Staatliche Furcht vor dem „Tag
danach“
„Der Tag danach“
beunruhigt die französischen Polizei- und
Nachrichtendienste. Gemeint ist die Zeit
unmittelbar nach der Aufhebung der derzeit
geltenden Ausgangsbeschränkungen. Laut einem
Strategiepapier des Inlandsgeheimdiensts,
das am Osterwochenende durch die
Boulevardzeitung Le Parisien
ausführlich zitiert wurde, fürchtet dieser
ein Aufflammen sozialer Unruhen. Auszüge aus
dem Dokument geistern seitdem durch
bürgerliche Medien ebenso wie durch linke
WhatsApp-Forengruppen.
Vorläufig scheint die
Faktenlage dafür allerdings dünn zu sein.
Die Zitate des Parisien
basieren zunächst auf der Auswertung von
Onlinemedien mit relativ geringer Reichweite
in westfranzösischen Städten wie Nantes,
Rennes und Rouen. Diese sind mehrheitlich an
der Schnittstelle zwischen den
Gelbwestenprotesten aus 2018/19 und der
autonomen Szene angesiedelt und beschwören
ohnehin immer die Aufstandsperspektive,
nicht nur aus konkreten Anlässen. Darüber
hinaus spricht das Strategiepapier
allerdings von der Befürchtung, der Unmut
der Protestierenden seit den „Gelbwesten“ –
besser noch hätte man wahrscheinlich die
gegen die Rentenreform im Winter 2019/20
angeführt – könnten sich mit dem des
Personals im Gesundheitswesens
zusammenballen.
Gesundheitspersonal
steht unter Druck & macht Druck
Letzteres streikte in
mehreren Wellen ein Jahr lang, seit dem März
vorigen Jahres bis zum Beginn der
Corona-Pandemie - und zwar genau dagegen,
dass die aufeinander folgenden Regierungen
das Gesundheitswesen kaputt sparten.
Frankreich wies vor dem Beginn der
Coronakrise 5.000 Intensivbetten auf, die
inzwischen auf 7.000 aufgestockt wurden, in
Deutschland waren es 28.000. Zugeständnisse
von Regierungsseite gab es zunächst keine,
abgesehen von einer Einmalprämie für das
endlose überarbeitete Personal von rund 80
Euro, die eher als Spott denn als
Entgegenkommen gewertet wurde. Vor dem
Ausbruch der Pandemie hatte das
Krankenhauspersonal jedoch nur begrenzte
Mittel zur Durchsetzung, da seinen
Arbeitskämpfen aufgrund der Patientenbindung
Grenzen gesetzt sind und es zur
Aufrechterhaltung der Versorgung unter
Strafandrohung dienstverpflichtet (réquisitionné)
werden kann. Bei den Demonstrationen gegen
die Rentenreform floss der Unmut im
Krankenhauswesen allerdings als wichtiger
Faktor mit ein.
Dieses heiße Eisen bleibt
für die Regierung auch künftig schwer zu
handhaben, auch wenn Emmanuel Macron seit
dem Beginn der Covid19-Seuche mehrmals
verbal die Bedeutung des öffentlichen
Gesundheitssystems betonte und eine
„Aufwertung“ der Pflege- und
Gesundheitsberufe ankündigte; es bleibt
abzuwarten, wie diese aussehen. Angesichts
der gänzlichen Planlosigkeit, mit welcher
das Regierungslager zunächst in die
Seuchenproblematik hineinstolperte, und der
manifesten Lügen, mit denen
Unzulänglichkeiten vertuscht wurden – im
Jahr 2010 war ein Vorrat von einer Milliarde
Gesichtsmasken angelegt worden, dieser wurde
jedoch zerstört, um Lagerkosten zu sparen
und um sie bei Bedarf vermeintlich in China
einzukaufen – dürfte es für Sympathien im
nun von Macron wie durch die Öffentlichkeit
als „Helden“ gefeierten Krankenhauspersonal
kaum reichen. Auch erklärt derzeit nur noch
rund ein Drittel in Umfragen, dem
Krisenmanagement der Regierung zu
„vertrauen“.
Keine Sterne in Athen,
kein Applaus für Macron
Am Donnerstag, den 09.
April dieses Jahres suchte Präsident Macron
ein Krankenhaus in der südlichen Pariser
Vorstadt Le Kremlin-Bicêtre auf, wo
Covid-Patienten behandelt werden.
Journalisten waren nicht zugelassen, da
Emmanuel Macron sich zuvor über „Ausrutscher
in der Öffentlichkeitsarbeit“ seiner
Umgebung erzürnt gezeigt hatten. Erstmals
wurde ein solcher Auftritt ganz ohne Presse
durchgezogen, und dies nicht wegen der
Sicherheitsabstandsproblematik. Stattdessen
filmten Mitarbeiter des Präsidialamts selbst
die Visite und teilten die Bilder im
Anschluss über die sozialen Netzwerke. Dabei
wurde der Eindruck erweckt, das
Krankenhauspersonal applaudiere dem
Präsidenten. Allerdings hatten anwesende
Beschäftigte ebenfalls gefilmt, und ihre
Aufnahmen wurden durch die Gewerkschaften
SUD und CGT veröffentlicht. Beifall gab es,
wie sich aus ihren Bild- und Tonwiedergaben
ergibt, tatsächlich. Allerdings nicht für
Macron, sondern für eine Krankenschwester
der Narkoseabteilung, die der CGT angehört
und den Präsidenten bei seinem Auftauchen
harsch kritisiert hatte.
Polizeitoter in
neofaschistisch regierter Stadt
Vielleicht auch deswegen
mobilisiert das Regierungslager schon
vorbeugend eifrig die Polizei- und daneben
auch Armeeangehörige. Bis zu 160.000
Sicherheitsheitskräfte gleichzeitig
mobilisiert, um die Einhaltung der
Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren.
Diese mögen aufgrund der Ansteckungsgefahr
medizinisch begründbar sein, zugleich macht
die Regierung jedoch auch Politik damit. Und
nicht nur sie: In der rechtsextrem regierten
Stadt Béziers, deren Bürgermeister Robert
Ménard die städtische Polizei in sechs
Jahren verdreifachte, übernimmt diese die
Kontrollen. Am vorigen Mittwoch, den 08.
April d.J. kam in einem ihrer Fahrzeuge der
33jährige Obdachlose Mohamed Gabsi – seine
Herkunft dürfte seine Überlebenschancen
nicht aufgebessert haben – zu Tode,
mutmaßlich erstickt. Er war zuvor wegen
Nichteinhaltung der Ausgangssperre, die
aufgrund einer Kommunalverordnung im
Stadtgebiet in den Abend- und Nachtstunden
eine totale ist, von ihr aufgegriffen.
Landesweit gilt kein
totales Ausgangsverbot, jedoch muss jedes
Verlassen der Wohnung durch ein zuvor
ausgefülltes, unterschriebenes und mit der
Uhrzeit versehenes Papier – das man bei sich
trägt – begründet werden. Frankreichweit
wurden bis Ende voriger Woche (d.h. 11./12.
April 20) insgesamt neun Millionen
Personenkontrollen durchgeführt und eine
halbe Million Geldbußen verhängt, in einem
halben Dutzend Fälle gegen „Serientäter“
auch mehrmonatige Haftstrafen.
Kampagne gegen
häusliche Gewalt
Zugute halten muss man
der Regierung unterdessen einen einzigen
Punkt, nämlich, dass sie zugleich eine
Informationskampagne zum Thema häusliche
Gewalt auflegte. Die Anzeigen und/oder
nachbarlichen Hinweise an die Behörden wegen
(des Verdachts von) Gewalt gegen Kinder
sollen seit Beginn der
Ausgangsbeschränkungen um zwanzig Prozent
zugenommen haben. Hingegen sank lt. Angaben
aus dem Innenministerium in der zweiten
Märzhälfte 2020 die Anzahl derer wegen
Gewalt zwischen (Ehe)partner/inne/n zunächst
um rund ein Viertel von 2.000 wöchentlich
auf rund 1.500 wöchentlich, bevor sich der
Wert ab Anfang April d.J. wieder auf rund
2.000 pro Woche einpendelte. Hier griff
anscheinend zunächst der (in diesem Falle
unerwünschte) Effekt der
Ausgangsbeschränkungen, bevor die dazu
eingeleiteten Gegenmaßnahmen ihrerseits
wirken konnten.
Um es Frauen zu
erleichtern, gegen gewalttätige Partner um
Hilfe zu rufen und nicht wegen der
Mobilitätssperren in der Falle zu sitzen,
wurde eine Notfall-Telefonnummer (3919)
eingerichtet, und Anzeigen zum Thema können
auch in Apotheken abgegeben und an die
Polizei weitergeleitet werden.
Nationalistisches
Gepöbel im Grenzgebiet
Die generellen Auflagen
sind erheblich strenger als meistenorts in
Deutschland, wobei auch das Ausmaß der
Seuche ein anderes ist: Zu Wochenbeginn wies
Frankreich rund 14.000 Tote auf, Deutschland
rund 2.500 Tote. Französische Staatsbürger
wurden in diesem Kontext im Grenzgebiet in
manchen deutschen Städten angepöbelt, ja mit
Steinen beworfen. Am Osterwochenende
verurteilten zunächst mehrere
Bürgermeister(innen?) im Saarland und dann
auch das Außenministerium in Berlin solche
Vorkommnisse.
Öffentliche Dienste
und französischer Postkonzern
In den öffentlichen
Diensten – wo Arbeitsniederlegungen zuvor
angekündigt werden müssen, anders als in der
Privatwirtschaft – hinterlegte die CGT eine
Streikwarnung für die Periode vom 1. bis zum
30. April 20. Daraufhin blies ihr zunächst
in Teilen der öffentlichen Meinung auch ein
ziemlich kalter Wind ins Gesicht, in
bürgerlichen Medien wurde dies als
verantwortungslos dargestellt. In
Wirklichkeit geht es allerdings nicht um
einen tatsächlich stattfindenden, kollektiv
durchgeführten Arbeitskampf. Vielmehr
handelt es sich um um eine juristische
Rückendeckung für alle auftauchenden Fälle
von Arbeitsverweigerung infolge von
Gesundheitsgefährdung – im Zusammenhang mit
der sanitären Krise -, in denen die
Arbeitgeber sich weigern, die Ausübung des
Rechts auf individuelle Arbeitsverweigerung
anzuerkennen. Grundsätzlich dürfen
Lohnabhängige bei einer Gefährdung für ihr
Leben oder ihre Gesundheit ihre
Arbeitsleistung zurückzuhalten. Dabei
behalten sie ihren vollständigen
Lohnanspruch, sofern der Arbeitgeber
entweder für diese Gefährdung verantwortlich
war oder ihr nicht unter Ausschöpfung aller
vorhandenen Möglichkeiten Abhilfe
verschafft. In diesem Falle kann der
Arbeitgeber überdies keinerlei
disziplinarrechtliche Sanktionen wegen
Arbeitsverweigerung aussprechen. Verweigert
allerdings der Arbeitgeber das Vorliegen
eines solchen Zustands, dann müssen die
abhängig Beschäftigten sich gerichtlich ihr
Recht erstreiten, eventuell auch eine
bereits erlittene Sanktion oder gar
Kündigung anfechten. Um eine solche
Zwangslage von vornherein zu vermeiden,
sprach die Gewerkschaft eine allgemeine
Streikankündigung aus, die die Beschäftigten
vor Sanktionen schützt, da sie sie so auf
ein Grundrecht berufen können. Allerdings
entfällt im Streikfalle, anders als beim
Zurückbehaltungsrecht, auch jeglicher
Bezahlungsanspruch.
Deswegen optieren die
Lohnabhängigen, wo immer möglich, dennoch
eher für das individuelle
Arbeitsverweigerungsrecht, von dem jedoch
oft in konzertierter Weise, also durch viele
Einzelne auf einmal, Gebrauch gemacht wird.
Beim französischen Postkonzern sind es
mindestens 10.000 Beschäftigte, die in
diesem Rahmen die Arbeit niederlegten. Ende
März d.J. verurteilte ein Pariser Gericht
überdies (auf Antrag der Basisgewerkschaft
SUD-PTT hin) La Poste dazu, nachzuweisen,
welche Schutzvorkehrungen gegen Risiken
einer Ansteckungs getroffen würden.
Arbeitskampf bei der
Müllabfuhr in Poitiers
In den kollektiven Streik
traten dagegen fünfzig Beschäftigte der
Müllentsorgung im westfranzösischen
Poitiers, deren Dienst vor einem Jahr frisch
ge-outsourced worden war. Die Privatfirma,
bei der sie nun angestellt sind, griff auf
einen Trick zurück und lässt sie seit Beginn
der Coronakrise jede zweite Woche durch
Kurzarbeitgeld vom Staat bezahlen. Dieses
beträgt in Frankreich 84 Prozent des
Nettogehalts, liegt damit höher als in
Deutschland, und wird derzeit an acht
Millionen Beschäftigte ausgezahlt.
Voraussetzung ist die vorübergehende
Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung. Im
Falle von Poitiers geht es dem Arbeitgeber
jedoch schlicht darum, Kosten vom Staat
übernehmen zu lassen. Die Beschäftigten
arbeiten zwar nur jede zweite Woche, sollen
dann aber acht statt sonst üblichen drei
Tonnen Abfälle entsorgen. Ferner sieht der
Staat vor, dass Firmen – auf freiwilliger
Basis – ihren Beschäftigten, die in der
Coronakrise weiterarbeiten, bis zu 2.000
Euro Jahresprämie ausbezahlen und die dafür
aufgewendeten Gelder von der
Unternehmensbesteuerung ausnehmen können.
Bei der Müllabfuhr in Poitiers sollten es
jedoch nur 150 Euro Jahresprämie werden.
Daraufhin traten rund drei Viertel der
Belegschaft in den Streik. Betrug mit
Kurzarbeitergeld durch die Arbeitgeber auf
der Suche nach Einsparungsmöglichkeiten gibt
es jedoch auch andernorts.
Amazon
amazont
Besonderen Konfliktstoff
birgt die Frage, welche Dienstleistungen
oder Produktionen in der derzeitigen
Situation als unabdingbar gelten und
weiterarbeiten sollen. Beim Lieferanten
Amazon bemängeln
Gewerkschaftsvertreter/innen, dass
Lohnabhängige nicht nur zum Liefern von
Bestellungen etwa medizinischen Materials
aufgefordert würden, sondern zur
Auslieferung etwa von DVDs, von Videospielen
und Sex-toys. Dazu erlitten
abhängige Beschäftigte Druck von ihrer
Hierarchie.
Der Zorn stieg noch an,
seitdem mindestens ein Covid19-Ausbruchsfall
bei Amazon, in einer Lagerhalle in Saran in
der Nähe von Orléans, bestätigt wurde.
Ursprünglich hatte Amazon infolge des
Eintritts Ausrufung der
Mobilitätsbeschränkungen durch die Regierung
am 17. März das Personal an den Standorten
noch aufstocken wollen, um den erwarteten
oder eintreffenden Kundenbestellungen
nachzukommen – also mehr Leute auf den
vorhandenen Raum zu packen versucht, statt
Sicherheitsabstände einzuführen. Auch
Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sprach
daraufhin einige kritische Worte in Richtung
Amazon aus. Zwei leitende Manager mussten
daraufhin ihren Hut nehmen, der bisherige
Europa-Chef Roy Perticucci und die Leiterin
des betroffenen Standorts in Saran, Ana
Fernandes ; offiziell
völlig-ohne-Zusammenhang-mit-den-bedauerlichen-Vorfällen-und-aus-familiären-Gründen.
Daraufhin erklärte Amazon seine
Bereitschaft, sich in Frankreich und Italien
auf die dringlichsten Lieferungen zu
beschränken – doch dies bleibt
Auslegungssache. Die Interpretation durch
die Direktion erfolgte derart großzügig,
dass Anfang April d.J. sogar die
sozialpartnerschaftlich ausgerichtete
Gewerkschaft CFDT einen Streikaufruf für
Amazon abgab.
Ministerielle
Strafanzeige gegen die CGT
Hinter den Kulissen
heftigsten Druck erfährt unterdessen die
Arbeitsaufsicht (inspection du travail),
die dem Arbeits- und Sozialministerium
untersteht und über die Einhaltung
bestehender Lohnabhängigenrechte und
Arbeitsvorschriften, derzeit natürlich
zuvörderst auch über Maßnahmen gegen
sanitäre Risiken zu wachen hat. Dort tobt
ein Ausrichtungskampf um die Tragweite von
Kontrollen, während die oberste Vorgesetzte
- Arbeitsministerin Murielle Pénicaud -
eifrig gegen den „Defätismus“ auch auf
Arbeitgeberseite und gegen die
Arbeitsunwilligkeit in der Coronakrise zu
Felde zieht. Und infolge von Briefwechseln
zwischen der CGT und einem Direktor im
Arbeitsministerium, Yves Struillou, vom 18.
und 19. März 20 drohte Letzterer nun gar der
CGT mit einer Strafanzeige. Grund dafür:
Amtsanmaßung, welche ihm zufolge vorliege,
weil die CGT fälschlich den Eindruck
erwecke, das Ministerium erlaube es
Lohnabhängigen in der aktuellen Situation
grundsätzlich, von ihrem ihrem
Zurückbehaltungsrecht Gebrauch zu machen.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag vom Autor für
diese Ausgabe. Eine erheblich gekürzte
Fassung wurde in der Wochenzeitung Jungle
World vom 16. April 20 veröffentlicht. |