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Zum Zusammenschluß 
von KPD und SPD 1946

Erklärung der Historischen Kommission vom Dezember 1995 

05/01
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Im April 1996 jährt sich zum fünfzigsten Male der mit dem Vereinigungsparteitag vollendete Zusammenschluß von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone. Es war dies eines der herausragenden, die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmenden Ereignisse deutscher Nachkriegsgeschichte.

Von den unmittelbaren Vorgängen jener Zeit trennt uns nunmehr ein halbes Jahrhundert. Die damals begründete Einheitspartei, die in Ostdeutschland eine überragende Machtstellung errang und die Hauptverantwortung für Aufstieg und Untergang der Deutschen Demokratischen Republik trägt, existiert nicht mehr. Die Mehrzahl der damaligen historischen Akteure weilt nicht mehr unter den Lebenden. Dennoch werden die Vorgänge des ersten Nachkriegsjahres auch heute in der Regel nicht als abgeschlossenes historisches Geschehen betrachtet und gewertet, sondern überwiegend gegensätzlichen aktuellen politischen Interessenlagen gemäß wahrgenommen.

Wir begegnen verklärender Rückschau - vor allem bei Befürwortern, aber auch bei Gegnern der Vereinigung -, mit der selbstkritische Analyse abgewehrt wird. Wir bemerken, wie zurückliegende historische Vorgänge benutzt werden, um Abgeordnete, Funktionäre und Mitglieder der PDS politisch auszugrenzen und ihre Politikangebote zu disqualifizieren. Wir konnten beobachten, wie Treuhandanstalt und Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR Meinungen von Historikern zu den Ereignisse von 1945/1946 in den Rang von juristischen Beweisen erhoben, um diese im Streit um Immobilien einzusetzen.

Die Historische Kommission der PDS spricht sich für einen Umgang mit dem Zusammenschluß von KPD und SPD aus, der geeignet ist, die Atmosphäre im Lager der Reformkräfte zu entgiften. Das besagt: Jeder, der sich am dringend gebotenen Disput beteiligt, sollte

  • die ganze Fülle widersprüchlicher Tatsachen zur Kenntnis nehmen
  • Einzelereignisse nicht aus ihren großen historischen und internationalen Zusammenhängen herauslösen
  • über die Motive aller historisch handelnden Kräfte ernsthaft nachdenken
  • die eigenen geschichtstheoretischen Standpunkte und Überzeugungen immer wieder am empirischen Material überprüfen
  • Wertungen historischer Vorgänge nicht eigenen politischen Vorurteilen oder Parteiinteressen unterwerfen.
Die PDS hat sich von jeglichen Bestrebungen, ein verbindliches Geschichtsbild zu setzen, unmißverständlich verabschiedet. Ist Geschichtsinterpretation im Ganzen produktiv nur pluralistisch denkbar, so gilt dies auch für die Wertung einzelner historischer Prozesse, Ereignisse und Personen. Auch in der Beurteilung der Gründung der SED kann, darf und soll es ein Spektrum von Meinungen geben. Verbietet es sich aus den genannten Gründen für die Historische Kommission der PDS, der Partei und ihren Sympathisanten eine Sichtweise auf die Gründung der SED vorzugeben, so braucht sie deshalb nicht auf ein Darlegen ihrer Auffassung zu verzichten.

Wir geben deshalb allen, die sich - von welchen Positionen und mit welchen Absichten auch immer - mit dem Zusammenschluß von KPD und SPD beschäftigen, vor allem folgendes zu bedenken:

1. Das politische Projekt einer Einheitspartei der Arbeiterklasse und des gesamten werktätigen Volkes war keine ostdeutsche Einmaligkeit und keine bloße Drapierung eines Führungs- und Machtanspruches der KPD. Das Verlangen, die mit dem Zusammenbruch der II. Internationale sichtbar gewordene Spaltung der sozialistischen Bewegung wieder zu überwinden, ist von unterschiedlichen politischen Kräften zu verschiedenen Zeiten im nationalen wie im internationalen Maßstab immer wieder zur Geltung gebracht worden. Doch gab es stets auch starke Gegentendenzen. Diese wurden auf der einen Seite genährt durch die Bolschewisierung kommunistischer Parteien, ihre zunehmende Fixierung auf die sowjetrussische Außen- und Großmachtpolitik und die Rechtfertigung stalinistischer Repressalien. Andererseits wirkte der Zerfall der II. Internationale in zwei Kriegslager nach, stieß die in einigen Ländern zu verhängnisvoller Anpassungs- und Kapitulationspolitik führende Integration sozialdemokratischer oder sozialistischer Parteien in das kapitalistische System auf heftige Ablehnung. Besonders im Kampf gegen den Faschismus hatte jedoch die Idee der Sammlung und Bündelung der Kräfte der Arbeiterbewegung bis hin zu organisatorischen Zusammenschlüssen überaus an Anziehungskraft gewonnen. Das äußerte sich in zahlreichen Ländern in Erfolgen der antifaschistischen Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialdemokraten und in mehr oder weniger weit gediehenen Vorbereitungen ihrer Vereinigung. Davon zeugte auch das Entstehen internationaler Organisationen der Gewerkschaften, der Jugendverbände, der Frauenbünde, der Studentenvereinigungen, die vor allem von Sozialdemokraten und Kommunisten getragen wurden.

2. Der Zusammenschluß von KPD und SPD ist mithin in diesem gesamthistorischen Zusammenhang zu sehen. Den Akteuren jener Zeit sollte zugebilligt werden, daß sie mit ihrem unverwechselbaren - vor allem in den Jahren 1914 bis 1945 gewonnenen - politischen Erfahrungshorizont handelten. In Deutschland war dieser aus dem Weg der herrschenden Klassen vom Weltkrieg Nr. 1 in den Weltkrieg Nr. 2 erwachsen, aus den Halbheiten der Weimarer Demokratie und schließlich aus den Verbrechen der faschistischen Diktatur. Den Zeitgenossen waren die gravierenden Ereignisse der deutschen Arbeiterbewegung jener Jahre viel unmittelbarer als uns heute gegenwärtig: die Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten am 4. August und Karl Liebknechts Nein am 2. Dezember 1914, die Abspaltung der USPD und der Weg der Spartakusgruppe zur KPD, die Novemberrevolution mit ihren widersprüchlichen Ergebnissen, revolutionäre Umsturzversuche der Kommunisten und Koalitionspolitik der Sozialdemokraten, das am 1. Mai 1929 geflossene Blut, das übereinstimmende Stimmverhalten von Kommunisten und Nationalsozialisten im Preußenvolksentscheid des Jahres 1931, das Zurückweichen sozialdemokratischer Minister beim Papenstaatsstreich des 20. Juli 1932. Es hatte Angebote zur Einheitsfront gegeben, mit denen die KPD die Sozialdemokratie aushebeln wollte; und es waren Angebote zurückgewiesen worden, die angesichts der nazistischen Gewaltherrschaft und zur Verhinderung des Krieges gewissenhafte Prüfung verdient hätten. Gegenseitige Bezichtigungen und zahlreiche Zusammenstöße waren noch längst nicht vernarbt. Und dennoch wollte beim Neubeginn im Frühjahr 1945 die Mehrzahl der Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam einen neuen Anfang wagen. Das erwarteten auch viele der Arbeiterbewegung zugehörende oder zuneigende Parteilose von ihnen.

Es bedarf der Voreingenommenheit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, um jenseits dieses historischen Untergrundes, einzig anhand der Kriterien einer Totalitarismustheorie über die Gründung der SED zu urteilen und in ihr ausschließlich die Fundierung der ostdeutschen SED-Diktatur zu sehen.

3. Die Idee und die Praxis eines breiten antifaschistischen Bündnisses und der Einheit der Arbeiterklasse - repräsentiert in Einheitsgewerkschaften und einer Einheitspartei - besaß beim politischen Neubeginn im Jahre 1945 große Anziehungskraft. Das fand nicht zuletzt in sofortigen lokalen Zusammenschlüssen von Kommunisten und Sozialdemokraten seinen Ausdruck. Die Aktionsabkommen von KPD und SPD, wie sie zentral in Berlin und gleichzeitig für bestimmte Regionen und Orte - auch in den westlichen Besatzungszonen - in großer Zahl abgeschlossen wurden, fanden weithin positive Resonanz. Durch gemeinsames Handeln wurden überlebte Strukturen aufgebrochen und Grundlagen einer antifaschistischen Demokratie geschaffen, deren Nachhall noch heute zu spüren ist. Die Argumentation, daß die zur leitenden Kraft des antifaschistisch-demokratischen Neuaufbaus berufene Arbeiterklasse eine einheitliche Führung in Gestalt einer marxistischen Einheitspartei brauche, überzeugte viele. Die Erinnerung an den Siegeszug der in der Arbeiterbewegung konkurrenzlosen revolutionären deutschen Sozialdemokratie war noch lebendig. Allen, die der Arbeiterklasse die Mission zutrauten, Schöpfer der neuen, ausbeutungsfreien Gesellschaft zu werden, erschienen Einheitsorganisationen der Werktätigen als eine logische Konsequenz, die in der historischen Rolle dieser Klasse begründet lag.

Gleichwohl sind zeitgenössisch auch prinzipielle Einwendungen gegen einen auf solche Weise motivierten Zusammenschluß von Sozialdemokraten und Kommunisten vorgetragen worden, weil es sich um zwei unvereinbare politische Strömungen handle oder weil eine mehr gefühlsmäßig bejahte Einheit nicht dauerhaft tragfähig sei. In diesem Zusammenhang sind Warnungen ausgesprochen worden, die sich durch die spätere Entwicklung der Einheitspartei als nicht unbegründet erweisen sollten, Warnungen vor einem überwiegend taktisch angelegten Bekenntnis der KPD-Führung zur Demokratie, Warnungen vor einer Auslieferung von Arbeiterorganisationen an die Siegermacht UdSSR.

1945/1946 standen alle Politiker stark im Banne eben durchlebter schlimmer Zeiten. Sie wollten die Zukunft grundlegend neu gestalten, wobei sie überwiegend zu einschneidenden Eingriffen in die ökonomischen und politischen Strukturen bereit waren. Doch entwickelten alle Richtungen ihre Politik vorwiegend in Rückgriffen auf Gesellschaftstheorien und Politikerfahrungen der vorfaschistischen Zeit. Sehr früh trat an die Stelle antifaschistischer Gemeinsamkeit neubelebter Parteiegoismus. Im Lager der Linken wirkte dies einem unvoreingenommenen Ausloten optimaler Strukturen und Bewegungsformen entgegen. Von den Verfechtern der Einheit und später von der DDR-Historiographie ist niemals ernsthaft erwogen worden, ob die Arbeiterklasse - wie immer sie definiert wird - tatsächlich eine solche Homogenität aufweist, daß die Einheitsorganisation zu allen Zeiten das ihr Naturgemäße ist. Deshalb blieb auch der sich in den antifaschistischen Ausschüssen offenbarende basisdemokratische Impuls ungenutzt. Chancen des Handelns in pluralistischen Strukturen bei Bündelung der Kräfte in der Hauptrichtung der Bewegung und durch gemeinsame Aktionen von Fall zu Fall sind von keiner Seite ernsthaft geprüft und erprobt worden. Es bedurfte wohl der Erfahrungen mit den in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre entstandenen Einheitsparteien, um am Ausgang unseres Jahrhundert die Frage nach Einheit und Vielfalt linker Kräfte auf neue Weise zu stellen.

4. Gab es 1945/1946 in Deutschland einen unübersehbaren Drang zur Einheit, so gab es keine Voraussetzungen für ein wirklich freies Spiel der Kräfte, um die anstehenden Entscheidungen demokratisch und in gesamtnationalen Maßstabe herbeizuführen. Die Tatsache, daß Deutschland eine besiegtes und besetztes Land war, in dem die oberste Regierungsgewalt bei den Besatzungsmächten lag, hat jegliches politisches Handeln in jeder Region bestimmend beeinflußt. Bei einer das politische Kräfteverhältnis so nachhaltig verändernden Frage wie Einheit oder Spaltung der Arbeiterbewegung war und ist Neutralität der Besatzungsmächte undenkbar.

4.1. Die westlichen Besatzungsmächte hatten - ungeachtet mancher gegenläufiger Tatsachen - nie Zweifel aufkommen lassen, daß eine linke Hegemonie in Nachkriegsdeutschland und in Westeuropa überhaupt ihren Interessen widersprach und zu verhindern war. Entsprechend griffen sie in die Formierung der antifaschistischen Bewegung und der Arbeiterorganisationen restriktiv ein. Da die Einheitsbestrebungen in den Westzonen außerhalb der KPD schon Ende 1945 - nicht ohne Zutun der Besatzungsmächte - wieder abebbten, läßt sich nicht ermessen, ob diese Besatzungspolitik eine unüberwindliche Barriere darstellte. Die Militärregierungen gerieten nicht in die Lage, die Gründung einer Einheitspartei auch um den Preis absoluten Verlustes an demokratischen Image mit militärisch-diktatorischen Mitteln zu unterbinden, sondern vermochten mit überwiegend dirigistischen Methoden und durch die Favorisierung ihnen genehmer Politiker ihre Besatzungsziele durchzusetzen. Ein chancengleiches freies Spiel der Kräfte hat in den Westzonen keineswegs stattgefunden.

4.2. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte in der KPD ihre wichtigste Stütze und den deutschen Vollstrecker ihrer Besatzungsziele gesehen und nicht gezögert, diese Partei in eine exponierte Stellung zu bringen. Anhand der Erfahrungen in osteuropäischen Ländern, spätestens nach den Wahlergebnissen in Österreich und Ungarn, aber auch angesichts des Zustroms zur Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone mußte ihr klar geworden sein, daß die Kommunisten über keinen ausreichenden Einfluß verfügten, um die sowjetische Deutschlandpolitik hinreichend abzustützen, daß es dazu der Einbindung des sozialdemokratischen Potentials bedurfte. Über eine kommunistisch dominierte Einheitspartei sollte dies erreicht werden. War das Verhalten der UdSSR und ihrer Besatzungsorgane in Deutschland vorwiegend macht- und sicherheitspolitisch bestimmt, so verstanden sich zahlreiche Mitarbeiter der SMAD zugleich als Vertreter der Arbeiterbewegung. Deshalb standen neben der administrativen, mitunter repressiven, Vorgehensweise der Besatzungsmacht zugleich die historisch-theoretische Argumentation und der politisch-moralische Appell. Dies wurde dadurch begünstigt, daß sich die UdSSR als Sieger über den Faschismus damals auf dem Höhepunkt ihres internationalen Ansehens befand. Auch der Zentralausschuß der SPD, auch Vertreter der kommunistischen Opposition sahen ungeachtet mancher Vorbehalte in der Sowjetunion die Schutzmacht für eine sozialistische Entwicklung in Europa. Sie hielten es für geboten, sich im Falle eines amerikanisch-sowjetischen Konfliktes für die UdSSR zu entscheiden.

In ihrer Besatzungszone griff die UdSSR mit jener Rigorosität, mit der sie ihre Ziele generell verfolgte, auch in die Auseinandersetzungen um die Vereinigung von KPD und SPD ein, so daß eine Option gegen die Einheitspartei zugleich zum Affront gegen die Besatzungsmacht wurde. Dies schuf ein politisches Klima, in dem schwer auszumachen ist, wo für das Individuum die freie Entscheidung für die Einheitspartei aufhörte und wo Anpassung oder Gehorsam begonnen haben, wo die Zustimmung zur Einheitspartei trotz oder wo sie wegen dieser Begleiterscheinungen erfolgt ist, wo sie als Unterwürfigkeit empfunden oder wo sie als Weg zu Gewinnung von größerer Handlungsfreiheit verstanden wurde. Für die Gesellschaft war die Besatzungspolitik allgegenwärtig, für den einzelnen Kommunisten, Sozialdemokraten oder Parteilosen blieb durchaus Spielraum, sich als Mitglied in die Einheitspartei einzureihen oder ihr fernzubleiben beziehungsweise sich von ihr wieder zu lösen.

4.3. Die KPD hatte sich bei Wiederzulassung der politischen Parteien für die Sammlung der Kräfte in den vertrauten Organisationen und für die Aktionseinheit von KPD und SPD ausgesprochen. Doch bereits im Herbst 1945 ging von ihr die Initiative für einen Zusammenschluß beider Arbeiterparteien aus, wie sie überhaupt als Initiator und Organisator des Neuaufbaus und der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in Erscheinung trat. Durch die KPD in erster Linie erfolgten die politischen Mobilisierungen im Vereinigungsprozeß. Ihr Engagement für die Einheitspartei begründete die KPD von der marxistischen Theorie her und aus den Traditionen der Arbeiterbewegung heraus, mit der besonderen Verantwortung der Arbeiterklasse für den antifaschistisch-demokratischen Neuaufbau und für eine sozialistische Perspektive Deutschlands, mit den Erfolgen von einigen Monaten Aktionseinheit sowie mit Warnungen vor den Gefahren eines Wiederauflebens der Reaktion, die sowohl die antifaschistische Demokratie als auch die nationale Einheit bedrohte. Wie die internen Quellen belegen, reagierte sie zugleich auf zunehmenden Einfluß und wachsendes Selbstbewußtsein einer SPD, die nun wiederholt gegenüber den Kommunisten auf Distanz ging. Die öffentlich vorgetragenen Argumente der KPD verdeckten manche taktischen und machtpolitischen Kalküle der Führung der KPD. Ihre Wirkung verfehlten sie auf breite Kreise der Werktätigen indes nicht, denn sie waren in vieler Hinsicht aus realen historischen und zeitgenössisch-aktuellen Erfahrungen geschöpft.

Belastungen und Beschädigungen der ursprünglich überwiegend positiv aufgenommenen Idee und Praxis der Einheit erwuchsen aus drei Elementen kommunistischer Politik, wenngleich diese oft erst Jahre später in vollem Umfange deutlich wurden. Erstens war die KPD aus den Traditionen der Komintern heraus in einem Maße auf die KPdSU(B), auf die UdSSR und mithin auch auf die sowjetische Besatzungspolitik fixiert, das sie nicht wahrhaben konnte und wollte, wie sehr das Handeln des "ersten sozialistischen Staates der Welt" von russischen Großmachtinteressen bestimmt war. Für die Führung der KPD erschien es nicht vorstellbar, bei unvermeidlichen Interessenkonflikten originäre Anliegen der deutschen Werktätigen gegenüber der Besatzungsmacht offen und aktionsorientiert zu vertreten. Auch in Bezug auf die Einheitspartei bedurften alle ihrer wesentlichen Schritte zumindest der Billigung durch die sowjetische Partei- und Staatsführung. Zweitens hatte die KPD in ihrer Spitze und in ihrer Mehrheit trotz verheißungsvoller Vorsätze und Anläufe kein durchgreifend und dauerhaft erneuertes Verhältnis zur Demokratie gefunden, zur Demokratie als Grundwert, unabdingbar für den Sozialismus und auch innerhalb der eigenen Organisation. Zwar sind ihr Bemühungen nicht abzusprechen, wie sie in dem Konzept von einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus kulminierten, doch wurde die Partei schließlich und endlich immer wieder von der eigenen Vergangenheit eingeholt. Darunter litt auch die Konsensfähigkeit in der Bündnispolitik wie die Fähigkeit der KPD, auf den sozialdemokratischen Partner in erforderlicher Weise einzugehen. Drittens lasteten auf der Führung der KPD die Stalinschen Repressalien, denen auch zahlreiche deutsche Antifaschisten zum Opfer gefallen waren. Dies war ein wesentlicher - von kommunistischer Seite allerdings nie akzeptierter - Grund, weshalb ihre Einheitsfrontangebote auch nach 1933 überwiegend auf Ablehnung gestoßen waren. Selbst wenn die KPD-Führung gewollt hätte, so bestand allerdings gerade 1945/1946 die geringste Chance, dieses trübe Kapitel in der Geschichte der kommunistischen Bewegung zu bereinigen. Denn die Alliierten hatten jegliche Kritik an jedweder Siegermacht verboten, und die Präsenz der Stalin verpflichteten sowjetischen Apparate in Ostdeutschland schloß bereits ein Benennen, geschweige denn eine Anklage stalinistischer Verbrechen absolut aus. Das mußte sich für die Einheitspartei als schwere Hypothek erweisen.

4.4. Die SPD hatte ebenfalls allen Grund zu selbstkritischer Aufarbeitung ihres seit 1914 zurückgelegten Weges. Die Burgfriedenspolitik während des ersten Weltkrieges, die unausgeschöpften Möglichkeiten der Novemberrevolution und die Demokratie-Defizite der Weimarer Republik waren von ihr wesentlich mitzuverantworten. Das waren jedoch für ihre Führungskräfte im ersten Nachkriegsjahr kaum Themen. Zu dem Zeitpunkt, als das Einheitsparteiprojekt praktisch wurde, war die deutsche Sozialdemokratie de facto bereits nach Besatzungszonen aufgespalten, mit zwei Führungszentren: dem Zentralausschuß in Berlin und dem Büro der Westzonen in Hannover. Wesentlicher Dissenzpunkt zwischen beiden war die Stellung zu den Kommunisten und zur Einheitspartei der Arbeiterklasse - schroff und unflexibel ablehnend das Büro der Westzonen und die sich vor allem in den Berliner Westsektoren organisierende Opposition; prinzipiell bejahend, aber Vorbedingungen stellend, zeitweise manövrierend und bremsend die Mehrheit des Berliner Zentralausschusses.

Die Folge war, daß die Entscheidungen über Programm, Politik und Organisation der Einheitspartei, über den Vollzug der Vereinigung nicht im Rahmen des in ganz Deutschland vorhandenen politischen Kräfteverhältnisses fielen, sondern einerseits unter den kommunistisch-dominierten Bedingungen der sowjetischen Besatzungszone und andererseits unter den konfliktgeladenen Verhältnissen und Rivalitäten der Viersektoren-Stadt Berlin. Damit war die Möglichkeit vergeben, mit und innerhalb einer gesamtdeutschen vereinigten Partei der Arbeiterklasse das sozialdemokratische Potential seiner Bedeutung und seinem Einfluß entsprechend zur Geltung zu bringen. Da in der Sozialdemokratie eine selbstkritische Bestandsaufnahme der eigenen Politik zwischen 1914 und 1945 unterblieb, standen nachdenkliche Sozialdemokraten vor der Alternative: Rückkehr in die alten Geleise oder Neubeginn mit einer Einheitspartei, selbst wenn diese kommunistisch dominiert war.

Es fällt auf, daß das Einheitsparteiprojekt in der sowjetischen Besatzungszone und in Berlin von sozialdemokratischen Gegnern einer Fusion nur selten frontal angegriffenen worden ist. Einer Debatte über die im Entwurf der Grundsätze und Ziele der SED enthaltene Programmatik und die im Entwurf des Parteistatuts niedergelegten Organisationsprinzipien der Einheitspartei haben sie sich nicht gestellt. Vielmehr nahmen sie Anstoß am Zeitpunkt, am Tempo, an den Konditionen des Zusammenschlusses. Dies ist ein Indiz dafür, daß die Idee der Einheit auch unter Sozialdemokraten im Grundsätzlichen zahlreiche Anhänger hatte.

4.5. Kaum zum Zuge kamen die zwischen KPD und SPD angesiedelten kritischen Potentiale der Arbeiterbewegung, wie sie sich in der KPD(Opposition), in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), im Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) oder anderen Gruppierungen organisiert hatten. Obwohl Vertreter dieser Richtungen in den Mitte 1945 auf lokaler Ebene entstandenen Einheitsorganisationen oder beim Zustandekommen von Aktionsausschüssen oft eine herausragende Rolle gespielt hatten, wurden sie bald von den Stammparteien SPD und KPD aufgesogen, wozu eine durch die Besatzungsmächte gesteuerte Parteilizenzierung das Ihre beitrug. Der produktive, ausgleichende Impuls für eine Einheitspartei, wie er gerade von diesen Kräften erhofft werden durfte, kam nicht zum Tragen. Im Gegenteil, schon bald setzte in der SED nicht nur die Ausgrenzung, sondern auch die Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Vertretern dieser Gruppierungen ein. In der SPD blieb diesen Arbeiterfunktionären meist nur die Wahl zwischen Resignation oder Kollision.

5. Im Spannungsfeld des besiegten und besetzten Deutschlands und angesichts konkurrierender politischer Kräfte erwuchsen unterschiedliche Haltungen zur Einheitspartei und gegensätzliche Betroffenheiten der am Geschehen Beteiligten. Die unmittelbar - wenngleich mehr oder weniger intensiv - einbezogenen Männer, Frauen und Jugendlichen zählten nach Hunderttausenden. Es ist indes ein Trugschluß anzunehmen, daß sich die SED überwiegend aus vor 1933 entweder in der KPD oder in der SPD organisierten Mitgliedern rekrutiert habe. Das Gegenteil war der Fall. Schon zur Jahreswende 1945/1946 bestanden in der sowjetischen Besatzungszone KPD wie SPD in der übergroßen Mehrzahl aus Mitgliedern, die sich erst nach 1945 einer politischen Partei angeschlossen hatten. Das gilt allerdings weit mehr für die KPD als für die SPD, die in ihrem Bestand ein höheres Maß an Kontinuität verkörperte. Für die Masse der künftigen Mitglieder der Einheitspartei war mithin eine Option für den Zusammenschluß von KPD und SPD nicht oder nur bedingt mit Erhalt oder Preisgabe einer kommunistischen beziehungsweise einer sozialdemokratischen Identität verbunden.

Deshalb finden wir unter den am Zusammenschluß von KPD und SPD beteiligten Menschen die unterschiedlichsten Verhaltensweisen oder Betroffenheiten: freudig überzeugtes, durch Klassenbewußtsein bestimmtes Engagement für die Einheitspartei; rational abwägendes, politisch-motiviertes Bejahen dieser Vereinigung; Mitläufertum im Vertrauen auf die Entscheidungen der Führungen; Zweifel, aber auch das Verdrängen von Zweifeln, opportunistisches Einschwenken in einen für unvermeidlich gehaltenen Gang der Ereignisse; Widerstand gegen eine für verfrüht oder für verfehlt gehaltene Fusion, aber auch die Aufgabe dieses Widerstandes angesichts massiver ideologischer Umwerbungen oder auch unter politischem Druck; abgetrotzte Teilnahme an der Einheitspartei durch indirekte oder direkte Ankündigung von Benachteiligungen wie auch durch korrumpierende Versprechungen; das Ausschalten von Einheitsgegnern, was für manche Betroffene ein schlimmes Schicksal bedeutete.

Verantwortungsbewußte Forschung und ausgewogene Bewertung sollten danach fragen, inwieweit derartige Verhaltensweisen und Betroffenheiten als typisch anzusehen sind und in welchem Verhältnis sie zueinander gestanden haben.

6. Viele Diskussionen um Freiwilligkeit oder Zwang beim Zustandekommen der Einheitspartei wären hinfällig, wenn dem Zusammenschluß von KPD und SPD ein Votum der Gesamtmitgliedschaft vorausgegangen wäre. Eine Urabstimmung war im Frühjahr 1946 nicht nur in Berlin, sondern auch in verschiedenen Städten der sowjetischen Besatzungszone - mitunter auch von Mitgliedern der KPD - gefordert worden. Doch widersprach der eingeschlagene Weg der Entscheidung durch Delegierte auf Konferenzen und Parteitagen keineswegs den Traditionen der politischen Arbeiterbewegung in Deutschland. Das Standardbeispiel Berliner Urabstimmung reicht nicht aus, um die Frage nach Zwang oder Freiwilligkeit beim Zustandekommen der SED überzeugend zu entscheiden. Denn in Berlin bestand eine spezifische, mit anderen Regionen nicht gleichsetzbare politische Situation. Die Daten dieser Abstimmung verlieren an Beweiskraft als überragendes Votum gegen die Einheitspartei, wenn sie nicht lediglich auf die Abstimmungsteilnehmer, sondern auf die Gesamtzahl der Mitglieder der SPD in den Berliner Westsektoren oder gar auf die Gesamtzahl der Berliner Sozialdemokraten bezogen werden. Die Frage "Bist Du für den sofortigen Zusammenschluß der beiden Arbeiterparteien?" verneinten bei der Urabstimmung vom 31. März 1946 zwar 82,3 Prozent der Abstimmungsteilnehmer, doch repräsentierten diese nur 47,7 Prozent der SPD-Mitglieder der Berliner Westsektoren und 28,6 Prozent der SPD-Mitglieder Groß-Berlins. Demgegenüber wurde die Frage "Bist Du für ein Bündnis beider Arbeiterparteien, welches gemeinsame Arbeit sichert und den Bruderkampf ausschließt?" nur von 24,8 Prozent der Abstimmungsteilnehmer verneint, die 14,4 Prozent der SPD-Mitglieder der Berliner Westsektoren und 8,6 Prozent der SPD-Mitglieder Groß-Berlins ausmachten. Was die Ergebnisse der Urabstimmung unanfechtbar belegen, ist erstens die Tatsache, daß in Berlin große Teile der Sozialdemokraten dem Zentralausschuß die Gefolgschaft aufgekündigt hatten und den von ihm eingeschlagenen Weg in die Einheitspartei nicht mitgehen wollten. Zweitens weisen sie aus, daß selbst diese Sozialdemokraten mehrheitlich eine Neuauflage des "Bruderkampfes" zwischen SPD und KPD ablehnten und ein Zusammengehen beider Parteien erwarteten. Das Votum für Gemeinsamkeit trotz vorhandener Differenzen ist von den Initiatoren der Urabstimmung zu keiner Zeit als Richtschnur politischen Handelns respektiert worden.

Wenn Urabstimmungen das zuverlässigste Mittel sind, um den Willen der Betroffenen zweifelsfrei zu erkunden, ergibt sich die Frage, warum im Anschluß- und Vereinigungsprozeß des Jahres 1990 nicht davon Gebrauch gemacht wurde. Weder den Fusionen der CDU(Ost) wie der DBD mit der bundesdeutschen CDU und der LDPD wie der NDPD mit der FDP noch dem Aufgehen der SPD(Ost) in der westdeutschen Mutterpartei sind Urabstimmungen vorausgegangen, in der Regel nicht einmal der SED-Gründung vergleichbare Parteitagsbeschlüsse. Im Rahmen des DGB entscheiden heute Delegierte ohne Urabstimmung über Auflösung und Fusionierung von Industriegewerkschaften. Die SED vermochte nach ihrer Gründung einen enormen Zuwachs an Mitgliedern zu erzielen, den bundesdeutschen Parteien haben vereinnahmte Mitglieder in Scharen den Rücken gekehrt.

7. Es dürfte der Wahrheit am nächsten kommen und dem politischen Klima in Deutschland am dienlichsten sein, wenn aus den vielfältigen und widersprüchlichen Tatsachen, von denen die Gründung der SED begleitet war, gefolgert wird:

Eine bedeutende Minderheit trat überzeugt und engagiert für die Einheitspartei ein. Eine beachtliche Minderheit, die sich vor allem aus langjährigen Sozialdemokraten rekrutierte, hatte erhebliche Vorbehalte oder war strikt gegen einen Zusammenschluß mit der KPD. Die Mehrheit war bereit, ihren Führungen zu vertrauen, zumal das Einheitsparteiprojekt auf sie eine solche Anziehungskraft ausübte, daß Bedenken vielfach in den Hintergrund traten. Die Programmatik wie das Parteistatut der SED trugen diesem Gründungskonsens in beachtlichem Maße Rechnung, die Parität bei der Besetzung der Parteifunktionen wirkte vertrauensstiftend, wenngleich in der Realität eine kommunistische Dominanz von Anfang an nicht zu übersehen war.

8. Es hat beim Zusammenschluß von KPD und SPD zweifellos Zwänge gegeben. Nicht wenige der Akteure des Jahres 1945/1946 haben den "Irrweg" der Deutschen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, die Notwendigkeit einer grundlegenden Wende deutscher Geschichte sowie die organisatorische Zusammenfassung aller linken Kräfte für den demokratischen Neuaufbau und für eine sozialistische Perspektive als gebieterischen objektiven Zwang empfunden. Sie wollten unbedingt die Spaltung der Arbeiterbewegung zu beenden - und sei es mit einer massiven, in mancher Hinsicht fragwürdigen Kampagne für die Einheitspartei. Der Zusammenschluß von KPD und SPD war mit einer intensiven politischen, organisatorischen und ideologischen Mobilisierung verbunden, vollzog sich in hohem Tempo und bot in der sowjetischen Besatzungszone Befürwortern und Gegner der Fusion keine Chancengleichheit. Nach allem, was in Deutschland vorher an reaktionären Tatsachen geschaffen worden war, was sie an Krieg und Massenmord erlebt hatten, konnten allerdings viele Anhänger der Einheitspartei darin nichts Schlimmes erblicken. Gegner der Vereinigung sahen sich hingegen unter Druck gesetzt, und auch manche Befürworter der Einheitspartei hätten lieber andere Abläufe und Fristen vorgezogen. Die Führung der KPD und auch zahlreiche kommunistische Funktionäre vor Ort hatten keine Bedenken, sich der bevorzugten Stellung zu bedienen, die ihnen von der Besatzungsmacht eingeräumt worden war - bei der Besetzung von Funktionen, in der materiellen Ausstattung der politischen Arbeit, bei der Isolierung oder Diffamierung politischer Gegner. Auch die Mehrheit des Zentralausschusses der SPD ging, nachdem sie sich grundsätzlich für die Einheitspartei entschieden hatte, mit Ausschlüssen gegen die Opposition vor.

Durch die sowjetische Besatzungsmacht kam ein breitgefächertes Instrumentarium kam zum Einsatz: Umwerben von Sozialdemokraten, Appelle an ihr Klassenbewußtsein, Berufungen auf die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, demonstratives Vorhalten der Erwartungen der Besatzungsmacht, Versammlungsverbote, Zensur der Presse, Vorladungen bei den Besatzungsbehörden, Ablösung einzelner Funktionäre, Androhung von Gewaltmaßnahmen. Es kam zu Inhaftierungen und Aburteilung durch Militärgerichte. Diese konnten, mußten aber nicht, in ursächlichem Zusammenhang mit der Stellung der Betroffenen zur Einheitspartei stehen. Die schlimmsten Repressionen setzten in den folgenden Jahren ein und hingen nicht monokausal mit der SED-Gründung zusammen. Überwiegend als Maßnahmen im kalten Krieg begründet, trafen sie in vielen Fällen Arbeiterfunktionäre, häufig Sozialdemokraten, jedoch auch Westemigranten der KPD und Vertreter oppositioneller kommunistischer Gruppierungen, der SAP und anderer Organisationen. Zunehmend waren später auch die Zentrale Parteikontrollkommission der SED sowie Organe der DDR beziehungsweise deren Vorläufer an derartigen Verfolgungen beteiligt.

Zwängen waren auch die Vorkämpfer einer Einheitspartei in den Westzonen ausgesetzt. Die dortige SPD-Führung drohte ihnen mit Ausschluß. Von den Besatzungsmächten wurden sie mit vielfältigen Ausgrenzungen und repressiven Maßnahmen belegt. Hier reichte das Instrumentarium von Benachteiligungen beim Zulassen von Parteien und Gewerkschaften, bei der Lizenzierung und Zensierung der Presse über die Bevorzugung politisch genehmer Personen für die deutschen Auftragsverwaltungen und Länderregierungen bis hin zu direkten Einmischungen in Angelegenheiten der deutschen Arbeiterbewegung. Organisationskomitees der SED wurden verboten. In den Westzonen ansässige Mitglieder des Parteivorstandes der SED wurden aufgefordert, ihre Funktion niederzulegen oder ihren Wohnsitz zu wechseln. Es kam zu Verhaftungen vor allem kommunistischer Funktionäre. Bereits im April 1948 wurde eine Verbot der KPD erwogen.

Angesichts der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Vorgänge um den Zusammenschluß von KPD und SPD sind jegliche vereinfachenden, zu parteiisch aufgeladenen Kurzformeln geronnenen Wertungen abzulehnen. Mögen sie "Erfüllung der Sehnsucht aller Werktätigen" oder "Zwangsvereinigung" lauten.

9. Trotz schwerwiegender negativer Begleitumstände des Zustandekommens der SED trug die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zunächst überwiegend den Charakter einer linkssozialistischen Volkspartei. Sie zählte zum Zeitpunkt ihrer Gründung in Ostdeutschland knapp 1,3 Millionen Mitglieder, die annähernd zu gleichen Teilen über die KPD und über die SPD in die Einheitspartei gelangt waren. Im ersten Jahr ihres Bestehens schlossen sich dieser Partei täglich im Schnitt 1200 Männer, Frauen und Jugendliche an. 1947 gehörte in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone jeder 4. Industriearbeiter, jeder 3. Angestellte, jeder 16. Land- und Forstarbeiter, jeder 10. Bauer, jeder 7. Handwerker und Gewerbetreibende, jeder 7. Ingenieur oder Techniker und jeder 3. Lehrer der SED an. Die zahlenmäßige Stärke und das von der SED 1946 erzielte Wahlergebnisse zeugen von einer beträchtlichen Akzeptanz dieser Partei.

Das Gegenwartsprogramm der SED enthielt antifaschistisch-demokratische Forderungen, in denen Kommunisten und Sozialdemokraten von Anfang an in hohem Maße übereingestimmt hatten und die im Osten Deutschlands bereits in beträchtlichem Maße verwirklicht waren. Ihre knappgehaltenen programmatischen Aussagen über den Sozialismus wiesen große Verwandtschaft zum Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891 auf und orientierten auf einen deutschen Weg zum Sozialismus. Dem Parteistatut nach war die SED eine demokratisch strukturierte Partei, die allen nichtnazistischen Werktätigen offenstand, in der Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse von unten nach oben zumindest statuarisch möglich waren. Die Partei kannte keine Kandidatenzeit, keine Parteiüberprüfungen und -säuberungen, keine Kontrollkommissionen, kein Politbüro und keinen Generalsekretär. Die zugesicherte Parität von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Besetzung aller Wahlfunktionen und Parteiämter war formell weitgehend gewährleistet. Gleichwohl wurden in der SED auf nahezu allen Ebenen Funktionäre tonangebend, die ihre politische Prägung durch die Komintern erfahren hatten. Deren Dominanz erwuchs vor allem aus ihrer enormen politischen Energie, aus ihrem Umgang mit politischen Apparaten, besonders auf dem Felde der Kaderpolitik, aus ihrer Nähe zur sowjetischen Besatzungsmacht. Zugleich lassen sich in der Geschichte der SED, besonders an Schnittpunkten politischer Auseinandersetzungen, immer auch das Wirken oder der Nachhall einer von sozialdemokratischen Traditionen gespeisten politischen Praxis wie auch von demokratisch-kommunistischen Traditionen ausmachen, wie sie im Lebenswerk Rosa Luxemburgs ihren reifsten Ausdruck gefunden hatten.

Die 1948 im Zeichen des kalten Krieges forciert einsetzende Ausrichtung der SED nach dem Vorbild der stalinistischen KPdSU(B) war zwar zu einem gewissen Grade durch die Schlüsselpositionen von Kominternfunktionären und Sowjetemigranten in der SED vorbereitet und vorbestimmt, nichtsdestoweniger markierte sie einen unübersehbaren Bruch in der Entwicklung der Einheitspartei. Die SED nahm eine Art Doppelcharakter als Massenpartei und Kaderpartei neuen Typs an. Dieser Widerspruch begleitete die SED in ihrer weiteren Existenz und äußerte sich unter anderem in einem kritischen Potential gegenüber der Politbürokratie der DDR. Anders wäre deren Sturz im Jahre 1989 auf friedliche Weise nicht vorstellbar und gleich gar nicht vollziehbar gewesen.

10. Die im April 1946 vollzogene Gründung der SED hat die bis dahin im wesentlichen übereinstimmende Parteienlandschaft in Deutschland gravierend verändert und polarisiert. Das wurde und wird oft als erster Schritt der Zerreißung Deutschlands hingestellt. Nicht nur im Bewußtsein der Gründer dieser Partei, auch der Sache nach war er das gewiß nicht. Denn geführt von der SED sollten im Osten Deutschlands gesellschaftliche Veränderungen erreicht werden, die auf ganz Deutschland ausstrahlten. Die Einheitspartei sollte in der sowjetischen Besatzungszone zwar ihren Ausgangspunkt, nicht aber ihren Endpunkt haben, sie wollte auf den deutschen Westen übergreifen. Ein Friedensvertrag mit Deutschland, eine Aufhebung oder Zurücknahme der Besatzungszonen, Bewegungsfreiheit für alle Parteien in ganz Deutschland hätten die SED nicht nur mit ganz anderen Bedingungen ihres Wirkens konfrontiert und in neue politische Konkurrenzsituationen gebracht, sondern auch ihre innere Entwicklung nachhaltig beeinflußt. 1947 zeichnete sich im Umfeld der Moskauer Außenministerkonferenz die Möglichkeit der Zulassung gesamtdeutscher Parteien ab, was auch für die SPD neue Betätigungsmöglichkeiten in der sowjetischen Besatzungszone erschlossen hätte. Das Scheitern solcher Bestrebungen kann nicht primär der SED angelastet werden; denn diese war damals für eine gesamtdeutsche Verfassungsdebatte, für gesamtdeutsche Parteien und für eine gesamtdeutsche Repräsentanz gegenüber den Siegermächten. Es war Kurt Schumacher, der eine erforderliche sozialdemokratische Initiative strikt ablehnte.

11. Es gibt sehr zu denken, wenn im Jahre 6 der deutschen Einheit erneut eine Rückkehr zu simplen, emotional aufgeladenen Bildern des kalten Krieges zu beobachten ist. Denn vor einem Jahrzehnt waren Historiker in Ost und West bereits einmal soweit aufeinander zugegangen, daß die einen die mit dem Zusammenschluß von KPD und SPD verbundenen Konflikte stärker wahrnahmen und die anderen den verbreiteten Drang zur Einheit nicht mehr generell in Abrede stellten. Die Umkehr dieses Trends läßt sich nur damit erklären, daß die Bewertung der historischen Ereignisse des Jahres 1946 erneut politisch besetzt worden ist. Sie wird als Karte im tagespolitischen Konkurrenzkampf der Parteien und im Ringen um Wählerstimmen ausgespielt. Letztlich soll selbst der Gedanke an mögliche Alternativen zu dem im deutschen Westen beschrittenen Weg gebrandmarkt werden. Solcher Umgang mit Geschichte aber steht nicht nur der Suche nach historischer Wahrheit entgegen, sondern auch einem Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West, einer Aussöhnung der früheren Gegner in den beiden Lagern des kalten Krieges.

Für alle, welche die gegenwärtige konservative Hegemonie in Deutschland und in Europa und die Monopolstellung profitorientierter Kapitalmagnaten brechen möchten, kann das Ersetzen einer genauen Analyse durch althergebrachte Vorurteile und neubelebte Klischees nur ein Unterwerfen unter die Meinungsführerschaft jener konservativen und antisozialistischen Kräfte bedeuten, die nichts so sehr fürchten, wie die parteiübergreifende Formierung der Kräfte für eine Reformalternative. Die Historische Kommission der PDS empfiehlt deshalb allen Mitgliedern und Sympathisanten der Partei des Demokratischen Sozialismus, allen historisch und politisch interessierten Bürgern einen verantwortungsbewußt kritischen Umgang mit der Geschichte im allgemeinen und der Geschichte des Zusammenschlusses von KPD und SPD im besonderen. Das ist weder aus der bloßen Erinnerung heraus, noch ausschließlich anhand der schriftlichen Überlieferungen möglich. Sollten die Zeitgenossen die in den letzten Jahren erstmals veröffentlichten authentischen Quellen zur Kenntnis nehmen, so die Nachgeborenen, die Motivationen und Entscheidungen der damaligen Akteure ernstnehmen. Noch immer wissen wir weit mehr über die Vorgänge in den Chefetagen als über die Befindlichkeiten und Verhaltensweisen von Hunderttausenden Mitgliedern an der Basis. Noch immer ist das Bild über die SED-Gründung überwiegend von den Vorgängen in Berlin geprägt. Lokal- und regionalgeschichtliche Untersuchungen haben an Bedeutung nichts verloren. Sie sind eher dringlicher geworden, weil die Möglichkeit, Zeitzeugen zu befragen, nicht mehr lange gegeben sein wird.

12. Die Historische Kommission der PDS warnt davor, sich in historischen Fragen - von wem und unter welchem Vorwand auch immer - Ultimaten stellen zu lassen. Die Tatsachen zu erhellen und zu bewerten, ist Sache historischer Forschung. Sich ein Urteil zu bilden, ist das Recht jedes Parteimitgliedes und jedes Bürgers dieses Landes. Unakzeptabel ist es hingegen, Entscheidungen über politisches Vorgehen, über Bündnisse oder Koalitionen von Be- oder Verurteilungen historischer Vorgänge abhängig zu machen, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Dies beschädigt sowohl das politische Profil und die Glaubwürdigkeit derjenigen, die solche Ansinnen stellen, als auch derjenigen, die auf solche Ansinnen eingehen. Dies kann weder im Interesse eines fortwirkenden produktiven Umgangs mit Geschichte liegen noch der politischen Kultur in diesem Lande dienlich sein. Zudem bleibt bei solchen Ansinnen in der Regel unberücksichtigt, daß negative Erscheinungen im Werden und Wachsen der SED auch von zahlreichen früheren Funktionären und Mitgliedern der SPD mitzuverantworten sind.

Kein Christ muß sich von Inquisition und Militärkirche öffentlich distanzieren, bevor er sich in eine Allianz für gesellschaftliche Erneuerung einreihen darf. Kein Sozialdemokrat muß sich zuvor für die Bewilligung der Kriegskredite im Jahre 1914, für die Ohnmacht der Weimarer Republik oder für das Abhängen der ostdeutschen Bevölkerung auf dem Wege in die Bundesrepublik entschuldigen, bevor er politisch bündnisfähig ist. Kein Vertreter der Bürgerbewegung braucht öffentlich zu bekunden, wie und warum er die ostdeutsche Bevölkerung nicht nur aus den Zwängen der "realsozialistischen" Gesellschaft herausgeführt, sondern zugleich in die Zwänge einer sich zunehmend militarisierenden und entsolidarisierenden kapitalistischen Marktwirtschaft hineingeführt hat, wenn er sich heute nach Mitstreitern für die Durchsetzung sozialer oder ökologischer Ziele umsieht. Kein PDS-ler kann verpflichtet werden, sich erst Pauschalverurteilungen wie sie uns in Begriffen wie "Zwangsvereinigung" oder "SED-Unrechtsstaat" entgegentreten, zu eigen zu machen, ehe er Anspruch auf politische Gleichberechtigung hat. Der notwendigen kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit Geschichte und dabei nicht zuletzt mit dem Zustandekommen der SED stehen jedwede ultimativen Forderungen oder Erwartungen nur im Wege.

Die Historische Kommission der PDS empfiehlt stattdessen: Nicht schweigen, wenn Geschichte und Politik auf unzulässige Weise vermischt werden. Alle, die erfreulichen wie die unbequemen und beschämenden historischen Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Nichts beschönigen, aber auch einem antikommunistischen und antisozialistischen Zeitgeist keinen Tribut zollen. Sich über eigenes Mittun und eigene Verantwortung klarwerden. Offen sein für die Sichtweisen aller, denen die Zukunft der Linken am Herzen liegt, aber jene zurückweisen, die uns in die ideologischen Schützengräben des kalten Krieges zurückzerren möchten. Auch in der Auseinandersetzung mit Geschichte nach vorn blicken.


Diese Erklärung wurde von Günter Benser entworfen, in der Kommission erörtert und vom Sprecherrat am 13. November 1995 verabschiedet.

Sie ist im gedruckt nachzulesen in:
  • Neues Deutschland vom 18. Dezember 1995;
  • Pressedienst PDS Nr. 50/1995;
  • Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Nr. 1/96;
  • Frankfurter Rundschau vom 10. Januar 1996;
  • Die PDS - Herkunft und Selbstverständnis. Eine historisch-politische Debatte. Hrsg. Lothar Bisky u.a., Berlin 1996.)