Politikberatung statt Gesellschaftskritik
 Abschied vom Unzeitgemäßen? Politische Ideengeschichte im Widerstreit
Festschrift für Klaus Roth


Rezensiert von Michael Rahlwes

04/2020

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Die kritische deutsche Politikwissenschaft hat sich zu einer Regierungswissenschaft gewandelt. Das zeigt exemplarisch die Entwicklung des Otto-Suhr-Instituts in Berlin.

Die deutsche Politikwissenschaft der jungen Bundesrepublik war ein Fach, in dem, so der Frankfurter Ideengeschichtler Iring Fetscher, „viele ausgewiesene Antinazis und Verfolgte oder exilierte Hochschullehrer“ lehrten (Fetscher 1999, S. 30). Weder das Fach noch die Demokratie waren damals anerkannt. Das änderte sich erst im Zuge der 1960er Jahre und bescherte der Politikwissenschaft eine gewisse „Blütezeit“. Wie aber hat der Neoliberalismus in den vergangenen dreißig Jahren das Fach verändert? Auf diese Frage gibt auch die Festschrift, die dem seit März 2019 emeritierten Professor für Ideengeschichte am Berliner Otto-Suhr-Institut Klaus Roth gewidmet ist, keine erschöpfende Antwort. Sie liefert aber Anhaltspunkte, in welche Richtung sich das Fach am größten deutschsprachigen Institut entwickelt hat: in Richtung „Regierungswissenschaft“ (S. 48) oder auch „Politikberatung“ (ebd.).

Die Rationalisierung der Universität

Ein erster Gesichtspunkt der Veränderung des Fachs ist die „Politikberatung“. Fetscher verstand vor zwanzig Jahren noch darunter, dass ein politikwissenschaftliches Studium den Individuen ermöglichen sollte,

„sich umfassend über Möglichkeiten und Grenzen ihrer/seiner Mitwirkung an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft zu orientieren und ein Konzept von Wünschbarkeiten und Realisierungschancen der Verbesserung der Bedingungen für die allseitige ‚freie Entfaltung‘ unterschiedlicher individueller Anlagen eines/einer jeden in einer solidarischen Gesellschaft zu entwickeln.“ (Fetscher 1999, S. 35)

Laut Fabian Bennewitz, der in der Festschrift vertreten ist, hat sich der Fokus des Faches mittlerweile verändert. Das Otto-Suhr-Institut (OSI) sei zwar heute noch immer wichtig, allerdings „jetzt vor allem in der Politikberatung und für die wissenschaftliche Legitimation militärischer Interventionen und internationaler Machtpolitik. Die Grundlagenforschung, erst recht die kritische, ist auf dem Rückzug“ (S. 233).

Letzteres trifft auch auf die politische Ideengeschichte am OSI zu, die es nach dem Ausscheiden von Roth nicht mehr geben wird. Wie es dazu gekommen ist, kann als ein Lehrstück in Sachen neoliberaler Kurzsichtigkeit gelesen werden: Im Zuge einer Rationalisierung des universitären Betriebs wurde mit der politischen Ideengeschichte ausgerechnet jener Bereich der Politikwissenschaft abgewickelt, der über die Geschichte politischer Ideen (und damit auch der Vernunft) hätte Auskunft geben können. Am Ende dieses Prozesses wurden den Herausgebern zufolge die „Lehrpläne und Studienordnungen“ entrümpelt, „das heißt von der verpflichtenden Beschäftigung mit den politischen Ordnungsentwürfen und vielgestaltigen Emanzipationsideen der europäischen Geschichte befreit“ (S. 11). Das Politikstudium am OSI sei nun von der Notwendigkeit, „sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen“, abgetrennt, und die „Konfrontation mit den Ideen anderer Zeiten“ werde „selbst zur Sache einer vergehenden Zeit, unzeitgemäß“ (ebd.).

Dass die politische Ideengeschichte und mit ihr Roth am OSI „unzeitgemäß“ wurden, ist dabei selbst einer spezifischen Konstellation geschuldet, der Volker Strähle nachgeht. Nach der Emeritierung von Bodo Zeuner und Peter Grottian vor etwa 15 Jahren seien „die einst als konservative Legitimationsideologie verschriene Ideengeschichte“ und mit ihr Roth „unverhofft zum Refugium der Kritik“ (S. 28) geworden. Mit ihm sei ein „Nicht-Kämpfer zum Zentrum erbitterter Kämpfe“ (ebd.) geworden: Vom gescheiterten Berufungsverfahren für die Nachfolge Gerhard Göhlers seit 2005 über die Abschaffung des eigenständigen „Moduls“ Ideengeschichte und trotz der Einrichtung einer Professur auf Zeit für Roth im Jahr 2009 – die Ideengeschichte wurde in diesem Prozess von der nun dominanten Richtung, den Internationalen Beziehungen, ins Abseits gedrängt. Strähle zufolge ist die dahinter stehende Logik ebenso zynisch wie einfach: „Mit den Post-68er-Linken, die in die Pension verabschiedet werden, wird die Theorie überhaupt entsorgt“ (S. 32).

Das Ende der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge

Zwar sei dieser Prozess nicht linear verlaufen – so haben sich andere Institute des Fachbereichs im Jahr 2009 zusammengetan und für eine Professur auf Zeit eingesetzt –, doch stimme der gesamte Ablauf der Marginalisierung kritischer Wissenschaft am OSI wenig hoffnungsvoll. Er kann den Herausgebern zufolge sogar zu einem Ton der „Bitterkeit [führen], die diesen Band in manchen Passagen prägt“ (S. 17). Dagegen setzen sie die prinzipielle Offenheit der Zukunft, die „noch lange nicht entschieden“ (ebd.) sei. Anlass zur Hoffnung geben gegenwärtig die aus dem akademischen Mittelbau hervorgehenden Initiativen gegen Prekarisierung und Exzellenz.

Doch was geht mit Roth eigentlich für eine Konzeption politischer Ideengeschichte am OSI verloren? Arnhelm Neusüß beschreibt Roths 2003 erschienenes Habilitationsprojekt „Die Genealogie des Staates“ als ein „im Sinne Benjamins, zur Begründung von Hoffnung aus vertaner Möglichkeit“ (S. 23) ausgerichtetes Projekt. Roth sei es um „alternative Erzählungen, das Liegengebliebene, Vergessene“ gegangen, die nicht als „Streit bloßer Ideen“, sondern „Kondensat sozialer Kämpfe“ (ebd.) gelesen werden müssen. Solche „Reflexionsmöglichkeiten“ sind Gerhard Göhler zufolge bedeutsam, weil ansonsten „die Gesellschaft das Nachsehen“ (S. 73) habe. Denn es müsse befürchtet werden, dass die Reflexion historischer Zusammenhänge verloren gehe, ohne sie hänge wissenschaftliche Reflexion aber „in der Luft“ (ebd.). Wie Dennis Wutzke ausgehend von einer unkonventionellen Lektüre der Anerkennungstheorie von Axel Honneth argumentiert, könnte eine solche, sich auf gesellschaftliche Entwicklung beziehende Reflexion in der Analyse des autoritären Charakters der Neuen Rechten liegen: „Die Norm und das Normative sind augenscheinlich allgegenwärtig in den Bindungskräften des neuen alten Faschismus“ (S. 100). Das „normative Potential von Missachtungserfahrungen und sozialen Konflikten“ (S. 107) habe gegenwärtig keine progressiven Wirkungen, sondern verkehre sich in das Gegenteil: in Hass, Ausgrenzung und Gewalt gegen Andere.

Der Blick auf das gesellschaftliche Ganze – ein totalitärer Move?

Eine kleine Kontroverse scheint im „Theorieteil“ des Bandes auf, in welchem Bernd Ladwig, Lehrstuhlinhaber für Moderne Politische Theorie am OSI, die Vorstellung als totalitär kritisiert, Theorie müsse auf das gesellschaftliche Ganze zielen. Die Wirklichkeit mache „keine eindeutigen Vorgaben für die Richtung der [normativen] Rekonstruktion“ (S. 164). Laut Ladwig hat Theorie sich mit der „normativen Frage nach dem Vernünftigen [zu bescheiden] und reicht die empirische Frage nach dem Faktischen vertrauensvoll an die wirklichkeitswissenschaftlichen Abteilungen der Soziologie und Politikwissenschaft weiter“ (S. 155). Göhler zufolge setzt empirische Forschung aber ein „festes theoretisches Gerüst“ (S. 76) voraus, welches kritisch reflektiert werden muss.

Abseits aller Fragen der Begründung, darin ist Ladwig zuzustimmen, geht es darum, die materiellen Bedingungen für die Beteiligung aller am gesellschaftlichen Diskurs zu garantieren. Der grundlegende Zweifel an der normativen Sozialphilosophie ist damit jedoch nicht ausgeräumt. Darüber hinaus wäre Martin Fries’ Konzept der Ideengeschichte „als Geschichte europäischer Männer über sich selbst“ systematisch ernst zu nehmen. Denn die von Fries vorgeschlagene Umkehrung der „Blickrichtung“ auf die Partikularität „hegemoniale[r] europäischer Männlichkeiten als spezifische und beschränkte Entwürfe“ (S. 200) stellt grundsätzlich die Universalität der „Geschichte der politischen Ideen“ infrage.

Einspruch gegen den universitären Betrieb

Dem Band gelingt für eine Festschrift Ungewöhnliches: Er wird zum kritischen Einspruch gegen den herrschenden universitären Betrieb (der doch gewöhnlich in solchen Bänden affirmiert wird) und zu einem Zeitdokument, das erlaubt, den Prozess der neoliberal bornierten Abwicklung einer für die demokratische Orientierung von Studierenden bedeutenden Teildisziplin der Politikwissenschaft kritisch zu reflektieren. Inhaltlich können unter anderem die Kritik an einer geschlechtsblinden und weißen politischen Wissenschaft, die Analysen des autoritären Konformismus von rechts und der uneingelösten Potenziale historischer Ordnungsentwürfe und Emanzipationsansprüche als Desiderate für weitere Forschungen gelten. Allein dieser kursorische Überblick zeigt: Es wäre noch viel zu forschen gewesen in der politischen Ideengeschichte am OSI.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Iring Fetscher 1999: „Von der Universaldisziplin bis zur Arbeitsteilung, Politikwissenschaft in Frankfurt“, in: Wolfgang Glatzer (Hg.), Ansichten der Gesellschaft. Frankfurter Beiträge aus Soziologie und Politikwissenschaft, Opladen, S. 28-37.

Philipp Mattern / Timo Pongrac / Tilman Vogt / Dennis Wutzke (Hg.)
Abschied vom Unzeitgemäßen?

Politische Ideengeschichte im Widerstreit - Festschrift für Klaus Roth

BdWi-Verlag
R
eihe Hochschule, Band 11


ISBN 978-3-939864-25-7, Februar 2019, 242 Seiten, 12,00 EUR

 

Erstveröffentlicht bei
https://kritisch-lesen.de/rezension/politikberatung-statt-gesellschaftskritik