Vorlesungen über die Politische Ökonomie des Kapitalismus
Wertsubstanz und Wertgröße

von Alfred Lemmnitz

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Die in den Waren verkörperte oder dargestellte abstrakte Arbeit ist die Wertsubstanz. Unter einer Substanz versteht man im allgemeinen etwas Materielles. Wenn man die konkrete Arbeit betrachtet, so findet man, daß sie es mit einem Naturstoff zu tun hat. Die konkrete Arbeit schafft nicht den Naturstoff, sondern sie verarbeitet den vorgefundenen und gewonnenen Naturstoff, gibt ihm die Formen, die den verschiedenen nützlichen Zwecken der Menschen dienen.

Darum ist es nicht richtig zu sagen, daß allein die Arbeit den gesellschaftlichen Reichtum schafft. Die Natur und die Arbeit, das sind die beiden Quellen des Reichtums der menschlichen Gesellschaft. Die konkrete Arbeit tritt in Erscheinung in einem bestimmten Gebrauchswert. Sie verkörpert sich in dem Naturstoff als Gebrauchswert. Der Gebrauchswert ist die Substanz der konkreten Arbeit. Wie ist es aber mit der abstrakten Arbeit? Die abstrakte Arbeit ist im Unterschied zur konkreten Arbeit eine für alle Menschen gleiche Arbeit. Sie ist, wie wir wissen, die gesellschaftliche Arbeit der Privatproduzenten. Sie drückt nicht die Beziehung des Menschen zu dem Naturstoff, sondern die gesellschaftliche Beziehung der Menschen als private Warenproduzenten aus. Der Wert drückt demzufolge ein in den Waren verkörpertes gesellschaftliches Verhältnis der Warenproduzenten aus. Es handelt sich deshalb nicht -wie bei der konkreten Arbeit um eine im Gebrauchswert verkörperte materielle, natürliche Substanz, sondern um eine gesellschaftliche Substanz. Die Wertsubstanz tritt dann auf, wenn die Arbeit als gesellschaftliche Arbeit privater Produzenten geleistet wird. Deshalb kann man einer Ware zwar stets die Wirkung der konkreten Arbeit, aber niemals die Wirkung der abstrakten Arbeit ansehen. Die Wertsubstanz ist für niemanden sichtbar. Sie muß erst auf besondere Weise sichtbar gemacht werden, dadurch, daß der Wert in den Tauschwert verwandelt wird. Die Wertsubstanz ist also eine gesellschaftliche Substanz. Sie ist die in den Waren verkörperte gesellschaftliche Arbeit der Privatproduzenten. Eine Substanz existiert aber stets in einem bestimmten Umfang, in einer bestimmten Größe. Eine Substanz ohne Ausdehnung, ohne Größe kann es nicht geben. Die Materie hat, in welcher Form sie auch auftritt, immer eine bestimmte Größe. Sei es die Größe eines Elektrons oder eines Fixsterns. Auch die Wertsubstanz hat ihre Größe, die Wertgröße. Das Maß der Arbeit als Verausgabung der menschlichen Arbeitskraft ist die Zeit. Die Arbeit wird in Arbeitszeit gemessen. Aber ebenso wie die Wertsubstanz eine gesellschaftliche Kategorie ist, d. h. nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen entsteht, ebenso ist die Wertgröße eine gesellschaftlich bestimmte Größe.

Das läßt sich leicht begründen. Wenn die Wertgröße durch die Arbeit des einzelnen Warenproduzenten bestimmt würde, dann wäre der Wert der Ware um so größer, je länger der einzelne an der Herstellung der Ware arbeitet. Je länger die zur Herstellung der Ware aufgewendete individuelle Arbeitszeit, desto größer der Wert. Je kürzer die zur Herstellung der Ware aufgewendete individuelle Arbeitszeit, desto geringer der Wert der Ware. Das würde zur Folge haben, daß der langsamste, ungeschickteste oder faulste Warenproduzent den größten Wert erzeugen würde und der schnellste, geschickteste und fleißigste Warenproduzent den kleinsten Wert. Außerdem würden die in den Austausch gegebenen Waren gleicher Art verschiedene Werte haben, und es könnte kein Austausch zu gleichen Werten erfolgen.

Diese Überlegung bestätigt auch die Praxis. Niemals wird ein privater Warenproduzent, dessen Existenz doch vom Austausch seiner Waren abhängt, freiwillig zustimmen, daß er für viel Waren eigener Art wenig Waren anderer Art erhält, wenn für beide Warenarten etwa die gleiche Menge Arbeit aufgewendet werden mußte. Diejenigen, die wenig Arbeitszeit für die Herstellung ihrer Waren aufwenden, werden immer leichter ihre Waren verkaufen können als diejenigen, die für dieselbe Ware viel Arbeit aufwenden. Diese werden einfach, wenn sie nicht den Arbeitsaufwand vermindem, auf ihren Waren sitzenbleiben. Der Kampf um den Absatz der Waren zwingt die privaten Warenproduzenten, eine annähernd gleiche Menge Arbeitszeit für die Herstellung ihrer Waren aufzuwenden.

Auf diese Weise entsteht eine nicht mehr individuell, sondern gesellschaf t- lich bestimmte Wertgröße. Karl Marx entdeckte als erster die Faktoren, die die Wertgröße bestimmen, nämlich: erstens der durchschnittliche Stand der Produktionstechnik, der Durchschnittsgrad von Geschicklichkeit, Arbeitsfertigkeit des Arbeiters und der Durchschnittsgrad der Arbeitsintensität. Die (Arbeitszeit, die durch diese drei gesellschaftlich bedingten Faktoren beistimmt wird, nennt Karl Marx die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.

„Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittswert von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen." (K. Marx, Das Kapitel, Bd. I, S. 43.)

Wenn einer der drei Faktoren sich im gesellschaftlichen Maßstabe verändert, dann verändert sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Als z. B. an die Stelle der handwerklichen Arbeit die Maschinenarbeit trat, wurde die Wertgröße nicht mehr durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit der handwerklichen Produktion, sondern der industriellen Produktion bestimmt. Das hatte natürlich eine verheerende Entwertung der Produkte der kleinen Warenproduzenten zur Folge. In dem Konkurrenzkampf zwischen den kapitalistischen Großunternehmern und den Betrieben der kleinen Warenproduzenten wird die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit durch die kapitalistischen Großbetriebe bestimmt. Wenn die kleinen Warenproduzenten ihre Ware loswerden wollen, dann müssen sie diese zu derselben Wertgröße verkaufen wie die Kapitalisten.

Werden z. B. in den kapitalistischen Betrieben für die Herstellung von einem Paar Schuhe zehn Stunden aufgewendet, während der handwerkliche Schuhmacher aber zwanzig Stunden braucht, dann gelten diese zwanzig Stunden nur zehn Stunden, da die übrigen zehn Stunden über die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit hinausgehen. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wird durch die kapitalistischen Großbetriebe bestimmt. Die Veränderung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und damit der Wertgröße durch die Veränderung der Produktionstechnik im Kapitalismus mußte zum massenhaften Ruin der kleinen Warenproduzenten führen. Der kapitalistische Großbetrieb ist dem Kleinbetrieb absolut überlegen. Die kleinen Meister können nur durch eine übermäßige Verlängerung der Arbeitszeit ihre Werkstätten aufrechterhalten, denn immer müssen sie zwei und mehr Stunden für eine Stunde gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit verausgaben. Der Fortschritt und die Überlegenheit der kapitalistischen Großproduktion gegenüber der kleinen Warenproduktion zeigt sich demnach in der Senkung der Wertgröße durch die Senkung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit.

Nun gibt es für 'die Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und .damit für die Bestimmung der Wertgröße noch eine Schwierigkeit. Diese Schwierigkeit besteht darin, daß wir zwar die konkrete nützliche Arbeit auf allgemein menschliche, abstrakte Arbeit zurückführen und damit vergleichbar und verrechenbar machen können, daß aber noch ein bedeutender Unterschied zwischen den verschiedenen Arbeiten insofern besteht, daß die eine leichter, die andere schwerer zu erlernen ist. Die Arbeit des Straßenreinigers, Holzhackers, Teppichklopfers ist bedeutend einfacher und leichter zu erlernen als die eines Bäckers, Schuhmachers oder gar eines Uhrmachers, Mechanikers, Technikers und Ingenieurs. Es gibt ohne Zweifel zahllose Stufen in Leichtigkeit und Schwierigkeit der zu erlernenden und auszuübenden Arbeiten, obwohl sie alle auf die gleiche, abstrakte Verausgabung von Arbeitskraft zurückgeführt werden können. Es handelt sich hierbei nicht um konkrete berufliche Unterschiede in der Arbeit, sondern um den Unterschied zwischen einfacher Arbeit und komplizierter Arbeit. Die Verausgabung einfacher Arbeitskraft ist jene Arbeit, die ein gewöhnlicher Mensch ohne besondere Bildung oder Entwicklung der Arbeitskraft mit seinen körperlichen Organen verrichtet. Diese Betätigung, diese noch unausgebildete oder ungelernte Arbeit, das ist die einfache Arbeit. Dagegen Arbeit, die schon eine bestimmte Ausbildung und •ständige Übung erfordert, ist komplizierte oder qualifizierte Arbeit. Die komplizierte oder qualifizierte Arbeit bringt mehr oder an Gebrauchswert und Wert hochwertigere Produkte hervor als einfache Arbeit.

Karl Marx kam deshalb zu dem Ergebnis, daß die unterste Einheit zur Berechnung der Wertgröße einer Ware die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit der einfachen Arbeit ist. Die komplizierte oder qualifizierte Arbeit ist danach eine mehrfache oder multiplizierte einfache Arbeit. Die Arbeit des Uhrmachers gegenüber der des Straßenreinigers ist demnach eine vieroder fünffache einfache Arbeit, wie die Arbeit des Ingenieurs gegenüber der Arbeit des Uhrmachers wieder vier-, fünf- und mehrfache einfache Arbeit ist.

Wie sehr der Unterschied zwischen den Arbeiten der Lohnarbeiter schon im Kapitalismus unwesentlich wird, zeigt sich darin, daß die Arbeit des Straßenreinigers in den Großstädten mehr und mehr mechanisiert wurde, während die Arbeit des Uhrmachers in den Uhrenfabriken zur bloßen Montagearbeit der mechanisch verfertigten Uhrteile herabsank.

Fassen wir die Darlegungen über die Wertgröße und über die Wertsubstanz zusammen: Die Entdeckung des Doppelcharakters der in den Waren dargestellten Arbeit, die Entdeckung des spezifischen gesellschaftlichen Charakters der abstrakten Arbeit führte zur Entdeckung der Wertsubstanz. Die Wertsubstanz ist die in den Waren verkörperte gesellschaftliche Arbeit der privaten Warenproduzenten. Die Wertsubstanz oder der Wert ist demzufolge keine natürliche, sondern eine gesellschaftliche Substanz oder gesellschaftliche Eigenschaft der Ware. Nur die Produkte selbständiger, voneinander unabhängiger Privatproduzenten haben einen Wert und werden als Waren produziert. Der Wert ist der Ausdruck eines in den Waren verkörperten gesellschaftlichen Verhältnisses, des Verhältnisses privater Warenproduzenten. Diese Entdeckung verdanken wir Karl Marx. Die klassischen bürgerlichen Ökonomen kannten weder den Charakter der Wertsubstanz noch den Charakter der Wert erzeugenden Arbeit. Mit der Entdeckung des Doppelcharakters der in den Waren dargestellten Arbeit und damit des gesellschaftlichen Charakters der Wertsubstanz konnte der Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen der privaten Warenproduzenten enthüllt und die Ursachen ihrer Widersprüche erklärt werden.

Auch die Wertgröße ist ein gesellschaftlich bestimmter Faktor, der auf der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit beruht. Er verändert sich mit der Veränderung der Produktivkräfte und führt mit der Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion zu einer Zersetzung und Dezimierung der kleinen Warenproduktion.

Quelle: Prof. Dr. Alfred Lemmnitz; VORLESUNGEN ÜBER DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DES KAPITALISMUS, DER VORMONOPOLISTISCHE KAPITALISMUS, Teil I Die Warenproduktion Die Ware und das Geld, Berlin DDR, 1960, S.33f