Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 30. April 2001

Schröders wirtschaftspolitische Wende:
Vom Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zur Bekämpfung der Arbeitslosen

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Eine Kunst erfolgreicher demokratischer Willensbildung von oben nach unten besteht bekanntlich darin, dass ein Politiker den Leuten erfolgreich verspricht, bei seiner Variante der Machtausübung für Wohl & Wachstum der Nation käme es ihm auch noch auf ein Stück materielle Besserstellung für sie an. So mag vor drei Jahren mancher Arbeitslose in den alten und neuen Bundesländern auf die Darstellung Gerhard Schröders hereingefallen sein, die hohe Arbeitslosigkeit sei ein Resultat überlanger Herrschaft des Herrn Kohl. Dagegen setzte der sozialdemokratische Kanzlerkandidat den forschen Anspruch, die Arbeitslosen wieder einer Anwendung durch eine unter seiner Anleitung boomende Wirtschaft zuzuführen. Am "Abbau der Arbeitslosigkeit" wollte er explizit den Erfolg oder Misserfolg ihrer Regierungsverantwortung gemessen wissen.

Die ersten praktischen Schritte dieses Programms sind mittlerweile spürbare Realität geworden: Ökosteuer und Rentenreform haben die angewendete Arbeitskraft für die Kapitalisten billiger gemacht. Unter dem Titel “Für mehr Beschäftigung” zogen die Gewerkschaften eine Lohnsenkungs- und Flexibilisierungsrunde nach der anderen durch. Die Unternehmer dachten nicht im Traum daran, deswegen auch nur 1 einzigen Arbeitslosen einzustellen. Vielmehr haben sie ihre beschäftigten – und verbilligten – Arbeitskräfte immer intensiver und länger arbeiten lassen, wobei sie sich stillschweigend darauf verlassen konnten, dass das Arbeitslosenheer eine für sie sehr produktive “Sorge um den Arbeitsplatz” erzeugt. Und sie haben mit eben diesen Arbeitskräften die Produktivität und Rentabilität ihrer Unternehmen immer weiter gesteigert, mit der bekannten Folge: Immer mehr Leute fliegen raus.

Schröder, der im Bundestagswahlkampf bescheiden jede Verantwortung für Arbeitslosigkeit in Deutschland abgelehnt hatte, weil es sich dabei um die "Arbeitslosen des Herrn Kohl" gehandelt haben soll, steht jetzt ein Jahr vor den nächsten Wahlen seinerseits mit einem nicht sonderlich reduzierten Heer Beschäftigungsloser da. Gemäss der geltenden politischen Logik wären das allerdings jetzt die immer noch knapp 4 Millionen Arbeitslosen des amtierenden Kanzlers. Die Wirtschaftspolitik verwaltet zwar die vom Kapital in der Marktwirtschaft notwendigerweise produzierte industrielle Reservearmee, sie ändert aber nichts an ihrer Existenz und sie kann ihre Größe nur unwesentlich beeinflussen. Wenn es also bei der massenhaften Arbeitslosigkeit unter jeder Regierung bleibt, weil es sich dabei auch um ein Resultat des erfolgreich wirtschaftenden Kapitals handelt, was liegt dann für einen echten demokratischen Staatsmann näher als der harte Schluss, dass die Arbeitslosen weg gehören.

Es ist für Politiker die leichteste Übung, die von ihnen gedeckelten Opfer der so wunderbar sozialen Marktwirtschaft für ihr Los auch noch selber verantwortlich zu machen, wenn sie merken, dass sie mit ihren Propagandaparolen von gestern unglaubwürdig werden könnten. So stellte der Kanzler am 6. April sein neuestes Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einem im Prinzip parteiübergreifend begeisterten Publikum vor: Bei vielen Arbeitslosen handle es sich letztendlich um Sozialschädlinge, die unter Berufung auf ein nicht existierendes "Recht auf Faulheit" die Solidargemeinschaft um ihr Arbeitslosengeld bzw. ‑hilfe betrügen, weil sie frech Leistungen beanspruchen, für die man ihnen Geld vom Lohn abgezogen hat, als sie noch arbeiten durften. Sie vermasseln der Regierung die Arbeitslosenstatistik, weil sie dem Wirtschaftswachstum nicht bedingungslos zur Verfügung zu stehen. Deshalb soll der "Kampf gegen die Arbeitslosigkeit" von nun an schwerpunktmäßig den Arbeitsämtern auferlegt werden, die jeden Beschäftigungsverweigerer viel konsequenter mit Entzug der Stütze bekämpfen müssten. Die Regierung kann also kein Versagen ihrer “beschäftigungsfördernden Wirtschaftspolitik” erkennen – diese hat alles Menschen- und Wirtschaftsmögliche unternommen. Wenn sich an der massenhaften Arbeitslosigkeit nichts ändert, dann kann das nur am besonders hartnäckigen Verweigerungswillen von Arbeitslosen liegen.. Mit seiner Philippika hat es der Kanzler geschafft, die Arbeitslosigkeit vom wirtschaftspolitischen "Problem" in eine sozialpolitische, ja hoch moralische Schuldfrage zu überführen. Und darüber lässt sich jetzt trefflich und öffentlich rechten. Zwar rennt Schröder in einer kapitalistischen Marktwirtschaft und einer demokratisch organisierten Konkurrenzgesellschaft offene Türen ein, wenn er das Überlebensrecht einzelner an ihre bedingungslose Bereitschaft geknüpft wissen will, sich fürs Bruttosozialprodukt nützlich zu machen. Ob aber die öffentliche Ausstreuung eines Pauschalverdachts gegen Empfänger von Arbeitslosenunterstützung produktiv wirkt, darüber gibt es pluralistische Meinungen. Der Chef der vom Kanzler indirekt angegriffenen Bundesanstalt für Arbeit, Jagoda, sieht die Effizienz seiner Maklerdienste zwischen Kapitalisten und potentiellen Arbeitnehmern zu Unrecht in Frage gestellt und verteidigt deshalb seine Klientel als durchaus arbeitsfreudig.

Die parlamentarische Opposition – nach einer kurzen Auszeit der Verblüffung über Schröders Selbstbedienung aus ihrem bevorzugten Repertoire in Sachen Volksaufhetzung – musste selbstverständlich einen draufsetzen. Nicht bloß die Leistungen der Sozialversicherung würden permanent missbraucht; man müsse konsequenterweise das ganze System staatlicher Hilfen für unnütz herumhängende Teile des Volkskörpers dahingehend ausmisten, dass niemand ohne Arbeit womöglich fast so gut leben könne wie ein Billiglohnempfänger. Daraus folgt für christliche Politiker wie Edmund Stoiber selbstverständlich nicht die Abschaffung von Löhnen und Lohnformen, die Leute unters Existenzminimum drücken, sondern die gnadenlose Absenkung der Sozialhilfe auf ein Niveau, angesichts dessen sich "Arbeit wieder lohnt" – und zwar jede Arbeit zu jedem Lohn, den das Kapital für lohnend erachtet.

Sollten dann immer noch unbelehrbare Rechthaber auf Faulheit übrigbleiben, empfiehlt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Umstellung der Sozialhilfe auf Lebensmittelgutscheine. Der Staat darf nämlich einerseits niemanden in Ruhe lassen, der sich mit Arbeitslosigkeit arrangiert hat angesichts seiner miesen Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Und damit das so richtig nachdrücklich ist, wird der Verbilligung der vom Kapital Ausrangierten auch noch ihre Entwürdigung nachgereicht. Mit ihrer moralischen Abqualifizierung wird so richtig sinnfällig gemacht, wie sehr sie diese Verbilligung verdient haben. Andererseits soll die öffentliche Gewalt aber auch nicht durch Elendsgestalten diskreditiert werden, die man einer zu radikalen Reduzierung der Wohlfahrtshilfe anlasten könnte. Im Vorschlag des sozialdemokratischen Ministers fürs Soziale, Riester, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen und von einer Behörde verwalten zu lassen, treffen sich inzwischen Regierung und Opposition. Damit wird der werktätigen und lohnabhängigen Bevölkerung im großen neuen Deutschland vor Augen geführt, dass der Verlust des Arbeitsplatzes unmittelbar ins Elend führen kann. Mittels der ebenfalls geplanten "Umkehrung der Beweispflicht" bei der "Zumutbarkeit" eines angebotenen Jobs zu Ungunsten des Arbeitslosen, müsste der sich dann nicht bloß mit seinen finanziellen Problemen herumschlagen, sondern sich auch noch selbstinitiativ und glaubwürdig mit dem Verdacht auseinandersetzen, er sei möglicherweise bloß ein Sozialschmarotzer.

Nach der "geistig-moralischen Wende", in deren Namen Helmut Kohl seine Machtübernahme genützt hat, um deutsche Bürger darüber aufzuklären, dass eine kapitalistische Arbeitswelt nicht mit einem "Freizeitpark" verwechselt werden dürfe, leitet Gerhard Schröder fürs neue Jahrtausend eine unübersehbare Wende in der sozialdemokratisch geführten Wirtschafts- und Sozialpolitik ein: Vom Versprechen, besseres Regieren würde genügend Arbeitsplätze schaffen, um das "Problem der Arbeitslosigkeit erfolgreich anzupacken" und die Zahl der Unbeschäftigten "auf ein vernünftiges, in einer freien Wirtschaft unvermeidliches Maß" herunterzufahren (alles Schröder vor 2000) führt der Kanzler 2001 seine Regierung entschlossen in eine Kampagne für law & order gegen Arbeitslose. Die Regierung will sich also nicht mehr am Stand der Arbeitslosigkeit messen lassen, sondern an der Radikalität ihres Vorgehens gegen die “Faulenzer”. Arbeitslose stehen also ganz prinzipiell unter dem Verdacht, der Nation zu schaden. Zwar werden sie nicht als Volksschädlinge aus dem arbeitswilligen Volkskörper für immer aussortiert, aber ein bisschen auf den Status von Asylanten heruntergebracht sollen sie schon werden. Wer nicht arbeiten will, und zwar erstens fürs Kapital und zweitens um jeden Preis, der soll sich in Deutschland auch als Deutscher nicht heimisch fühlen dürfen.