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Die Befreiung des Subjekts von seinem autonomen Wesen

Interview mit Martha Zapata Galindo über die emanzipatorische Wirkung der »Dekonstruktion«

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Martha Zapata Galindo studierte Philosophie an der Universität von Guadalajara (Mexiko) sowie Soziologie, Philosophie, Lateinamerikanistik und Altamerikanistik an der Freien Universität Berlin. 1993 promovierte sie mit einer Arbeit über die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Philosophie Friedrich Nietzsches im deutschen Faschismus. Zwischen 1994 und 1997 arbeitete Zapata Galindo als Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der FU Berlin. Zur Zeit ist sie wissenschaftliche Assistentin am Lateinamerika-Institut der FU Berlin und arbeitet an ihrer Habilitationsschrift zum Thema »Intellektuelle und Macht«.

Welche TheoretikerInnen haben deiner Meinung nach auf dem wissenschaftlichen Feld dekonstruktivistische Ansätze entscheidend geprägt und mit welchen politischen Kategorien und Theorien haben sie gebrochen?

Die ersten AutorInnen, die auf dem wissenschaftlich-theoretischen Feld mit einem neuen Ansatz intervenierten, waren die jungen französischen Strukturalisten, die nach 1968 in den Universitäten in Frankreich oder ausserhalb der akademischen Institutionen begannen, andere Wege der Human- bzw. Sozialwissenschaften und der Philosophie zu beschreiten. Autoren wie Derrida, Foucault, Deleuze, Guattari, Lyotard und Althusser sowie die feministischen Theoretikerinnen Kristeva und Irigaray bezeichneten sich selbst damals natürlich nicht als DekonstruktivistInnen. Der Begriff wurde Ende der 80er Jahre in die feministischen Debatten, die in den USA geführt wurden, eingebracht. Die genannten AutorInnen teilten aber einige Forschungs- und Denkansätze: Ausgangspunkt ihrer theoretischen Reflexionen bzw. ihrer (Re)Lektüre von Freud, Marx und de Saussure bildeten die methodischen Revolutionen innerhalb der Anthropologie[1] (Lévi-Strauss), der Linguistik (Jakobson u. a.) und der Psychoanalyse (Lacan). Damit begannen die heute so genannten DekonstruktivistInnen nicht nur die Grenzen der eigenen wissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten, sondern zugleich grundsätzlich die philosophischen Voraussetzungen des in der Tradition der Aufklärung stehenden Denkens zu hinterfragen.

In diesem Zusammenhang spielte auch die Kritik Heideggers an der Metaphysik[2] bzw. seine neue Grundlegung der Ontologie[3] eine zentrale Rolle. Darüber hinaus verstanden sich die »DekonstruktivistInnen« als KritikerInnen der damals in Frankreich dominierenden phänomenologischen[4] Methode. Diese Kritik führte dazu, die zentralen theoretischen und philosophischen Kategorien wie Subjekt, Substanz, Metaphysik, Ontologie etc. in Frage zu stellen.

Weitere Gemeinsamkeiten der AutorInnen sind: 1. die Auflösung des Begriffs des autonomen Subjekts bzw. der Tod des Subjekts. Damit sollte ein struktureller Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht werden; 2. die Ablehnung der metaphysischen bzw. universalistischen großen Erzählungen und damit verbunden, die genealogische5 Rekonstruktion von Kategorien, Verhältnissen und Zusammenhängen, ausgehend von deren relationalem (kontextabhängigem) Charakter; 3. die Kritik an der traditionellen idealistischen Auffassung von Sprache und die damit verknüpfte Postulierung der Materialität des Diskurses; 4. die Infragestellung jeglicher Form von (authentischer) Identität und die damit verbundene Postulierung des Differenzansatzes. Gerade in diesem Zusammenhang hat das feministische Denken ernst zu nehmende Beiträge zur Konstruktion von politischen Identitäten bzw. zur Artikulation von Handlungsfähigkeit geleistet, obwohl sie nach wie vor von den meisten Männern ignoriert werden.

Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen standen die Dezentrierung des Subjektbegriffes und die Formulierung eines neuen Machtbegriffes, was zur Infragestellung des traditionellen Basis-Überbau-Denkens der hegelianisierenden marxistischen Tradition führte, aufgrund des Ökonomismus und Reduktionismus dieses Modells. Dies wiederum hatte die Artikulation einer Kritik an der kommunistischen Partei bzw. an der dogmatischen Linken Frankreichs zur Folge. Viele Intellektuelle der damaligen Zeit stießen innerhalb der kommunistischen Partei auf großen Widerstand. Ihre Positionen, mit denen sie das Politische auf eine neue Grundlage stellen wollten, wurden von der Partei abgelehnt. Viele verließen damals die KP (wie z. B. Foucault und Althusser) oder hörten auf, mit ihr zu sympathisieren.

Inwiefern brechen dekonstruktivistische Ansätze mit der marxistischen Auffassung des entfremdeten Subjekts?

Die dekonstruktivistischen Ansätze brechen radikal mit der Auffassung eines entfremdeten Subjekts, die sich seit den dreissiger Jahren in Westeuropa breit gemacht hatte.

Diese Auffassung ist auf die Rezeption der Frühschriften von Marx, insbesondere der Manuskripte von 1844 und der Kritik des hegelschen Staatsrechts, zurück zu führen. Der einflussreichste Vertreter dieser Auffassung war Georg Lucáks mit seinem Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1919). VertreterInnen dekonstruktivistischer Ansätze stellen die Auffassung eines entfremdeten Subjekts in Frage, nicht nur, weil sie den Subjektbegriff einer radikalen Kritik unterziehen, sondern weil sie ohne diese Kategorie auszukommen versuchen.

Schon bei Althusser, der noch mit dem Subjektbegriff arbeitete, fand eine theoretische Revolution innerhalb der marxistischen Tradition statt, da er von Lacans Neubestimmung des Identitätsbegriffs ausging. Lacan zeigte mit seiner Arbeit über das Spiegelstadium (1949), dass die Identität in der Dimension der Fiktion zu verorten sei, wesentlich durch ihren imaginären Charakter bestimmt ist und ständig eine entfremdende Wirkung auf die weitere Entwicklung und Existenz des Subjekts ausübt. Der Prozess der Identitätskonstruktion entpuppt sich bei Lacan als ein »Prozess der Verkennung«. In diesem Kontext weist er auf die Nichtkoinzidenz[6] von Ich und Subjekt hin. Deswegen besteht, Lacan zufolge, die Notwendigkeit, den Identitätsbildungsprozess ständig zu wiederholen[7], damit das Subjekt über die Wiedererkennungseffekte die fiktional-illusionäre Beziehung zu sich und zu seinem Ich imaginär überwinden kann.

Althussser stellte den Prozess der ideologischen Subjektion[8] als einen sich permanent wiederholenden Prozess innerhalb der ideologischen Staatsapparate in den Mittelpunkt seines Denkens. Unter die ideologischen Staatsapparate zählte er die Familie, die Schule, die Kirche, das Recht, die Politik, die Gewerkschaften, die Kultur bzw. die Medien. Nach Althusser haben die ideologischen Staatsapparate die spezifische Aufgabe, die beherrschten Klassen durch freiwillige Unterwerfung an die herrschende Klasse zu binden. Subjektivität war für Althusser in diesem Kontext nicht etwas Gegebenes oder essentialistisch (wesenhaft) Gedachtes, sondern eher eine Konstruktion. An diesen Gedanken knüpften später sowohl Foucault als auch feministische Theoretikerinnen wie Judith Butler an.

Eine weitere wesentliche Dimension von Althussers Ansatz bestand in der Betonung der hegemonialen Rolle des Staates und seiner Reproduktion über ideologische Formen, die eher auf Konsens denn auf Repression ausgerichtet sind. Althusser rezipierte sehr stark Gramscis Auffassung des Staates und seiner Funktionen und ging - im Gegensatz zu marxistisch-leninistischen Positionen - von einem erweiterten Staatsbegriff aus. Foucault knüpfte beim Entwurf seines Machtbegriffs an diesen Gedanken von Althusser an. Der foucaultsche Machtbegriff wiederum erhielt eine zentrale Bedeutung in neueren feministischen Diskussionen. Für Althusser und Foucault sind die autoritären Strukturen, die von den frühmarxistischen Deutungen nur als repressiv und negativ gedacht wurden, in erster Linie als produktiv und positiv zu denken. Die schöpferische Dimension der Macht erlaubt es nicht, Herrschaft als ein ausschließliches Verhältnis von Oben und Unten zu betrachten. In diesem Kontext wird das Verhältnis zwischen Basis und Überbau neu gedacht. Der Überbau entpuppt sich als ein komplexes Ensemble von Instanzen - bei Althusser die ideologischen Staatsapparate -, die eine eigene Autonomie besitzen und deswegen nicht auf das Ökonomische zu reduzieren sind.

Anders gesagt, das Politische bzw. das Soziale und das Kulturelle haben eine eigene Dynamik und müssen deshalb auch in ihren eigenen Dynamiken analysiert werden.

Während Althusser das Ökonomische als eine Art Bestimmung des Überbaus »in letzter Instanz« begreift und die Autonomie der Praxen und Instanzen des Überbaus betont, verabschiedet sich Foucault von jeglichem ökonomischen Determinismus. Die frühmarxistische Vorstellung des entfremdeten Subjekts beruhte auf einer sehr reduktionistischen Auffassung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die alle sozialen, politischen und kulturellen Phänomene auf ökonomische Prozesse reduzieren wollte. VertreterInnen der Ansätze, die sich von diesem Ökonomismus distanzierten, ohne deswegen mit dem marxistischen Denken zu brechen, eröffneten den Weg, nicht nur für ein neues Politikverständnis, sondern zugleich für einen neuen erkenntnistheoretischen Zugang zu den Sozialwissenschaften.

Warum wurden die dekonstruktivistischen Ansätze besonders von linken sozialen Bewegungen und Theoriezirkeln rezipiert und weniger von linken institutionalisierten bzw. traditionellen Kräften, wie Parteien und Gewerkschaften?

Ich kann nicht behaupten, dass die sozialen Bewegungen generell für dekonstruktivistische Ansätze offener sind als die so genannten traditionellen linken Kräfte. Es ist aber zu beobachten, dass in dem Maße, wie die Parteien und Gewerkschaften an die Grenze ihrer Verhandlungsmöglichkeiten stoßen und an politischer Bedeutung verlieren, neue soziale Bewegungen entstehen, die nach anderen Wegen der politischen Auseinandersetzung suchen. In diesem Kontext kann man sagen, dass aufgrund der Frustration über die politischen Praxen der traditionellen linken Kräfte ein Bedürfnis für andere Ansätze seitens der neuen sozialen Bewegungen artikuliert wird. Da der politische Einfluss der »alten Linken«, z. B. kommunistische Parteien und die Gewerkschaften, langsam bis zur Wirkungslosigkeit nachlässt, treten Fragen nach politischer Identität und politischen Mobilisierungsstrategien in den Vordergrund. Um auf diese Fragen zu antworten, muss die Pluralität der Gesellschaften mit ihren diversen Interessengruppen berücksichtigt werden.

Die feministische Auseinandersetzung mit der Konstruktion von politischen Identitäten hat gezeigt, wie die institutionalisierten linken Kräfte aufgrund ihres reduktionistischen Politikverständnisses unfähig wurden, plurale Interessen bzw. Identitäten zu erkennen und zu berücksichtigen. Andererseits sind feministische Theoretikerinnen auf die Problematik der »Verdinglichung« von Identitäten eingegangen und haben deutlich gemacht, wie politische Identität als Resultat einer sozialen Praxis verstanden werden muss, die ständig in Bewegung ist. Damit sollte nicht nur gezeigt werden, dass Identitäten historisch veränderbar sind, sondern auch, dass Identitäten Konstruktionen sind, die zum Ausschluss von anderen Identitäten führen können. In diesem Zusammenhang war es wichtig, zu begreifen, dass einer offeneren Identitätspolitik größere Chancen für eine breite Bündnispolitik eingeräumt werden kann, als den auf der Auffassung von geschlossenen, essentialistischen Identitäten basierenden Politikpraxen der traditionellen linken Kräfte.

Stichwort soziale Mobilisierungsfähigkeit: Was verändert sich durch den Bruch mit der Auffassung von einer wesenhaften, in sich geschlossenen Identität?

Es handelt sich in erster Linie um die Frage einer Bündnispolitik, die hegemonial werden kann. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Naturalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf der Auffassung von einer essentialistischen, monolithischen Identität basiert, unhaltbar geworden ist. Eine erfolgreiche Bündnispolitik lässt sich nur durch die Berücksichtigung eines breiten Spektrums an Interessen durchführen. Diese Interessen werden überhaupt erst wahrgenommen, wenn politische Identität, so wie es z. B. Judith Butler begreift, als eine offene Kategorie gedacht wird, die immer in Frage gestellt werden kann, vor allem von denjenigen, die durch die Konstruktion einer bestimmten politischen Identität ausgeschlossen werden. Meiner Meinung nach wird die soziale Mobilisierungsfähigkeit erhöht, wenn eine gewisse Öffnung für die Erweiterung der politischen Ziele einerseits immer einsetzbar ist, diese Öffnung aber andererseits für die Ausgeschlossenen immer einklagbar bleibt.

Wie kommt der gängige Trugschluss zustande, dass - nachdem von vielen Linken die Performativität[9] der Geschlechtsidentität theoretisch akzeptiert wurde - eine Auseinandersetzung mit feministischen Forderungen nicht mehr nötig sei, da die Kategorie »Frau« des »klassischen« Feminismus auf einem abzulehnenden Essentialismus[10] beruhe?

Ich glaube, dass es sich hier eher um ein Missverständnis handelt. Denn gerade dekonstruktivistische Ansätze, die gegen die Naturalisierung von Herrschaftsverhältnissen kämpfen, brauchen politische Subjekte bzw. Identitäten, die handlungsfähig sind, damit sie politische Bündnisse erzielen können, die auf einem breiten Konsens beruhen. Die Kritik an der Kategorie »Frau« - wie sie bspw. Butler formuliert hat - zielt nicht darauf, sich von der Kategorie als solcher zu verabschieden, sondern strebt danach, die Ausschlüsse, die diese Kategorie mit sich bringt, zu hinterfragen ... um die Kategorie dann offener zu gestalten. Dies bringt einige Vorteile mit sich. Wenn man die Kategorie »Frau« nicht als eine essentialistische Kategorie denkt, sondern als eine Konstruktion, dann kann man die Frauenbewegung auf ihre Ausschlussmechanismen hin kritisieren und für ein breiteres Verständnis von feministischen Zielen plädieren.

Wir haben von sogenannten ethnischen Minderheiten und von sozial Ausgegrenzten gelernt, wie die traditionellen politischen Identitäten, die essentialistisch gedacht werden, mit den Forderungen dieser Gruppen nichts anfangen können, da sie nicht einmal als mögliche intelligible[11] Identitäten wahrgenommen werden. Das Festhalten an der Auffassung von wesenhaften, überhistorischen Identitäten führt zur Verkennung von Andersartigkeit und von spezifischen Unterdrückungsformen, die sich von den anerkannten Formen unterscheiden.

Eine offenere, feministische Identitätspolitik macht die Erweiterung der angestrebten politischen Bündnisse erst möglich. Das interessanteste Beispiel der letzten Jahre ist die Rezeption des feministischen Ansatzes der bereits erwähnten Philosophin Judith Butler in den US-amerikanischen sozialen Bewegungen. Die Diskussion über eine Pluralität von Geschlechtsidentitäten oder über die Möglichkeit, Geschlechtsidentität an sich in Frage zu stellen, führte dazu, dass viele Gruppen, die separatistisch dachten und lebten, sich mit dem Gedanken anfreunden konnten, zusammen mit anderen ausgeschlossenen und unterdrückten Gruppen, die nicht über Geschlechtsidentität mobilisierbar sind, sondern eher über ethnische oder soziale Identitäten, Bündnisse einzugehen.

Die These von der Performativität wird zudem häufig in eine andere Richtung missverstanden. Viele gehen davon aus, der Konstruktivismus würde Tür und Tor für beliebige Geschlechtsidentitäten öffnen. Nach diesem Verständnis ließe sich je nach Lust und Laune täglich eine andere Geschlechtsidentität annehmen. Dabei wird nicht beachtet, dass die Prozesse der Konstruktion von Identitäten psychischen bzw. sozialen Zwängen unterworfen sind, die allerdings auch nicht als absolut festlegend zu denken sind. Judith Butler hat in ihrem Buch Bodies that Matter (Körper von Gewicht; 1993) darauf hingewiesen, wie der Prozess der Konstruktion von Geschlechtsidentität durch bestimmte Praxen resignifiziert[12] werden kann. Die politische Aufgabe sieht sie darin, bestimmte Positionen zu ergreifen, um diesen Konstruktionsprozess neu zu artikulieren. Butler geht es darum, im Rahmen der symbolischen Ordnung die Struktur der Konstruktion von Geschlechtsidentität auf eine Weise zu reartikulieren, dass verworfene Geschlechtsidentitäten nicht mehr auf gefährliche, zu negierende und auszuschließende Positionen reduziert werden. Des Weiteren geht es Butler darum, zu zeigen, dass das vorherrschende Regime der Identitätsbildung auch versagen kann, und dass dieses Versagen nicht notwendigerweise zur Konstruktion von Nichtidentitäten führen muss, sondern zur Vervielfältigung von Identitäten führen kann.

Wie kommt es zu dem Vorwurf, dass die durch die Dekonstruktion erfolgte Fragmentierung und Auflösung z. B. des Konzeptes »Identität« gleichzusetzen sei mit einem Ende von Einheit und Solidarität, was die Unmöglichkeit von kollektivem, politischen Handeln bedeuten würde?

Ich glaube, dass es sich auch in diesem Fall um ein weit verbreitetes Missverständnis handelt. Man kommt zu dem Schluss, dass sowohl individuelles als auch kollektives Handeln nach der Auflösung des Subjektes nicht mehr möglich sei. Daraus wird das vorprogrammierte Ende von Solidarität abgeleitet. Die Kategorie Subjekt aufzulösen bedeutet jedoch in erster Linie, dass sie nicht mehr essentialistisch, sondern als Konstruktion gedacht wird, was wiederum voraussetzt, dass das Subjekt nicht mehr »Herr im Haus« ist. Dies ist meiner Meinung nach als radikalisierte Auffassung des marxistischen Gedankens zu interpretieren, demzufolge das Subjekt Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dekonstruktivistische Ansätze nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausgangspunkt und versuchen sie in Hinblick auf die Erklärung von Subjektivitätsmodellen zu untersuchen.

In diesem Zusammenhang scheint auch Handlungsfähigkeit eine Konstruktion zu sein, die nicht von Natur aus vorhanden ist, sondern durch Lernprozesse und performativ erworben wird. Diese Einsicht führt nicht notwendigerweise zur Auflösung der konkreten Individuen bzw. zur Zerstörung der Handlungsfähigkeit. Im Gegenteil, durch dekonstruktivistische Ansätze lernen wir, wie bestimmte essentialistische Subjektivitätsmodelle Handlungsfähigkeit gerade verhindern oder zerstören. Verantwortlich zu handeln und solidarisch gegenüber anderen zu sein, setzt eine Subjektform voraus, die in der Lage ist, Unterdrückung zu erkennen. Subjekt sein schließt nicht unbedingt die Solidarität gegenüber anderen ein. Dekonstruktivistische Ansätze eröffnen zudem die Möglichkeit, sich politisch für alternative Subjektivitätsmodelle einzusetzen, die die Bildung politischer Identitäten im Hinblick auf Emanzipation fördern.

Abschließend möchte ich betonen, dass durch die Aneignung einiger dekonstruktivistischer Ansätze unsere Sensibilität für alternative Politikformen erweitert wurde.

Dadurch haben wir uns vom politisch-instrumentalistischen Denken verabschiedet, und die Frage der Mobilisierungsfähigkeit als eine strategische Frage neu artikuliert. Im Mittelpunkt unseres politischen Denkens und Handelns steht nach wie vor die Abschaffung von Unterdrückungsverhältnissen, was aber nur dann möglich wird, wenn handlungsfähige Subjekte in die Lage versetzt werden, diese Verhältnisse als solche zu erkennen. In diesem Zusammenhang entfalten dekonstruktivistische Ansätze ihre größte politische Relevanz und Wirkungskraft.

Das Interview wurde von Jessica Gevers und sk im Dezember in Berlin geführt

Veröffentlichungen von Martha Zapata Galindo:
- Die Rezeption der Philosophie Friedrich Nietzsches im deutschen Faschismus. In: Ilse Korotin (Hg.): »Die Besten Geister der Nation. Philosophie und Nationalsozialismus«, Wien 1994.
- Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat. Hamburg 1995.
- »Filosof'a de la liberaci-n y liberaci-n de la mujer« (Philosophie der Befreiung und Befreiung der Frau). In: Debate Feminista 16 / 1997.

Anmerkungen
[1] Anthropologie: Die Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung in natur- und geisteswissenschaftlicher Hinsicht.
[2] Metaphysik: Philosophische Lehre, die das hinter der sinnlich erfahrbaren Welt liegende und die Zusammenhänge des »Seins« behandelt. Im marxistischen Sinne ist die Metaphysik eine der Dialektik entgegen gesetzte Denkweise, die die Erscheinungen als isoliert und als unveränderlich betrachtet.
[3] Ontologie: Lehre vom »Sein«, von den Ordnungs-, Begriffs- und Wesensbestimmungen des Seienden.
[4] Phänomenologie: Wissenschaft von den sich dialektisch entwickelnden Erscheinungen der Gestalten des Geistes. Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins.
[5] Genealogie (im naturwissenschaftlichen Sinne): Die Wissenschaft von Ursprung, Folge und Verwandtschaft der Geschlechter. Im geisteswissenschaftlichen Sinne: Die Wissenschaft von Ursprung, Folge und Verwandtschaft von Denkweisen, Werken und gesellschaftlichen Prozessen.
[6] Koinzidenz: Deckungsgleichheit; Zusammenfallen, Zusammentreffen oder gleichzeitiges Auftreten bspw. zweier Ereignisse.
[7] Dieses ständige Wiederholen des Prozesses der Identitätsbildung wird später bei Judith Butler Performativität genannt (siehe auch Fussnote zu Perfomativität).
[8] Das autonom, frei entscheidende und überhistorische Wesen des Subjekts existiert nach Althusser nicht. Seiner Auffassung nach erfolgt die Subjektwerdung eines Individuums ausschließlich durch die (ideologischen) Institutionen des Staates (ideologische Staatsapparate).
[9] Performativität: Sprechakt, der zugleich eine soziale Realität schafft, bspw. »Ich hasse dich«. Performativität der Geschlechtsidentität: Das permanente Wiederholen des Prozesses der Herstellung von Geschlechtsidentität.
[10] Essentialismus: Die Naturalisierung sozialer Prozesse oder sozialer Verhältnisse. Hier: Frauen wird per definitionem ein anderes Wesen, eine andere Natur, als Männern zugeschrieben.
[11] Intelligibilität: Ich verwende den Begriff in der Bedeutung, den Judith Butler ihm gibt. Intelligibel ist etwas, das nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch kulturell, juristisch, politisch und sozial als existent wahrgenommen wird. Schwul-Sein bspw. würde intelligibel sein, wenn es als Geschlechtsidentität wie männlich oder weiblich juristisch, sozial, kulturell und politisch anerkannt würde.
[12] Resignifizierung: Hier verwendet im Sinne von Reinterpretation, Reartikulation, Neubestimmung, Neudefinition.