Quelle: DD, Kiel im April 2000 (übergänge zum Kommunismus, MarxAmSonntag)

Ein Jahr nach dem Kosovokrieg:
Wo steht die revolutionäre Linke?

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1. 1. Ein deutscher Krieg
unter amerikanischem Oberbefehl

Abstrahiert man von der Politik, die dem vor einem Jahr begonnenen jüngsten Krieg auf dem Balkan vorausgegangen ist, dann hat es den Anschein, als wäre es einmal mehr vor allem ein amerikanischer Krieg gewesen. Die USA sind nach wie vor militärisch die unangefochtene Nummer eins in der Welt und haben das nicht zuletzt mit den Nato-Bomben auf Jugoslawien eindrucksvoll unterstrichen. Darüber gerät leicht allzu sehr in den Hintergrund, daß es schon seit etlichen Jahren hauptsächlich die deutsche Außenpolitik gewesen ist, die die systematische Zerstückelung Jugoslawiens betreibt, und dabei in jedem ihrer Schritte zunächst auf den Widerstand ihrer „Verbün­deten“ in Nato und EU gestoßen ist. So auch bis in den Herbst letzten Jahres in Sachen Kosovo. Noch im September haben die USA Verständnis für das Vorgehen der jugoslawischen Sicherheitskräfte in der serbischen Provinz signalisiert. Mehr als einmal hatten bis dahin die Chefs der deutschen Politik sich öffentlich darüber beschwert, daß ihr Anliegen einer militärischen Intervention zur Unterstützung der unterdrückten Albaner im Kosovo in den Gremien der Nato hintertrieben werde.

Die USA hatten ein vitales Interesse an stabilen politischen Verhältnissen auf dem Balkan, da sie andernfalls das Auseinanderbrechen des von ihnen beherrschten Militärbündnisses riskieren, mit dem sie ihre europäische Konkurrenz militärisch kontrollieren. Jeder größere Konflikt in dieser Region droht die Nato-Part­ner Griechenland und Türkei auf gegnerischen Seiten zu involvieren und damit den Anfang vom Ende der Nato einzuläuten. Nachdem aber einmal die Verhältnisse - dank der gründlichen deutschen Wühlarbeit - ins Rutschen geraten waren, hatte ihre fällige Neuordnung sich auf jeden Fall unter amerikanischer Federführung zu vollziehen. Die Stärke der USA ist hierbei ihre militärische Übermacht. Ihre von der deutschen Politik weidlich genutzte und freundschaftlich geförderte Schwäche besteht aber darin, daß sie kein positives politisches Konzept solcher Neuordnung besitzt, für das sie ihre militärische Macht in die Waagschale werfen könnte. Letztere ist vielmehr allzu offenkundig ihr eigener Zweck. Oberstes Kriegsziel bei diesem jüngsten Waffengang war aus Sicht der USA von Anfang an die Wahrung der „Glaubwür­dig­keit der Nato“.

Gegen diese politische Konzeptlosigkeit haben dann die Deutschen, nachdem sie die Bomben ein gutes Jahr lang öffentlich herbei geschrieben und diplomatisiert und viel länger schon in den Kulissen dafür intrigiert hatten, am Ende sich auch noch als die politischen Friedensengel profilieren können - und beklagen sich unter einander darüber, daß man das in Amerika nicht so recht zur Kenntnis nehmen will. Ihre bisheriges Hauptziel haben sie erreicht: Deutschland durfte seine wiedererlangte Kriegsfähigkeit endlich einmal praktisch vorführen. Die uneingeschränk­te deutsche Souveränität steht nicht mehr nur auf dem Papier, sie hat ein erstes konkretes Betätigungsfeld gefunden. Innenminister Schily bereist seine balkanischen Provinzen, General Harff duldet an der jugoslawisch-albanischen Grenze keine Widerrede jugoslawischer Grenzpolizisten mehr und deutsche Landser dürfen vor laufenden Kameras in Prizren mit renitenten Serben kurzen Prozeß machen, ohne daß jemand auf die Idee kommt, sie zur Verantwortung zu ziehen.

Daß tatsächlich rein gar nichts neu oder überhaupt irgendwie verbindlich geordnet ist; daß irgendein zivil organisiertes Zusammenleben in der Provinz auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte zerbombt ist; daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann wieder im Kosovo, in Montenegro, in Mazedonien oder vielleicht in der Vojvodina die nächste Lunte am Pulverfaß Balkan brennt - das alles ist kein deutsches Problem, sondern vielmehr Teil der deutschen Lösung des deutschen Hauptproblems: auch die letzten Reste jener Ordnung der politischen und militärischen Kräfteverhältnisse in Europa zu beseitigen, der noch allzu deutlich die Züge der vernichtenden letzten großdeutschen Niederlage eingebrannt sind. Soviel Ruhe in Europa vor deutschen Großmachtansprüchen wie die letzten 50 Jahre war noch nie gewesen und soll nie wieder sein.

2. neudeutsche Außenpolitik:
Russen rein, Amis raus, Deutschland rauf!

Was die Linke in Deutschland in ihrer Mehrzahl längst vergessen zu haben scheint, daran hat die bürgerliche Propaganda auf beiden Seiten des Atlantiks in jenen kriegerischen Tagen gleich mehrfach erinnert: Die Nato hatte vom Tag ihrer Gründung an einem doppelten Zweck gedient: Sie war einerseits ein kapitalistisches Militärbündnis des Westens gegen den kommunistischen Osten. Die bürgerlichen Klassen Europas verpflichteten ihr amerikanisches Pendant, sich zu ihrem Schutz in Europa dauerhaft zu engagieren, und traten dafür im Gegenzug beim weltpolitischen Konzert ins zweite Glied zurück. Aber Kapitalisten wären nicht, was sie sind, wenn sie über ihre gemeinsamen Nöte ihre tödliche Konkurrenz untereinander nicht im Auge behielten. Fressen oder gefressen werden heißt nach wie vor das Gesetz, das ihren Verkehr untereinander beherrscht.

Die herrschenden Klassen außerhalb Deutschlands haben nicht vergessen, daß die unmittelbarste Bedrohung der Unabhängigkeit ihrer Geschäfte im zurückliegenden Jahrhundert ihren Ursprung keineswegs im unruhigen Osten, sondern in der eigenen europäischen Mitte gehabt hatte, von wo aus man gleich zweimal über ihre Domänen hergefallen war. Und am beunruhigendsten dürfte für sie die Erfahrung gewesen sein, daß jedenfalls beim zweiten Mal sie nicht mehr imstande gewesen waren, aus eigener Kraft sich davon zu befreien. Die tödliche Gefahr lag zwar zum zweiten Mal besiegt am Boden. Aber die Sieger hießen zuerst Sowjetunion und USA. Das besiegte Deutschland der Sowjetunion zu überlassen, kam seinerzeit von vornherein nicht in Frage. Es in die Neutralität zu entlassen, wie es Stalins Präferenz gewesen war, hätte bedeutet, die Entwicklung die zum zweiten Weltkrieg geführt hatte, erneut heraufzubeschwören. Die Lösung hieß: Teilung Deutschlands und Integration seines westlichen Teils in das von den Amerikanern frisch errichtete nordatlantische Militärbündnis, um die Deutschen freundschaftlich, aber um so fester an der Kandare zu halten.

Die allgemeine Geschäftsgrundlage dieser Verfahrensweise ist inzwischen in zweifacher Hinsicht längst hinfällig geworden. Der kommunistische Osten, der nach seinem Sieg über die Nazis für vierzig Jahre die mörderische bürgerliche Konkurrenz zwar nicht beseitigt, aber deutlich überlagert hatte, ist sang- und klanglos aus der Weltgeschichte verschwunden. Namentlich für die deutsche Bourgeoisie ist damit das eigene Interesse am amerikanischen Schutzschild über Europa vollständig weggefallen. Darüber hinaus aber hat sich in einem noch weiter zurückreichenden Prozeß das amerikanische Kapital aus dem größten Gläubiger auf dem Weltmarkt in dessen größten Schuldner verwandelt. Damit leisten sich die USA nicht zuletzt ihre schier übermächtige Militärmaschinerie mittlerweile auf Kredit seitens der übrigen kapitalistischen Welt, vor allem Westeuropas und Japans.

„Der erste Generalsekretär der Nato, Lord Ismay, hat das Gründungsprogramm der Nato in einem sehr einprägsamen Satz zusammengefaßt. Lord Ismay sagte damals, Zweck der Nato sei, ‚to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down‘ … Dieses Programm galt bis zum Ende des Kalten Krieges … [Es gab] ursprünglich einen Widerspruch zwischen der anglo-briti­schen Gründung der Nato und dem deutsch-französi­schen Versuch der Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Dieser Widerspruch zwischen der Bindung Deutschlands - von seinem Sicherheitsinteresse her - an die transatlantische Achse und der gleichzeitigen Bindung Deutschlands - von seinem europäischen Interesse her - an die deutsch-französische Achse ist bis heute ein konstitutives Element geblieben … Diesen Widerspruch in eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik und eine Stärkung der europäischen Säule innerhalb der Nato aufzulösen, wird demnach die entscheidende Herausforderung der kommenden Jahre sein.“ (Außenminister Fischer anläßlich des 50. Jahrestag der Gründung der Nato im 22. April im Bundestag, zitiert nach Thomas Becker: Rivals in Leadership. In: konkret 6/99)

Diese Lage der Dinge schreit schon eine geraume Zeit nach einer umfassenden Neuverteilung von Domänen, Berechtigungen und Kompetenzen unter den kapitalistischen Räuberbanden, die zusammen den Weltmarkt bilden und sich allein auf der politischen Weltbühne wähnen, nachdem gegen ihr Räuberdasein selbst anscheinend niemand mehr ernsthaft etwas einzuwenden hat.

„Der bekannte Spruch aus den Vierzigern besagt, daß der Zweck der Nato darin bestand, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Es liegt in der Natur der heutigen Verhältnisse, daß der letzte Zweck weiterlebt, sofern man ‚Deutsch­land‘ mit ‚Europäische Union‘ übersetzt. … Angesichts der Tatsache, daß die EU auf dem Sektor der Ökonomie und des Handels immer härter und wettbewerbsbetonter auftritt, liefert die andauernde Vorherrschaft der USA auf dem Feld der europäischen Sicherheit ein nützliches Gegengewicht. Die derzeitigen Unstimmigkeiten über die neue Auftragsdefinition der Nato sind der unausgesprochene und erstaunlich diskret behandelte Ausdruck dieser neuen Konkurrenzbeziehung zwischen Westeuropa und den USA.“ (Kommentar der International Herald Tribune vom 23. Februar 1999, zitiert nach Matthias Küntzel: Weiter wie bisher? Die Initiatoren des Krieges gegen Jugoslawien sitzen in Bonn, nicht in Washington. In: Jungle World, 14.04.99)

Als 1990 mit dem Anschluß der DDR alle bis dahin noch gültigen Einschränkungen deutscher Souveränität aufgehoben wurden, hatten die Amerikaner darauf bestanden, daß der Geltungsbereich des Nato-Vertrags sich uneingeschränkt auch auf das Gebiet der früheren DDR erstrecken müsse, und Großbritannien und Frankreich banden ihre Zustimmung an die deutsche Bereitschaft, die D-Mark, das Hauptinstrument und Symbol der deutschen Vorherrschaft in Europa, in einer gemeinsamen europäischen Währung aufgehen zu lassen. Die Tinte unter dem Maastrichter Vertrag, mit dem Deutschland sein Versprechen einlöste, war noch nicht trocken, als der deutsche Außenminister die übrige westliche Welt mit der Erklärung brüskierte, Deutschland sei zur sofortigen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als unabhängige Staaten bereit, wenn die beiden Teilrepubliken Jugoslawiens dies wünschten. Die in Maastricht soeben feierlich beschlossene gemeinsame europäische Außenpolitik war damit umstandslos in deutsche Geiselhaft genommen. Das Signal an die europäischen „Partner“ war eindeutig und wurde verstanden: Wenn ihr keinen deutschen Sonderweg wollt, müßt ihr ihn mit uns Deutschen mitgehen.

Mit dem Kosovokrieg hat Deutschland eine zweite Etappe auf diesem Weg eingeleitet. Nicht nur ist ihm der Coup gelungenen, daß die Supermacht USA einen Krieg führen mußte, den sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Nicht nur haben damit die Deutschen nach langer Durst­strecke eine erste Gelegenheit erhalten, ihre militärischen Qualitäten vor der Welt zu demonstrieren und zu erproben. Vielmehr ist es im Jahre 50 nach ihrer Gründung zugleich der erste Krieg überhaupt, der - mit allen Schikanen - offiziell von der Nato geführt wird und in dem es zuallererst um sie selber geht: um ihren Zusammenhalt und den praktischen Nachweis ihrer Existenzberechtigung. Überflüssig, daran zu erinnern, daß es ganz sicher nicht Miloševic gewesen ist, der die Frage danach aufgeworfen hat?

Bis auf weiteres bleibt sie jedenfalls unentschieden und daher eine Sache von Interpretationen. Aber in diesen ist der Gegensatz bereits unübersehbar. Die USA buchen als Erfolg, daß die Besatzungstruppen faktisch unter Nato-Kommando stehen. Die Deutschen umgekehrt, daß es ihnen gelungen ist, „die Russen ins Boot zu holen“ und die UNO formell wieder in ihre Rechte einzusetzen. Früher oder später wird es darüber Streit geben, wem die Verantwortung anzulasten ist, wenn sich abzuzeichnen beginnt, daß die Angelegenheit ähnlich schief gehen wird wie etwa in Somalia. Anders als dort steht und fällt aber mit dem Erfolg des Besatzungsregimes im Kosovo die Zukunft des mächtigsten Militärbündnisses der Welt. Den Deutschen kann’s nur recht sein.

3. „Angriffskrieg“ oder imperialistischer Krieg?

Die Diagnose, daß die deutsche Politik sich auf der Linie eines strategischen Konflikts mit der amerikanischen Hegemonie bewege, schließt weder ein, Deutsch­land eine entsprechende „Omnipotenz“, noch den USA das Verfolgen nunmehr irgendwie menschenfreundlicherer Interessen anzudichten. Was das Erste angeht, ist daran zu erinnern, daß das Reich in Europas Mitte in diesem Jahrhundert sich mit seinen hegemonialen Ambitionen bereits zweimal fürchterlich übernommen hat. Zum Zweiten sollte eigentlich keine Frage sein, daß ein Imperialismus, der seinen Zenit überschritten hat und strategisch gegen seine Konkurrenz in die Defensive gerät, gleichwohl eben darin durch und durch imperialistische, also reaktionäre Zwecke verteidigt. Ursache, ihn in dieser Lage in irgendeiner Weise zu schonen, hätte daher nur eine Linke, die noch immer hoffnungslos feststeckt in der ungefähr seit Stalins Zeiten und seiner desaströsen Volksfront-„Strate­gie“ üblich gewordenen Unterscheidung zwischen bösen und weniger bösen, zu bekämpfenden und bündnisfähigen Teilen der Weltbourgeoisie.

Sich von dieser Linken entschieden abzusetzen, ist nicht der geringste Zweck unserer Diagnose. Neben ihrer ganz sachlichen Komponente, daß die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges von einem gravierenden Konflikt zwischen der deutschen und der amerikanischen Außenpolitik geprägt war, enthält sie zweifellos ein gutes Stück Spekulation. Sie rechnet mit dem Schlimmsten - nicht zuletzt auf seiten der Linken, die gegen diesen Krieg opponiert hat. Die dort weitverbreitete agitatorische Phrase vom sogenannten „An­griffskrieg“ der Nato gibt einiges zu denken.

Nähmen wir sie allein bei ihrem sachlichen Gehalt, so käme sie wohl eher einer Beschönigung gleich als der Wahrheit nahe, denn dem tatsächlichen Verlauf der Kriegshandlungen nach hat es sich beim Überfall auf Jugoslawien kaum um einen regulären Krieg mit bestimmten Angriffs- und entsprechenden Verteidigungsaktionen gehandelt, sondern eher um die Exekution eines Strafgerichts an einem dagegen völlig wehrlosen Opfer. Die Phrase soll aber wohl vielmehr die Verwerflichkeit des Nato-Bombardements unterstreichen, nach dem Motto: Verteidigung ginge eventuell in Ordnung, Angriff ist in jedem Fall eine Schweinerei. So ähnlich haben jene internationalen Sozialisten aller Länder zuvor gedacht, geredet und geschrieben, die dann 1914 sich genötigt sahen, jeweils ihrem bedrängten Vaterland zur Seiten zu stehen, weil es sich doch seiner Haut zu wehren habe.

Wir wollen zunächst gar nicht näher davon reden, daß für Revolutionäre die Notwendigkeit und daher Berechtigung eines Angriffs mit allen verfügbaren, unter Umständen also auch kriegerischen Mitteln auf den Imperialismus an sich nicht in Frage stehen kann. Auch davon abgesehen, könnte nämlich immerhin auffallen, wie die Argumente gegen die Aktualität der antiamerikanischen Hegemonieansprüche Deutschlands mit der in der Rede vom „An­griffs­krieg“ vorgenommenen Akzentsetzung merkwürdig zusammenspielen.

Wenn es denn stimmt, daß mit der realen „Potenz“ der Deutschen, den USA ihre Vorherrschaft streitig zu machen, es derzeit nicht allzu weit her ist, wenn es stimmt, daß die Initiative des Handelns weltpolitisch immer noch eher in den Händen der USA liegt, dann wird eine Entwicklung um so wahrscheinlicher, in der ein um die Wahrung eigenständiger europäischer Interessen ringendes Deutschland sich vielleicht schon demnächst tatsächlich in der Lage wiederfindet, seine Domänen verteidigen zu müssen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist um so größer, als man außerhalb Deutsch­lands hier und da sich vermutlich erinnern wird, wie hoch der Preis werden kann, wenn dieses Land die Zeit erhält, wirklich in größerem Umfang angriffsfähig zu werden. Wir sind leider nicht phantasielos genug, uns nicht auszumalen, wie in einer solchen Situation der weitaus größte Teil derjenigen sich verhalten wird, der in den vergangenen Monaten „ge­gen den Angriffskrieg der Nato“ mit uns auf der Straße war. Ist doch bereits von einem nicht ganz unerheblichen Teil der Opposition gegen den Nato-Krieg dessen Mißbilligung nicht zuletzt damit begründet worden, daß es im Kern ein Krieg der USA gegen Europa sei. Der kriegerisch gewordene Menschenrechtspazifismus der Grünen ist das Menetekel, das dem Völkerrechtspazifismus der jetzigen linken Opposition von der PDS bis zu mancher Abteilung der Autonomen seine Zukunft weist.

„Wenn … der Balkan brennt, wird sich die Katastrophe des Krieges kaum auf diese Region lokalisieren lassen. Die Donau als wichtigste Wasserstraße Europas ist von den alliierten Bombern bereits unwegsam gemacht worden. Unter amerikanischem Kommando führt Europa Krieg gegen sich selbst. Heute sind es albanische Flüchtlingsströme, die als Manövriermasse einer ‚zu verhindernden humanitären Katastrophe‘ herhalten müssen. Und morgen?“ (Werner Pirker: NATO-Autisten. USA mobilisieren zum Bodenkrieg auf dem Balkan. Kommentar. In: junge Welt 17.04.1999)

Sowieso haben Revolutionäre hierzulande gegen den Natoüberfall auf Jugoslawien natürlich nicht deshalb opponiert, weil ihnen „der Frieden“ am Herzen läge. Denn der bestimmte Frieden dieser bestimmten Welt, in der der eine Teil der Menschheit durch einen zusehends schrumpfenden anderen systematisch ausgeplündert und um seine sämtlichen Existenzgrundlagen gebracht wird, ist der Frieden der Plünderer, ist die Unterdrückung der unvermeidlichen Rebellion gegen ihr katastrophales Weltregime. Er ist die an sich unmögliche, daher stets gefährdete, stets nur vorübergehende Befriedung eines Gegensatzes, den es vielmehr zu eskalieren, auf die Spitze zu treiben gilt, damit er aus der Welt verschwinde. Die Frage, wer den gegebenen Frieden zuerst bricht und wer darauf reagiert, wer also in einem Krieg jeweils der Aggressor ist und wer sich gegen die Aggression verteidigt, ist eine untergeordnete, taktische Frage. Wer mit ihr seine Parteinahme in einer bestimmten kriegerischen Auseinandersetzung begründet, hat damit bereits seinen Diener (oder Knicks) vor der herrschenden Ordnung, dieser Unordnung der Herrschenden, gemacht.

„Hier haben wir wieder als Basis der ganzen politischen Orientierung jene famose Unterscheidung zwischen Verteidigungskriegen und Angriffskriegen, die früher eine große Rolle spielte in der auswärtigen Politik sozialistischer Parteien, die aber - nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte - ruhig ad acta gelegt werden dürfte. Was ist in der Tat ein Verteidigungskrieg? Wer wird es übernehmen, mit Sicherheit von irgend­ einem Kriege zu behaupten, er gehöre zu dieser oder zu jener Kategorie? Und wie leicht und einfach ist es für die Diplomatie eines Militärstaates, durch kleine Nücken und Tücken, durch Schachzüge einen schwachen Gegner zum Angriff gerade zu zwingen, wenn ihm selbst der Krieg erwünscht ist! Was waren die Napoleonischen Kriege, Angriffs- oder Verteidigungskriege? Vom Standpunkte der europäischen Feudalstaaten waren sie sicher Angriffskriege, vom Standpunkte Frankreichs aber waren sie Verteidigungskriege, denn sie waren notwendig, um das Werk der großen Revolution vor dem europäischen Ancien régime zu verteidigen. Und mochten sie formal und ihrem ganzen Vorgehen nach Angriffskriege sein, sie waren eine fortschrittliche und revolutionäre Erscheinung. Was war der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland 1870? Da Bismarck zweifellos Frankreich in den Krieg planmäßig hineingetrieben hat, müßte nach der Jaurèsschen Formel der Krieg Napoleons III. als ein ‚gerechter‘ erscheinen. Nach sozialistischer Auffassung hatte aber in diesem Kriege keine von den Parteien das Recht auf ihrer Seite, es war ein Ausfluß sowohl der verbrecherischen Politik Napoleons wie der Berechnungen und Pläne der Blut-und-Eisen-Politik Deutschlands. Diese Beispiele beweisen eben, daß man geschichtlichen Erscheinungen wie den modernen Kriegen mit der Elle der ‚Gerechtigkeit‘ oder dem Papierschema von Verteidigung und Angriff nicht beikommen kann und daß sich in solche Zwirnsfäden keineswegs die materielle Macht großkapitalistischer Entwicklung, wohl aber die moralische Macht der sozialistischen Agitation selbst einfangen läßt.“ (Rosa Luxemburg: Die Neue Armee. Eine Kritik des 1911 in Paris erschienen Buches von Jean Jaurès: L’Armée nouvelle. In: R.L., Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 527)

Nicht daß überhaupt ein in seinem Kern durch und durch fauler Frieden gebrochen wurde, hat dagegen uns auf die Straße getrieben, sondern das Wissen darum, wer hier in welchem Interesse zum Äußersten, zum Mittel des Krieges gegriffen hat. Richtig verstanden war es in mehrfacher Hinsicht ein Krieg zur Verteidigung des in der Tat empfindlich gestörten Weltfriedens der Ausplünderung und Unterdrückung. Dessen unvermeidliches Charakteristikum ist es, daß er sich regelmäßig nur herstellt als bestimmtes Gleichgewicht der in das Geschäft der Weltausplünderung involvierten Kräfte. Etwaige, zunächst meist ganz friedlich, im normalen Geschäftsgang vor sich gehende Veränderungen dieses Gleichgewichts erzwingen an einem bestimmten Punkt jedesmal die Neuaufteilung der Domänen unter den Plünderern. Diese kann sich, deren räuberischer Natur nach, nur im Wege ihres wechselseitigen Kräftemessens vollziehen, während dessen jedes übergeordnete Gesetz, dem man sich - zum gemeinsamen geschäftlichen Nutzen - gemeinsam unterwirft, außerkraftgesetzt ist und daher die nackte Gewalt regiert. Dieser Zustand heißt Krieg. Die Opfer der großen Weltausplünderung haben auch in solchen Zeiten selbstverständlich keinen Grund, ihr Schicksal an irgendeinen der Plünderer zu binden, weder klassisch sozialdemokratisch an den wohlvertrauten „eige­nen“, noch etwa an dessen momentane Widersacher. Sie haben aber allen Grund, statt als das hauptsächliche Unglück womöglich zu beklagen, daß die über Recht und Gesetz geregelte gemeinsame Herrschaft ihrer Plünderer vorübergehend suspendiert ist, deren Streit untereinander ausgiebig zu nutzen zur Formierung und zu Vorstößen in eigener Sache.

4. Erstes Opfer der Natobomben:
die Antikriegsbewegung.
Wiederbelebung zwecklos

Vom einstigen massenhaften Bekenntnis auf deutschen Straßen, daß „von diesem Boden nie wieder Krieg ausgehen“ dürfe, ist, als erstmals tatsächlich wieder Krieg unmittelbar von Deutschland ausging, bekanntlich wenig geblieben. Im Namen bürgerlicher Gerechtigkeit, im Namen von Menschen- oder Völkerrecht, von Frieden, Freiheit und Antifa war dagegen offensichtlich nicht mehr mobil zu machen. Im eigenen Namen zu sprechen und zu handeln, im Namen der Leidtragenden eben dieser Gerechtigkeit oder gar der Feindschaft gegen sie haben jedoch auch diejenigen gründlich verlernt, die es trotz alledem auf die Straße trieb. Der Enteignung ihrer sämtlichen hergebrachten Stichworte durch das rot-grü­ne Oberkommando des bewaffneten Menschenrechts hatten sie nur die höchst unbestimmte Antwort entgegenzusetzen: Alles Lüge!

Tatsächlich war da - bis auf ein paar ehrenwerte, versprengte Reste - nicht mehr die alte Friedens- oder Antikriegsbewegung auf der Straße, sondern allenfalls jene Teile ihres alten mobilisierenden Kerns, die eigentlich schon immer etwas ganz anderes gewollt hatten als die Harmonisierung der bestehenden Welt, sich aber schon vor langer Zeit angewöhnt hatten, das lieber nicht so laut zu sagen. Ihr einstmals recht stattlicher friedensbewegter Anhang, ließ sie im Stich, weil er wirklich nie etwas anderes gewollt hatte als ein bißchen Frieden; nicht also, weil er etwa auf einmal für Krieg war, sondern weil aus dem, was ihn früher auf die Straße und vor die Kasernen getrieben hatte, sich kein triftiger Grund ergab, ausdrücklich gegen diesen Krieg zu sein.

Haben nicht ganz andere jenes bißchen Frieden zuvor schon gebrochen, das uns das Ende des Kalten Krieges hatte bescheren sollen? Und, ob wirklich alles nur Lüge sei - wer wollte das entscheiden? Auf welcher Grundlage?

Anhand der empirischen Fakten sicher zu beurteilen, wie nach den Maßstäben einer überparteilichen, allgemein-menschlichen Gerechtigkeit Schuld und Unschuld verteilt waren in dem mörderischen Geschehen in und um den Kosovo, war ohnehin kaum möglich. Aber selbst der Versuch dazu erforderte einen solchen professionell zu treibenden Aufwand in der Sammlung und Sichtung des täglich neu sich häufenden Materials, daß es sich unweigerlich in Expertenwissen verwandelte. Experten aber gab es auf Seiten der Menschenrechtsmilitanten mehr als genug und noch mehr Mittel, deren Wissen politisch zu verwerten. Für die Gegner dieses Krieges war die Schlacht hier von vornherein verloren. Und insgeheim wußten sie selber das am besten.

„Was soll das“, fragte in einem Flugblatt die in Kiel ansässige Initia­tive Kein FriedeN mit der NATO (zur Demo am letztjährigen „An­ti­kriegs­tag“ in Hamburg), „wenn diejenigen, die am lautesten von ‚Men­schenrech­ten‘ quatschen, die politischen Fratzen des Systems sind - das waren doch sonst immer wir?!“. Die Frage zielt ins Zentrum der Schwierigkeiten, auf Deutschlands ersten Krieg nach tausend Jahren linksradikal angemessen zu reagieren, und trifft dennoch haarscharf daneben. Verkennt sie doch gleich in zweifacher Hinsicht, was die Stunde geschlagen hat.

Diejenigen „politischen Fratzen des Systems“, die es übernommen haben, den jüngsten deutschen Krieg mit lautem Gequatsche von den Menschenrechten zu puschen, waren dereinst selbst ein Teil des hier reklamier­ten „Wir“, das „sonst immer“ schon „am lautesten von ‚Menschenrech­ten‘“ hat „quatschen“ müssen. Sie haben diesen Teil ihres heutigen Geschäfts bei „uns“ gelernt. Das „Wir“ von „sonst immer“ hat sich definitiv in Rauch aufgelöst, und die Rede von diesem „Wir“, als wäre mit ihm selbst an sich nichts wesentliches geschehen, von einem „Wir“, das gegen das „Sy­stem“ mit seinen „politi­schen Fratzen“ stehe, erweist sich hieran als ziemlich selbstgerechte Nostalgie, die weiterhin partout nicht wahrhaben will, was offensichtlich geworden ist: daß „wir“ wohl oder übel schon immer irgendwie auch Bestandteil jenes ominösen „Sy­stems“ gewesen sind, und als solcher unsere bestimmte, mehr oder weniger unwichtige Rolle darin gespielt haben.

Andererseits haben besagte von „uns“ abstammenden „politischen Fratzen“ genau damit aufgehört: von den Menschenrechten nur zu „quatschen“. Völlig zu Recht nehmen sie für sich in Anspruch, daß sie ihrem auch „sonst immer“ im Mund geführten Wort endlich einmal die unter den gegebenen Umständen dazugehörige Tat haben folgen lassen. Sie sind derjenige Teil von „uns“, der das bloße Gequatsche gegen wirkliche Politik eingetauscht und darin den Menschenrechten ihren angemessenen Platz zugewiesen hat. Dem üblichen Lamento linker Antikriegspredigten zum Trotz ist die Menschenrechtspropaganda mit all ihrer Demagogie keineswegs bloß Phrase und Vorwand. Die Freiheit der Kosovaren, in einem europäischen oder atlantischen Protektorat sich ganz dem blutig-archa­ischen Rausch ihres Albanertums hinzugeben, ist dieselbe, die hierzulande als die allseits propagierte und zusehends ungenierter realisierte Freiheit daherkommt, daß jedermann und jedefrau bitte selber sehen mögen, wie sie zurechtkommen.

Daß diese Freiheit sich mit einer völkischen Note versieht, ist - anders als zu früheren Zeiten, da die Weltherrschaft dem Kampf der Großmächte untereinander noch ein wirkliches Ziel geboten hatte, nämlich noch keine schlichte, mit Namen und Adresse versehene, alltäglich zu besichtigende Tatsache war - heute nur noch ein jederzeit umtauschbares Accessoire. Weniger ein eigentliches Kriegsmittel, das selbständige Wirkung entfaltet, als vielmehr ein der humanitären Action aufgeklebtes Lable, auf dem sich ihr vorübergehender Hauptsponsor mit seiner besonderen Tradition für einen flüchtigen Moment verewigen durfte. Nicht eigentlich für das unabhängige Kosovo oder Großalbanien kämpfen die Kosovaren, sondern ganz nüchtern dafür, daß Nato und EU sie in den Status einer in den entsprechenden Gremien Gehör findenden speziellen Lobby erheben. Alles Übrige ist eine Frage der wechselnden Umstände.

Dies ist aber die ihrer Lage genau entsprechende, daher die einzig angemessene Interpretation eben jener Menschenrechte, von denen die Linke immer noch glaubt, die schönen Worte gegen die häßliche Realität einklagen zu sollen.

4..1 Kleiner Exkurs: Kapital und Menschenrechte

Der in die Form positiver Rechte gegossene „Mensch“, mit nichts als der Freiheit ausgestattet, nach eigener Fasson glücklich zu werden, ist an sich ein ziemlich armseliges Geschöpf. Zu seinem wirklichen Glück fehlt ihm - fast alles, was es dazu auf Erden braucht, außer eben jenem Recht, es sich zu suchen, das naturgemäß die Garantie ausschließt, daß er es auch findet. Die positive Verwirklichung dieses Geschöpfs nahm hier in Westeuropa mit der vor fünfhundert Jahren einsetzenden sogenannten „ur­sprüng­li­chen Akkumulation“ des Kapitals ihren Lauf: In der äußerst gewaltsamen massenhaften Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung von Haus und Hof, ihrer Enteignung von ihren sämtlichen Subsistenzmitteln, so daß sie schließlich gezwungen war, das einzige, was man ihr gelassen hatte, ihre Arbeitskraft, massenhaft zu Markte zu tragen.

Den damit geschaffenen Typus eines eigentumslosen sozialen Individuums hatte die Geschichte unserer Menschwerdung bis dahin noch nicht gesehen. Weder die Leibeigenen der Feudalzeit, noch die Sklaven der Antike waren so radikal eigentumslos wie dieses neue, moderne Proletariat: Denn soweit jene als Leibeigene oder Sklaven fungierten, soweit sie also als die Objekte solcher vormodernen Ausbeutung ihrer Arbeit zugerichtet waren, waren ihnen immerhin die Lebensmittel garantiert, deren sie zum Fristen ihrer knechtischen Existenz bedurften. Das moderne proletarische Individuum ist dagegen für seine Ausbeutung immer schon zugerichtet, bevor es in ein bestimmtes Verhältnis zu einem bestimmten Ausbeuter tritt. Es ist unabhängig von irgendeinem persönlichen Verhältnis durch seinen eigenen armseligen materiellen Zustand gezwungen, sich in ein ausbeuterisches Verhältnis zu begeben, weil es immer schon nicht nur von sämtlichen Produktionsmitteln, sondern auch von seinen Lebensmitteln enteignet ist. Diese nehmen, wie alles in der modernen, bürgerlichen Welt, die Form von Waren an: einer ökonomischen Form, in der die nützlichen Dinge dieser Welt denjenigen, die sie besitzen, konkret nichts nützen, und denjenigen, die ihrer konkret bedürfen, als fremdes Eigentum entgegentreten, daher ausgetauscht werden, ihren Eigentümer wechseln müssen, bevor sie gebraucht werden können.

Dieser neu geschaffene Sozialtypus - vollständig reduziert auf nichts als die in seiner physischen Existenz selbst begründete und davon nicht zu trennende bloße Fähigkeit, sich produktiv zu betätigen, befreit von sämtlichen außerpersönlichen, sachlichen Voraussetzungen, seine Fähigkeit in eigener Regie zu realisieren - entspricht nun bru­tal genau jenem esoterischen Geschöpf, das die Menschenrechte zum Gegenstand haben. Dessen als natürlich angenom­mener Trieb, das „Streben nach Glück“, erhält in seiner rauhen bürgerlichen Wirklichkeit allerdings eine ungleich profanere Daseinsweise: Der auf seine nackte Physis heruntergestutzte Mensch wird von seinem knurrenden Magen und seinen frierenden Knochen regelmäßig daran erinnert, daß zum wirklichen Mensch­sein doch etwas mehr gehört als das reine Selbst, das frei über sich und sonst gar nichts bestimmen darf. Die vornehme Jagd nach dem Glück realisiert sich als permanenter Kampf der Habenichtse um ihr nacktes Dasein.

Nun weiß heute wohl jedes Schulkind, daß zwar das Aufkommen der Idee der Menschenrechte zeitlich und räumlich zusammenfällt mit dieser ersten massenhaften Enteignung der unmittelbaren Produzenten, daß aber die Verkünder jener Idee keineswegs den Habenichts, sondern den besitzenden Bürger als ihre Inkarnation und praktische Grundlage ansahen. Herr und Frau Habenichts zählten gar nicht als soziale Individuen. Sie standen außerhalb der offiziellen Gesellschaft, waren asozial und allenfalls durch ihre Erhebung in den Stand von Eigentümern zu sozialisieren. Der mit nichts als dem eigenen Fleiß und Geschick zu Wohlstand und Ansehen gelangte Bürger war das aktive, bewegende Element der Zeit; das sich um ihn herum akkumulierende Elend schien nur den notwendigen Kontrast zu bilden, vor dem die Tugend des erfolgreichen Bürgers um so heller erstrahlte. Jeder soll nach dem Glück streben dürfen, aber nicht jeder hat es sich schließlich verdient, denn was bräuchte es das Streben, wenn am Ende doch alle ihr Glück geschenkt bekämen!

Aber wie die Menschenrechte die Auskunft darüber verweigern, was denn aus ihrem Schützling wird, wenn dessen Jagd nach dem Glück ihr Ziel erreicht hat, so büßt der praktizierende Bürger im selben Maße seine soziale Substanz ein, in dem sich sein Reichtum akkumuliert. Beiden ist gemeinsam, daß sie eine an sich rein negative Grundlage besitzen. Ist die Voraussetzung der Menschenrechte der unglückliche Mensch, so die des akkumulierenden Bürgers die zur Ware gewordene, weil von ihren gegenständlichen Bedingungen und Resultaten getrennte, daher sich selbst entfremdete menschliche Arbeitskraft. Was sich im Reichtum des Bürger akkumuliert, ist bloß diese Trennung der objektiven von den subjektiven Bedingungen der Arbeit, der Produktion des menschlichen Lebens. Reichtum ist das Eigentum des Bürgers, das Kapital, nicht als Mittel seines persönlichen Genusses (welchen unmittelbaren Genuß könnte beispielsweise der tägliche Output einer Wurstfabrik deren Besitzer bereiten?), sondern nur als Mittel zur Schöpfung neuen Reichtums: es ist tatsächlich nichts als der Reichtum der Produktivität des arbeitenden Subjekts selbst, seiner produktiven Möglichkeiten, die aber in ihrer Verwirklichung regelmäßig von diesem Subjekt sich entfernen, absondern, sich ihm entfremden und es sich unterwerfen.

Die - keineswegs geringzuschätzende - historische Leistung der bürgerlichen Klasse besteht gerade nicht in dem, was sie selbst mit ihrem weit in die Linke hineinreichenden intellektuellen Anhang sich darüber einbildet: Die Bourgeoisie hat niemals irgendwelchen herrenlos herumliegenden Reichtum angehäuft und sie hat ihn sich auch nicht vom Munde abgespart. Ihre sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ war von Anfang an die Anhäufung bereits bestehenden, fremden Eigentums: Die Verwandlung des kleinen Eigentums einer zersplitterten Vielzahl für sich selbst (und ihre Herren) arbeitender in das große Eigentum weniger nichtarbeitender Menschen. Es ist wesentlich diese durch und durch böse, zerstörerische Tat, in deren Verlauf den unmittelbaren Produzenten ihre übersichtliche, selbstgenügsame, heimelige Produktionsstätte über dem Kopf abbrennt und sie selbst sich in hilf- und herrenlose Arbeitstiere verwandeln, womit sich die Bourgeoisie unsterbliche Verdienste um das Menschheitsschicksal erworben hat. Es ist diese fortwährende Vernichtung aller natur- wie kulturwüchsigen, d.h. in ihrem eigenen Werdegang zwischenzeitlich entstehenden, partikularen, abgesonderten Kollektive, die mitleidlose, unsentimentale Vernichtung aller jeweils hergebrachten „sozialen Strukturen“ (um es in der auch linksradikal gehätschelten Terminologie auszudrücken), die von der Bourgeoisie bleibt und bleiben wird; selbst dann noch, wenn auch empirisch der Sozialtyp des praktisch gestaltenden, organisierenden Bürgers vollends ins Reich der Mythologie entschwunden ist. Denn mit dieser Tat bereitet sie noch heute jedesmal gründlicher den Boden für ein menschliches Miteinander, das erstmals nicht mehr beruht auf der unmittelbar überschaubaren Enge des je individuellen Gesichtskreises; schafft sie die Voraussetzung für einen Kommunismus, in dem die Menschen nicht mehr ihre Armut sowohl an ihren Bedürfnissen als auch an den Mitteln, sie zu befriedigen, sondern den unendlichen Reichtum ihrer schöpferischen Kräfte miteinander teilen.

So auch verhält es sich mit den Menschenrechten. Wer sie als positive Errungenschaft nimmt, wird an ihnen irre und kann am Ende praktisch gar nicht anders, als sich in Mord und Todschlag zu üben. Zumal in einer Zeit, da von irgendeiner Idee, über sie hinaus zu kommen, weit und breit nichts zu vernehmen ist, vielmehr gerade die vehemen­testen Opponenten des Systems sich stur weiter darin gefallen, von „moralischer Ökonomie“ zu schwärmen, von den ewig guten alten Zeiten jener armseligen Subsistenz, der das Kapital tagtäglich aufs neue und gründlicher den Garaus macht. Nato plus albanisierende Guerilla: das ist für den Kosovo derzeit die ebenso wortgetreue wie sinngemäße Übersetzung aller denkbaren Kombinationen von Men­schen­rech­ten und Subsistenz in praktische Politik.

Revolutionäre schätzen dagegen an den Menschenrechten vor allem die mit ihnen ausgesprochene radikale Negativität, die von allen wirklichen, erdverbundenen, lebendigen Menschenwesen nichts mehr übrig läßt, als ihr gott- und weltverlassenes, abstraktes Selbst, die sie keinerlei besonderem Kollektiv mehr anheimgibt und ihnen so keinen anderen Ausweg läßt, als endlich universelle, universell kooperierende, d.h. erst wirklich menschliche Individuen zu werden. Revolutionäre schätzen an den Menschenrechten die völlige Haltlosigkeit ihres wirklichen Inhalts, die völlige Unmöglichkeit, sich mit ihnen gemütlich einzurichten. Und diese spezifische Wertschätzung verbietet es ihnen, irgendeinen eigentlichen Inhalt derselben zu reklamieren, auf dessen materieller Einlösung gegenüber der im Namen der Menschenrechte stattfindenden offiziellen Politik gepocht werden könnte.

5. Grüne Himmelfahrt:
im Nachhinein herrliche Aussichten

Für eine revolutionäre Opposition gegen den jüngsten von Deutschland angezettelten Krieg, wenn es sie denn gibt in diesem Land, stellte bis Bielefeld die grüne Partei den politisch angreifbarsten Teil der regierenden Kriegskoalition dar. Für die politische Sicherung des deutschen Hinterlands im Krieg gegen Jugoslawien hatte der grüne Sonderparteitag eine zentrale Funktion. Es ging um eine Begradigung und Befestigung der - mit Ausnahme der PDS, die sowieso nicht zählt - von allen demokratischen Parteien gehaltenen inneren Kriegsfront. Die Regierungsfähigkeit der Grünen stand auf dem Spiel. Am Zerbrechen der frisch gewählten rot-grünen Regierung ausgerechnet über den Krieg konnte auch die parlamentarische sogenannte „Oppo­sition“ kein Interesse haben, die immerhin während ihrer eigenen Regierungszeit denselben Krieg zielstrebig vorbereitet hatte. Um so mehr hätte genau das das Ziel der wirklichen Opposition auf der Straße sein müssen.

Die Grünen sind derzeit in mancher Hinsicht die modernste deutsche Partei, und gerade das macht sie besonders angreifbar. Sie haben sich am weitesten vorgewagt auf jenes Neuland, das sich der deutschen Politik mit der Wiedergewinnung ihrer vollen Souveränität im Zuge der Demontage von Sowjetunion und Warschauer Pakt vor zehn Jahren eröffnet hat. Als jüngstes Mitglied des demokratischen Establishments am wenigsten belastet mit den Traditionen der von politischen und militärischen Restriktionen geprägten offiziellen deutschen Nachkriegspolitik, vertreten sie am ungehemmtesten ein zentrales Moment der künftigen strategischen deutschen Interessen: Als traditionelle Kritiker der Nato und amerikanischer Machtpolitik sind sie prädestiniert, unter der Parole globaler Durchsetzung der Menschenrechte und des ungeteilten Schutzes sämtlicher „bedrohter Völker“ Deutschland in den Kampf gegen die nunmehr vor allem militärisch begründete Vorherrschaft der USA in Europa und der Welt zu treiben.

Der weitaus größte Teil der innergrünen Gegner und Kritiker des Krieges (repräsentiert von Figuren wie Chri­stian Ströbele) hatte in diesem Sinne völlig zurecht die Regierungsbeteiligung der Grünen nie in Frage gestellt und seine Rolle als das kritische Gewissen ihrer offiziellen Kriegspolitik definiert. Fischers Friedens­plan wie das daran anschließende G8-Papier heftete man sich als dessen Ausfluß ans eigene Revers. Die Frage, wer da wen gedrängt oder für sich instrumentalisiert hat, mag die künftige grüne Geschichtsschreibung beantworten; klar war jedenfalls bereits vor dem Parteitag, daß aus den Grünen selbst keine Kraft entstehen würde, die bereit und fähig wäre, mit ihrer Kriegsgegnerschaft ernst zu machen und die Kriegskoalition aufzukündigen.

Für ein mögliches Ausscheiden der Grünen aus der Regierung war daher nicht auf irgendwelche „in­neren Widersprüche“ der Grünen zu setzen, denen durch Druck von außen auf die Sprünge zu helfen gewesen wäre. Einzig eine Verhinderung des grünen Sonderparteitags hätte diese Möglichkeit eröffnet und damit die Opposition gegen den Krieg nicht nur der „Auf­gabe“ einen Schritt näher gebracht, vom bloßen Protest zu effektivem Widerstand überzugehen, sondern auch deren Lösung.


„Streitgespräch“

Auf die Frage: „Herr Ströbele, unterstützen Sie die Friedensinitiative des Außenministers?“ in einem für die taz vom 20.4. veranstalteten „Streitge­spräch“ mit Angelika Beer antwortete der Gefragte: „Ja. Das Wichtigste ist erst einmal, daß die Waffen schweigen. Er schlägt ja als erstes einen Rückzug der serbischen Kräfte aus dem Kosovo vor. Ich hätte es lieber gleichzeitig, weil die Chancen einer Annahme dann wesentlich größer wären. Aber über zwei Stunden wollen wir uns nicht streiten.“ Und im weiteren entspinnt sich dann unter anderem der folgende aufschlußreiche Dialog: „taz: Frau Beer, hatten Sie in den letzten Wochen je das Gefühl, Ihre Prinzipien zu verraten? - Beer: Nein. Ich kann nach wie vor morgens in den Spiegel schauen. Ich bin natürlich zunehmend verzweifelt, aber ich habe keine Zweifel. Ich weiß keinen anderen Weg. Ich erwarte allerdings, daß die Bundesregierung die konsequente moralische Haltung, die sie im Kosovo-Konflikt zeigt, zukünftig auch bei anderen Konflikten an den Tag legt. Das ist die Glaubwürdigkeitsfrage für Rot-Grün wie auch für die Wertegemeinschaft Nato. - taz: Und wie machen Sie deutlich, daß Pazifismus noch ein grüner Wert ist? - Beer: Ich bin keine Pazifistin. Das bin ich nie gewesen. - Ströbele: Das haben wir gemeinsam. … taz: Herr Ströbele, sollte die von Ihnen vorgeschlagene Friedenstruppe auch friedenserzwingend tätig sein können? Das Programm der Grünen schließt das aus. - Ströbele: Das ist ein schwieriges Problem. Bisher akzeptiere ich nur Blauhelme. Ein Einsatz von Kampftruppen nach Kapitel VII wäre derzeit auch gar nicht erforderlich, wenn alle Seiten der Stationierung zustimmen. - Beer: Du sagst immer, du unterstützt den Friedensplan von Joschka Fischer. Du hast nun schon an zwei Punkten signalisiert, daß du ihn nicht unterstützt. - Ströbele: Bevor politisch und diplomatisch nichts passiert, ist das doch ein hervorragender Ansatz. - Beer: Okay. … Beer: Der Wertekern des Programms muß ebensowenig geändert werden wie unsere Positionen zur Konfliktprävention. Diese Mittel haben Priorität. Jedoch müssen wir für den Fall, daß sie eingesetzt wurden, aber nicht zum Erfolg geführt haben, die Bundeswehr in die Lage versetzen, daß sie einen Einsatz nach Kapitel VII durchführen kann. - Ströbele: Und was machst du, wenn unsere Bündnispartner für einen solchen Einsatz votieren, wir aber der Meinung sind, die Mittel der Prävention sind noch nicht ausgereizt? - Beer: Das kann ich dir ganz klar sagen: Bei einer Entscheidung zwischen Krieg und Frieden ist für mich dann diese eigene Position gewichtiger als die Bündnisfrage ebenso wie auch die Koalitionstreue. - Ströbele: Dein Wort in der Regierung Ohr. Ich kann das nur unterschreiben.“


Die Unterbindung des grünen Parteitags hätte die rot-grüne Regierung an ihrer zum damaligen Zeitpunkt empfindlichsten Stelle getroffen. Die Grünen waren im Begriff, durch ihre Mitverantwortung für den Natokrieg nicht zuletzt gegenüber den westlichen Verbündeten ihre Zuverlässigkeitsprobe abzuliefern. So wenig Substanz dem medialen Tamtam um die innergrüne Kritik am rot-grünen Krieg zugrunde lag, so sehr hatte sich die grüne Partei darin verfangen. Dem Parteitag war darüber die Funktion zugefallen, mediengerecht die Regierungsfähigkeit der Grünen zu demonstrieren oder eben das Gegenteil. Richtig genutzt, wäre sogar die Fixierung der Aufmerksamkeit auf die grünen Innereien unser Vorteil gewesen: Daß ihr die anstehende Demonstration kritischer Regierungstauglichkeit von außen vermasselt werden könnte, auf eine Sicherung ihrer Veranstaltung in der Art und den Ausmaßen wie bei NPD-Parteitagen üblich, darauf war die grüne Parteitagsregie offensichtlich kaum eingestellt. Der Überraschungseffekt wäre auf unserer Seite gewesen.

Ob über einer Sprengung des grünen Parteitags tatsächlich die Regierung zerbrochen oder was sonst passiert wäre, muß Spekulation bleiben. Es wäre auf den Versuch angekommen, der leider nicht zustande kam, weil die Verhinderung des Parteitages - obwohl das erklärte Ziel der Gegenmobilisierung - mißlang. Politik allerdings, die nicht in bloßer Routine aufgeht, ist ohne einen kräftigen Anteil Spekulation, die Ausleuchtung des Möglichen, gar nicht denkbar. Daß der Ablauf der Bielefelder Veranstaltung schließlich doch weitgehend das grüne Plansoll erfüllt hat, verdanken wir jedenfalls am allerwenigsten irgendeiner Neigung zu ausufernden Gedankenspielen über mögliche Formen, Zwecke und Folgen revolutionär-oppositioneller Einflußnahme auf dieses oder bestimmte andere Ereignisse. Es hat so etwas hier und da gegeben, aber das ist Marginalie geblieben. Die Spekulation im Nachhinein kann natürlich das Ungeschehene nicht geschehen machen, aber sie kann vielleicht dabei helfen, uns über unsere eigene innere Verfassung, d.h. über jene Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzuklären, über der mit diesem Krieg der letzte Rest an revolutionärer Praxis schließlich der Lächerlichkeit zum Opfer gefallen. Spekulieren wir also!

Die Möglichkeit des Bruchs der Regierung im Falle eines erzwungenen Abbruchs des grünen Sonderparteitags hätte darin gelegen, daß die Grünen als offenbar unfähig eingestuft worden wären, ihr chaotisches Umfeld, wenn schon nicht unter Kontrolle (das war ja bislang eine ihrer Funktionen), so wenigstens auf Distanz zu halten, was vielleicht für eine Partei in der parlamentarischen Opposi­tion, aber keinesfalls für eine Regierungspartei hinnehmbar sei. Aber auch wenn die Regierung gehalten hätte, wäre die erfolgreiche Unterbindung des Parteitages einer Regierungspartei durch linksradikale Cha­oten sicher kein Ereignis ge­wesen, über das man deutscherseits ohne weiteres wieder zur Tagesordnung der Natokriegsführung hätte übergehen können. Die politische Infragestellung der deutschen Kriegsbeteiligung wäre von der demokratisch gemanagten Querele innerhalb einer Regierungspartei zu einem Problem der „inne­ren Sicherheit“ und diese im unpassendsten Zeitpunkt zum heißen Thema geworden. Denn hatten nicht alle Deut­schen eigentlich gerade jetzt die patriotische Pflicht, einer Regierung zumindest nicht in den Rücken zu fallen, die doch ihr bestes gab, gegen die verbündete Konkurrenz dem Krieg samt dem daraus her­vorgehenden Frie­den die neudeutsche Hand­schrift aufzuprägen? Und die atlantischen Partner hätten sich einen gefeixt: Wenn schon gegen den Popanz Miloševic die deutsche Regierung ihr Hinterland nicht ordentlich im Griff behält, womit darf wohl gerechnet werden, falls sie sich ernsthaft mit einer wirklichen Macht anlegen sollte? Fischers Profilierung als „robu­ster“ Friedensengel wäre wahrscheinlich ins Wasser ge­fallen, und er (oder eben sein Nachfolger) hätte fürs erste sich einmal mehr vor allem in jener Bescheidenheit üben müssen, mit der der designierte Kanzler und sein Vize in Spe kurz vor ihrem Amts­antritt bei ihrer Stippvisite in Washington im Herbst 1998 dankbar amerikanisches Verständnis dafür entgegennahmen, daß „in dieser Übergangssituation“ (des Regierungswechsels) „unsere Mög­lichkeiten, tätig zu werden, sehr beschränkt sind“. Last not least - wer weiß: Vielleicht hätte Miloševic auch nicht ganz so bald so sang und klanglos kapituliert. Alles in allem wäre jedenfalls das politische Gewicht Deutschlands im westlichen Bündnis und darüber hinaus in höchst erfreulicher Weise ein wenig erleichtert worden.

6. Bielefeld im Mai 1999: politischer Offenbarungseid der real existierenden Linken

Es hat nicht sollen sein, denn der Opposition gegen den Krieg - ob demokratisch-sozialistisch, undogmatisch-linksradikal oder revolutionär-marxistisch, ob antinational, antideutsch oder traditionell-antiimperialistisch - hat nichts ferner gelegen als ein ernsthafter Versuch, die hiesige kriegführende Regierung in politische Schwierigkeiten zu bringen oder gar bei ihrem Sturz behilflich zu sein.

Der weitaus größere Teil der Opposition hatte gar nicht erst nach Bielefeld mobilisiert; aus im einzelnen durchaus sehr unterschiedlichen Gründen. Noch einer der besten war, die demonstrative Abstrafung der Grünen wegen ihres vermeintlichen Verrats an der Friedensbewegung selig eher für die überflüssige Zurschaustellung eigener diesbezüglicher Blauäugigkeit als für einen politischen Akt zu halten. Denn in der Tat konnte da weder von „Verrat“ die Rede sein (s.o. insbesondere unter 4.), noch war die so bezeichnete Wendung des grünen Projekts erst mit dem Krieg offenkundig geworden. Insofern gab es keinen besonderen Grund, den grünen Parteitag zu stören, nachdem man den vorausgegangenen der SPD in Ruhe gelassen hatte. Und daß die Grünen mit ihrer speziellen inneren Zerrissenheit eine besonders abgefeimte Demagogie zur Rechtfertigung des Krieges produzierten - was konnte daran eine Störung oder Verhinderung ihres Parteitags ändern? Gäbe die nicht eher dem grünen Lamentieren über die böse Welt, die einem leider nicht mehr erlaube, einfach nur gut zu sein, zusätzliches Futter? War es nicht klüger, die Grünen mit ihrem inneren Krämpfen sich selbst zu überlassen, statt das eigene Handeln einmal mehr, wenn auch negativ, sich vom grünen Terminplan vorgeben zu lassen?

So richtig derartige Einwände für sich genommen gewesen sein mochten - sie sprachen keineswegs gegen die Aktion, sondern allenfalls gegen deren Begründung. Und von irgendwelchen Überlegungen, wie denn vielleicht anders der deutschen Kriegsbeteiligung politisch wirksam in die Quere zu kommen sei, waren sie schon gar nicht begleitet. Vor allem aber: Bei der nächsten anderen Gelegenheit war es mit dieser Art politischer Bedenkenträgerei wieder vorbei und der bloß moralische Impuls erneut allgemein oben auf. Nachdem in Bielefeld nach bundesweiter Mobilisierung sich ganze 500 Kriegs­gegner eingefunden hatten, um den Parteitag einer Partei anzugreifen, die zwar nicht NPD heißt, aber immerhin an jener Regierung beteiligt ist, die den ersten deutschen Krieg nach Hitler organisierte, gingen gut drei Wochen später in Hamburg - Seite an Seite mit Rot-Grün - wieder 5000 gegen einen Aufmarsch der Nazis auf die Straße, der sich gegen jene Ausstellung über den „Vernichtungskrieg der deutschen Wehr-macht“ richtete, die nicht zuletzt ihren guten Teil beigetragen hatte zur ideologischen Vorbereitung des neudeutsch antifaschistischen Krieges gegen Jugoslawien.

Angesichts dieser merkwürdigen Proportionen im linken Bewegungsdrang läßt sich wohl kaum als böswillige Kolportage abtun, wenn wir in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß noch vor Jahr und Tag auch der größere Teil der späteren Opposition gegen den Krieg begeistert mitgetrommelt hatte für jene „andere Politik“, die dann am 24. März 1999, ziemlich genau ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt, in durchaus voraussehbarer Weise militant-praktisch wurde. Der Angriff in Bielefeld zielte - ganz unabhängig vom Wissen und Wollen der Akteure - seiner immanenten Logik nach auf eben diese nun wahr gemachte „andere Politik“. Im Falle eines Erfolgs wäre deren Handlungsspielraum zumindest fürs erste zweifellos eingeschränkt worden, und wäre gar rot-grün darüber zerbrochen, dann wär’s mit ihr ganz vorbei gewesen, kaum daß sie hatte richtig Fahrt aufnehmen können.

Denen, die den Aufruf zur Verhinderung des grünen Parteitags getragen haben bzw. ihm gefolgt sind, bleibt dagegen das revolutionäre Verdienst, immerhin mit der richtigen Parole zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Daß sie eine widersprüchliche Mischung aus politischer Illusion (in die Bereitschaft grüner Kriegskritiker, mit ihrer Kritik ernst zu machen) und moralischem Rigorismus („Über Kriege stimmt man nicht ab“) dorthin getrieben zu haben schien, hat das angekündigte Vorhaben keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Bekanntlich gebiert revolutionäre Praxis mitunter ihre eigenen Lernprozesse. Das Problem war vielmehr, daß so naiv und moralisch, wie die Akteure im Vorfeld sich und andere zu motivieren versuchten, in Wahrheit niemand mehr war.

„Auch wenn der Verrat an den eigenen Prinzipien (Ge­waltfreiheit, Natoaustritt, Rotation, sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie) in einem rasenden Tempo vonstatten ging - es gibt noch einen beachtenswerten Teil grüner Parteimitglieder, die diesen Angriffskrieg ablehnen. Wenn es eine Chance gibt, die deutsche Beteiligung an diesem Krieg zu kippen, dann an diesem Punkt. Ein Ende der rot-grünen Kriegskoalition wäre dafür ein wichtiger Schritt.

Am 13.5.1999 findet ein Sonderparteitag der Grünen statt.

Wenn es dort gelänge, eine Mehrheit dafür zu gewinnen, der grünen Regierungsfraktion das Vertrauen zu entziehen, wäre der Bruch der rot-grünen Regierungskoalition möglich.

Ganz real-politisch gesprochen: das ist zu schaffen. …“

So am „18. Nato-Kriegstag 1999“ die erste Überlegung der autonomen l.u.p.u.s. gruppe, die den Anstoß gab für die autonome Vorbereitung gemeinsamer Aktionen zum grünen Parteitag, deren Inhalt aber darin offenbar keine nennenswerte Rolle spielte. Von den „re­al­politi­schen“ Hoffnungen ist jedenfalls in dem späteren Aufruf des bundesweiten autonomen Antikriegsplenums keine Rede mehr. Es ging nun um die Verhinderung des Kriegsparteitags bzw. seine Umfunktionierung zur bundesweiten „Antikriegsver­samm­lung“. Die Illusion, die innergrüne Kritik des Krieges zu politischen Konsequenzen bewegen zu können, war damit vom Tisch, ehe sie näher diskutiert worden war.

Mit ihr war aber zugleich die Ambition weitgehend verflogen, über die Intervention beim grünen Parteitag überhaupt „realpolitisch“ etwas zu bewegen. Statt der Regierungsbeteiligung der Grünen geriet jetzt gleich die Existenz der Partei ins Visier der Phantasien. „Zerschlagen wir die NATO! Fangen wir mit den Grünen an!“ titelte FelS. Und die Initiative Kein Frieden mit der NATO aus Schleswig-Holstein war „Für die Endlagerung der Grünen und die Neuformierung einer kämpferischen linksradikalen Bewegung!“. In einem Aufruf aus Hamburg heißt es etwas bescheidener: „Die NATO-Kriegsmaschine angreifen - fangen wir bei den Grünen an …“. Warum aber mit dem ehrgeizigen Vorhaben ausgerechnet bei den Grünen anzufangen sei, versucht auch dieser Text gar nicht erst zu begründen, wenn wir nicht die Mitteilung dafür gelten lassen wollen, das „Ge­rede von den Menschenrechten und der Humanität“, das ja beileibe kein Monopol der Grünen war, diene „nur der Verarschung der Bevölkerung“. Am Ende gar nicht mehr bescheiden befindet derselbe Aufruf, es komme „dar­auf an, die politische und moralische Legitimation für diesen NATO-Angriffskrieg zu kippen“, und führt dazu aus: „Neben der Entwicklung einer grundlegenden Systemkritik gegen die kapitalistische und imperialistische Politik sehen wir die Aufgabe, in den reibungslosen Alltag des kriegführenden Deutschlands einzugreifen.“

Die radikale Linke wie sie leidet und stirbt. Eingeklemmt zwischen Allmachtstraum und Ohnmachtserfahrung, steht sie sich vor allem selber dabei im Weg, als selbstbewußt grundsätzliche Opposition gegen kapitalistische und imperialistische Politik in den ganz und gar nicht so reibungslosen Alltag des kriegführenden und friedenerzwingenden Deutschland wenigstens ein einziges Mal wirklich störend einzugreifen.

Legitimation ist eine Frage der Macht. Legitime Kriege sind siegreiche Kriege. Die Legitimation des Krieges der Nato gegen Jugoslawien wäre nur durch die Niederlage der Nato zu kippen gewesen. Die Legitimation der maßgebenden deutschen Beteiligung an diesem Krieg wäre allenfalls durch den Sturz der kriegführenden Regierung ins Wanken gebracht worden. Das war wie gesagt nicht gänzlich unwahrscheinlich; nicht zuletzt deshalb, weil - von der Opposition allerdings weitgehend ignoriert - in erster Linie von Deutschland ausgehende innere Gegensätze der Kriegspartei Nato selber den Krieg insgeheim antrieben. Es hätte dazu vielleicht nur ein wenig mehr oppositionelles Selbstbewußtsein hierzulande gebraucht - illusorisch, moralisch oder wie auch immer anders zusammengesetzt.

Jedoch der geräuschlose Austausch der Parolen signalisierte es früh: Weder die anfängliche politische Illusion, noch die über so etwas erhabene Überzeugung, einmal mehr radikal gegen das Böse in der Welt zu stehen, waren noch irgendwie echt, es handelte sich vielmehr um die sprichwörtlichen Pfiffe im dunklen Wald. So fehlte dieser an sich goldrichtigen Initiative der nötige innere Schwung, der sie über sich selbst hätte hinausgetragen können. Und darum erhob sich auch kein Widerspruch, als nachträglich (s. Kasten) das Unternehmen, das seinen erklärten Zweck verfehlt hatte, nach altem Bewegungsbrauch als offenbar bloß sein eigener Zweck und somit per se „er­folg­reich“ gefeiert wurde.

„Obwohl der Parteitag nicht verhindert und in einen Antikriegskongress umgedreht werden kann, wird die offensive Mobilisierung als ein Erfolg gewertet. Und das, obwohl wahrscheinlich mehr KriegsgegnerInnen vor der Glotze hängen anstatt sich selber zur Verhinderung zum Parteitag zu begeben.

Dabei wurden die Grünen als schwächstes Glied in der Kette der Kriegstreiber ausgemacht, und mit mehr Menschen, so die Einschätzung Einiger, wäre der Parteitag zu verhindern gewesen.“ (Farbbeutelinfo #1.

In: Reader …, a.a.O.)

7. Nach dem Krieg: nichts ist mehr wie vorher

Mit dem Nato-Überfall auf Jugoslawien hat die neudeutsche Herausforderung der amerikanischen Weltmacht mitsamt der amerikanischen Reaktion darauf zum ersten Mal unmittelbar kriegerische Form angenommen. Das ist eine welthistorische Zäsur.

Die klassische imperialistische Konstellation scheint endgültig wiederhergestellt: Das ewig zu spät kommende Deutschland fordert Gerechtigkeit, und weil es über die Gewalt unmittelbar nicht verfügt, irgendwelche Forderungen durchzusetzen, vielmehr gerade darin die Ungerechtigkeit wesentlich besteht, tritt es vor allem als Anwalt allgemein-mensch­li­­cher Interessen einer Weltmacht entgegen, die „von einer übermächtigen Position der Stärke aus Weltpolitik einzig als amerikanische Interessenpolitik versteht“. In diesem Sinne ist die Parole des militanten Menschenrechts derzeit Deutschland ganz speziell auf den Leib geschnitten.

Noch ist es beim gemeinsamen Krieg gegen ein klar unterlegenes Opfer geblieben. Aber auch das ist klassisch. Manfred Sohn hat bereits im Februar letzten Jahres in einem sehr aufschlußreichen Beitrag für die Junge Welt auf eine erschreckend naheliegende historische Analogie zu den gegenwärtigen Ereignissen hingewiesen: Die gemeinsame Strafexpedition aller damaligen kapitalistischen Großmächte gegen den Boxeraufstand in China im Jahre 1900. Als einen „Wendepunkt in der Geschichte des ganzen kapitalistischen Europas“, als „das erste Ereignis der weltpolitischen Ära, in das alle Kulturstaaten verwickelt sind“ charakterisierte Rosa Luxemburg diesen Krieg und mahnte vergeblich ihre Parteigenossen, die Agitation dagegen auf die Straße zu tragen: „Wir wettern jeden Tag gegen die Weltpolitik, wir donnern gegen den Militarismus in Friedenszeiten, wo es aber einmal wirklich zum Krieg kommt, unterlassen wir es, das Fazit zu ziehen und zu zeigen, daß unsere jahrelange Agitation auch wirklich in die Halme geschossen ist.“

Die „weltpolitische Ära“ erhielt später den Namen „Im­perialismus“, und die Ungerührtheit, mit der der größere Teil der SPD den ersten Anzeichen der neuen Entwicklung begegnete, hatte, wie sich bald zeigte, Methode. Vierzehn Jahre später war es auch mit dem parlamentarischen Protest gegen den Krieg der eigenen Regierung vorbei. Nicht, weil man etwa nicht mehr gegen Militarismus und Krieg gewesen wäre, vielmehr stand die Frage jetzt völlig anders: Der große Krieg war von einer Drohung zur unausweichlichen, alles andere in den Hintergrund drängenden Tatsache geworden - nicht irgendwo anders in der Welt, sondern im deutschen Alltag und ringsum in Europa. Deutschland befand sich im Krieg um Sein oder Nichtsein mit seinen Nachbarn und stärksten kapitalistischen Konkurrenten.

Wer gegen diesen Krieg auftrat, wurde unweigerlich in der einen oder anderen Form, auf der einen oder anderen Seite selber zur Kriegspartei. Die Frage des Krieges war zugleich unmittelbar zur Frage der Macht im Lande und in Europa geworden, wie umgekehrt die Frage der Macht zu stellen, von nun an hieß, auf die Niederlage der kriegführenden eigenen Regierung hinzuarbeiten und sich für den Bürgerkrieg gegen sie und die sie tragenden Kräfte zu rüsten. Weil die Mehrheit der SPD dazu schon lange nicht mehr bereit war, wurde aus ihrem Antimilitarismus „in Friedenszeiten“ ganz folgerichtig die sozialpatriotische Vaterlandsverteidigung.

Es folgten gleichwohl auf das Ende des Krieges fünfzehn Jahre offenen oder latenten Bürgerkriegs in Deutschland, den erst die terroristische Diktatur der Nazis, dieser Offenbarungseid bürgerlicher Herrschaft, zu beenden vermochte. Die darin besiegelte selbstverschuldete Niederlage des Proletariats, die seine organisatorische und politische Selbständigkeit restlos vernichtete, rettete nicht allein das deutsche Kapital vor seinem fälligen Untergang, sondern damit auch den Kapitalismus in Europa. Sie rettete ihn, d.h. sie beseitigte fürs erste die Gefahr eines Vormarsches der im Osten begonnenen kommunistischen Revolution nach Westen, aber sie konnte die vorläufigen Resultate dieser Revolution, die Existenz der Sowjetunion, die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums auf ihrem Territorium, nicht rückgängig machen. Denn bevor die Nazis sich anschickten, den (keineswegs nur in Deutschland) bürgerlicherseits ihnen zugedachten Endzweck, die Vernichtung der Sowjetunion, zu erfüllen, hatten sie die bürgerliche Welt selbst in einen Kampf auf Leben und Tod gestürzt.

Die Vernichtung der Naziherrschaft bescherte jenen europäischen „Friedenszeiten“ einen unverhofften, trügerisch langen zweiten Sommer, in denen der von Rosa Luxemburg gegeißelte harmlose Antimilitarismus der Sozialdemokratie dereinst so üppig gedieh. Seit dem 24. März 1999, knapp zehn Jahre, nachdem die Sowjetunion sich selbst ein Ende gemacht hat, ist es damit endgültig vorbei. Die Wandlung des Antimilitarismus der deutschen Friedensbewegung zum militanten Menschenrechtspatriotismus ist nur eine logische Konsequenz daraus. Jene extrovertierte deutsche Friedfertigkeit war tatsächlich immer nur die Folge der atomar gesicherten Teilung Deutschlands und der Rolle seines bürgerlich-westlichen Teils als amerikanisch gedeckter antikommunistischer Frontstaat.

Der somit auf sich selbst zurückgeworfene, schon immer ganz anders motivierte, internationalistische, revolutionäre Antimilitarismus hat da allerdings nichts zu bedauern, sondern die Gelegenheit einer wahrhaften Ent-Täuschung zu nutzen:

Es war der noch nicht aufgezehrte Rest einer unvollendet gebliebenen großen kommunistischen Revolution gewesen, der der mörderischen imperialistischen Konkurrenz im allgemeinen, wie insbesondere ihrer aggressiven deutschen Variante jene gewaltsamen Schranken gesetzt hatte, innerhalb deren sich die Einbildung entwickeln konnte, als wäre der Unmenschlichkeit dieser menschlichen Verhältnisse doch auch schrittweise und partiell beizukommen, durch demokratische Bündnisse aller „pro­gressiven Kräfte“ etc.; als hätte der radikale Umsturz der politischen Machtverhältnisse erst am Ende aller emanzipatorischen Bemühungen zu stehen, statt als deren elementarste Bedingung an ihrem Anfang.

Von nun an gilt mehr denn je, was am Ende des ersten Weltkriegs schon einmal zum politischen Grundwissen gehört hatte: Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg, der Kampf gegen das kriegsbereite neue Deutschland ist revolutionär und kommunistisch oder er ist nichts.