strukturalistischem Denken zu tun, das sein schematisch konstruiertes Gesellschaftsbild mit marxistisch-leninistischem Vokabular textet.

Anmerkungen

1) siehe dazu: Ein Gespenst kehrt zurück - Kommunistische Partei im 21. Jahrhundert, S.27
2) siehe dazu die entsprechenden Hinweise ebenda, S. 7, 8, 38, 51. - die Beschäftigung mit den sogenannten quantitativen Analysen der Gruppe stellten wir zurück, weil das Begriffsmaterial des "Kommunistischen Aufbaus" sich unseres Erachtens für Realanalysen kaum eignet, was im vorliegenden Beitrag anhand des Staatsbegriffs gezeigt werden soll.
3)
LW 25, S. 438
4) siehe z. B.
http://friedensblick.de/willkommen/tiefer-staat/

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.