Die Gründe für den verbreiteten sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche

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on David Walsh
05/02
 
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Berichte und Anschuldigungen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch römisch-katholischer Priester an - meist männlichen - Kindern und Teenagern reißen in den amerikanischen Medien nicht ab. Am 20. März beschuldigten ein ehemaliger Profi-Baseballspieler, Tom Paciorek, sowie drei seiner Brüder einen im Gebiet von Detroit praktizierenden Priester, sie in den 60er Jahren, als sie Heranwachsende waren, systematisch missbraucht zu haben. Anklage kann nicht mehr erhoben werden, da die Verjährung bereits vor Jahren einsetzte. Der fragliche Priester, heute 63, wurde von den Kirchenoberen sofort seines Amtes enthoben.

Das Thema sexueller Missbrauch durch Priester, das in den letzten anderthalb Jahrzehnten nie ganz aus den Schlagzeilen verschwand, wuchs sich dieses Jahr zum nationalen Skandal aus. Dies ist teilweise dem Prozess gegen den seines Amtes enthobenen Priester John J. Geoghan jun. zuzuschreiben, der in Cambridge, Massachusetts, der sexueller Belästigung von Kindern angeklagt war. Mehr als 130 Personen geben an, während der 30 Jahre, in denen Geoghan in Bostoner Kirchengemeinden amtierte, von ihm unsittlich berührt oder vergewaltigt worden zu sein. Geoghan wurde im Februar zur Höchststrafe von zehn Jahren Haft in einem Staatsgefängnis verurteilt, weil er sich 1991 einem Zehnjährigen unsittlich genähert hatte. Gegen Geoghan sind außerdem noch mehr als 80 Zivilklagen anhängig.

Der Fall Geoghan führte zu einem öffentlichen Aufschrei, einerseits wegen der Vielzahl von Vergehen, aber auch weil sich herausstellte, dass kirchliche Würdenträger, darunter der Bostoner Kardinal Bernard Law, seit Mitte der 80er Jahre bis in die neunziger Jahre über Geoghans Verhalten Bescheid wussten und ihn lediglich von Gemeinde zu Gemeinde versetzten. Als die Öffentlichkeit erfuhr, wie die katholische Hierarchie Geoghan gedeckt hatte, sah sich Law gezwungen, entgegen bisheriger kirchlicher Praxis die Namen von mehr als 80 Priestern bekannt zu geben, denen in den letzten 40 Jahren sexueller Missbrauch vorgeworfen worden war.
Der Geoghan-Prozess und das stillschweigende Eingeständnis der Bostoner Erzdiözese, die Taten vertuscht zu haben, öffneten die Schleusen. Seit Januar wurden in 13 Bundesstaaten und im District of Columbia Klagen gegen mehr als 200 Priester eingereicht. Wenigstens 55 Priester in 17 Diözesen wurden ihres Amtes enthoben, suspendiert, beurlaubt oder zum Rücktritt bzw. in den Ruhestand gezwungen. Unter ihnen befindet sich auch der Bischof von Palm Beach, Florida, Anthony O'Connell. Ironischerweise hatte O'Connell seinen Dienst in der Diözese Palm Beach im Januar 1998 angetreten, nachdem der damalige Bischof Keith J. Simons unsittliches Verhalten gegenüber fünf Ministranten in den 70er Jahren eingeräumt hatte.

Fast täglich werden neue Anschuldigungen wegen vergangener und neuerer Vorfälle erhoben (ein 35-jähriger Priester aus Long Island bekannte im März, 1999 und 2000 mit einem Dreizehnjährigen Sex gehabt zu haben). Dabei handelt es sich nicht nur um ein amerikanisches Problem. Der Erzbischof von Poznan in Polen (er trat am 28. März zurück) wurde im März beschuldigt, Priesteranwärter missbraucht zu haben; 1998 musste der Erzbischof von Wien wegen ähnlicher Beschuldigungen abtreten. Die römisch-katholische Kirche Irlands willigte dieses Jahr ein, "einen Betrag von 110 Millionen Dollar als Entschädigung an die Tausenden Opfer unsittlichen Handelns in kircheneigenen Schulen und Kinderheimen während des letzten Jahrhunderts zu bezahlen"(New York Times vom 20.März). Dreißig französische Priester wurden in den letzten Jahren wegen Pädophilie verurteilt, elf sitzen gegenwärtig im Gefängnis. In Australien wurde ein ehemaliger katholischer Bruder kürzlich wegen mehrmaliger sexueller Belästigung junger Kinder von 1975 bis1999 zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Die öffentliche Diskussion über sexuellen Missbrauch durch Priester begann in den USA zwar erst 1985 (als ein Priester aus Louisiana zugab, Dutzende von Kindern sexuell belästigt zu haben, und zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt wurde), doch gibt es allen Grund zu glauben, dass dieses Verhalten seit langem praktiziert wird.

In der Vergangenheit schwiegen die Opfer meist aus Scham oder Furcht vor den Konsequenzen. In den letzten, sehr prozessfreudigen Jahren haben sich die Opfer mit der Kirche außergerichtlich geeinigt. Seit 1985 wurden schätzungsweise 1400 Klagen gegen Priester wegen sexuellen Missbrauchs eingereicht. 1997 sprach eine Jury in einem Prozess wegen sexuellen Missbrauchs gegen die katholische Diözese von Dallas den Opfern 120 Millionen Dollar zu; die Kirche stimmte schließlich einer Summe von 30 Millionen Dollar zu. Die Diözese ging Konkurs und schloss viele ihrer Einrichtungen und Schulen. Auch in den Boston-Prozessen könnte es um 100 Millionen Entschädigung gehen. In einigen Fällen haben sich Versicherungen geweigert, die Kosten zu übernehmen, und zwar mit der Begründung, die Straftaten seinen bewusst ausgeübt worden und nicht durch die Versicherung gedeckt.

Angesichts unwiderlegbarer Fakten oder von Geständnissen von Priestern entschuldigte sich die katholische Kirche in allgemeiner und pauschaler Form. Am 21. März äußerte sich Papst Johannes Paul II. zum erstenmal zu dem Missbrauch-Skandal mit den Worten, die Kirche "zeigt ihre Sorge für die Opfer und ist bemüht, in Wahrheit und Gerechtigkeit auf jede dieser schmerzlichen Situationen zu reagieren".

Bis in die jüngste Zeit jedoch bestand die Reaktion der Kirchenhierarchie vielmehr darin, die Anschuldigungen, wenn möglich, völlig zu unterdrücken, sie nach Möglichkeit zu bestreiten und sich mit den Opfern - oft gegen eine Verschwiegenheitserklärung - zu einigen, wenn sie die Anschuldigungen weder bestreiten noch unter dem Teppich halten konnte. Die Hintergründe des Falles Geoghan zeigen, dass die Kirchenfunktionäre immer einem Prinzip folgten: die Selbsterhaltung der Institution.

Allein die jahrzehntelange Gleichgültigkeit der katholischen Kirche gegenüber den psychischen und physischen Leiden einer unbekannten, aber großen Zahl ihrer jüngsten und schutzlosesten Mitglieder genügt, sie an den Pranger zu stellen.

Das Verhalten der Priester, die sich sexueller Belästigung und anderer Formen sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben, darf man nicht entschuldigen oder durchgehen lassen. Die Vergehen an (meist) vor- und nachpubertären Jungen, die gerade eine Lebensphase durchlaufen, in der sie verletzbar sind und Probleme mit ihrer Sexualität haben, sind schändlich und feige. Die psychischen Folgen müssen um so verheerender sein, wenn man bedenkt, welche Beziehung im Spiel ist: Kinder und Teenager werden in intimster Weise von Männern missbraucht, die zu verehren und denen zu vertrauen als "Vertreter Jesu auf Erden" man sie gelehrt hat.
Damit kann man die Angelegenheit allerdings nicht auf sich beruhen lassen. So beklagenswert das Verhalten der Priester ist, sind wir doch in diesem wie auch in jedem anderen Fall nicht bereit, es dem "Mysterium des Bösen" zuzuschreiben, wie Johannes Paul II sich ausdrückte. Die fraglichen Priester sind keine Monster, sondern menschliche Wesen, und einige von ihnen sind ursprünglich sicherlich aus Idealismus in den Dienst der Kirche getreten. Auch sie selbst sind Opfer der katholischen Kirche.

Der Versuch von Kirchenfunktionären, dieses Verhalten einigen wenigen Bestien in Menschengestalt anzulasten, über die das Böse gekommen ist, ist absurd. Der Umstand, dass es sich beim Missbrauch um ein seit langem bestehendes und weltweit auftretendes Phänomen handelt, zeigt, dass es nicht um abweichendes Verhalten geht, sondern um etwas, das der Institution und ihren Praktiken innewohnt. Entgegen der Meinung des Papstes gibt es kaum ein "Mysterium", was die Quelle des Fehlverhaltens betrifft: es nährt sich unausweichlich aus der inhumanen und unnatürlichen Pflicht zum Zölibat und ähnlichen mittelalterlichen Lehren und Praktiken der Kirche zur menschlichen Sexualität, die in Verbindung mit der Lehre von der Erbsünde stehen. Nach Jahrzehnten, vielleicht auch Jahrhunderten des Vertuschens, sind die psychologisch krankhaften Folgen dieser Lehren und dieser Praxis für jedermann deutlich zu sehen.

Die durch den sexuellen Missbrauch seitens Teilen der Priesterschaft ausgelöste Krise unterstreicht den durch und durch reaktionären und anachronistischen Charakter der katholischen Kirche als Institution. Ihre korrupten und heuchlerischen Funktionäre, die wie Könige leben, gegen Sünde und Laster vom Leder ziehen, die Geburtenkontrolle und das Recht auf Abtreibung bekämpfen, die Homosexualität verurteilen und begeistert Zensur und geistige Unterdrückung befürworten, verbünden sich weltweit mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und machen das Leben für zig Millionen Menschen zu einer Plage.

Dieses gewaltige Ausmaß an gesellschaftlicher Reaktion und Rückständigkeit muss auch in den persönlichen Beziehungen innerhalb der Kirche und zwischen Priestern und Mitgliedern der Kirchengemeinden seinen Ausdruck finden.

Die anormalen psychischen Charaktere, die innerhalb der Priesterschaft anzutreffen sind, werfen eine Menge Fragen auf, die den Rahmen dieses Artikels sprengen. Eugene Kennedy, ein ehemaliger, inzwischen verheirateter Priester, hat über dieses Thema geschrieben. Mit Blick auf frühere Skandale wegen sexuellen Missbrauchs schreibt er über "Offenbarungen der armseligen, heimlichtuerischen und unterentwickelten Persönlichkeit vieler Priester, die in ihrem hilflosen Raubzug gegen hilflose Jungen auffälligen Ausdruck fand". Dass dies oft die Form des Missbrauchs an Jungen annimmt, während in der Gesellschaft insgesamt Mädchen viel wahrscheinlicher zum Opfer werden, hat weniger mit dem Anteil homosexueller Männer zu tun, die das Priesteramt wählen, als vielmehr mit den vorhandenen sexuellen Möglichkeiten für diejenigen, die menschlicher und gesunder Ventile beraubt sind, und auch mit einer Institution, die, um mit Kennedy zu sprechen, sich dadurch hervorhebt, dass sie "eine Bewegung von Männern (ist), um andere Männer zu übermannen".

Kennedy beschreibt im Detail die autoritären und sadistischen Tendenzen, die er unter den kirchlichen Funktionären antraf, von Männern, deren "sexuell gefärbte Persönlichkeitsmängel... sie erschrecken ließe, wenn sie sie als ihren eigenen Drang identifizierten, andere zu kontrollieren und zu beherrschen." Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen alldem und der allseits bekannten Unterdrückung in katholischen Schulen, die schon länger existiert als die Memoiren und Romane, die darüber berichten.

Jeder Aspekt dieser durch sexuellen Missbrauch ausgelösten Krise - der Schmerz und das Leiden der Opfer, das Elend und die gestörte Sexualität der Priester, die Boshaftigkeit der Kirchenfunktionäre - deuten auf eine kranke Institution hin, deren Praktiken und Lehren elementaren menschlichen Bedürfnissen zuwider laufen und unvermeidlich ungesunde psychisch-sexuelle Bedingungen schaffen. Das eigentliche Wesen der katholischen Kirche ist ein Hohn auf die moderne Gesellschaft.

Das Zölibat

Die strenge Regel des priesterlichen Zölibats ist bei näherem Hinsehen relativ neueren Datums. Im Neuen Testament wird das Zwangszölibat nicht erwähnt, und sämtliche Apostel waren offensichtlich verheiratet. Friedrich Engels führt in seinem Essay "Zur Geschichte des frühen Christentums" "ein allen stürmischen Zeiten gemeinsames Phänomen (an), nämlich dass die traditionellen Bande geschlechtlicher Beziehungen, wie alle anderen Fesseln, zerrissen werden." In dem Maße, wie die katholische Kirche ihre Stellung als staatliche Institution festigte, nahm ihre Toleranz gegenüber sexueller Freiheit ab und ihre Verherrlichung der Jungfräulichkeit als ein dem Göttlichen näherer Zustand zu. Die ersten zielgerichteten Versuche, innerhalb der Kirche das Heiraten zu verbieten, fanden im vierten Jahrhundert statt, nachdem Kaiser Konstantin das Christentum zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erklärt hatte.

Die nächsten Jahrhunderte wuchs der Druck, das Zölibat einzuführen, doch insgesamt gelang es der Kirche nicht, Priester von sexueller Enthaltsamkeit zu überzeugen. Über das zehnte Jahrhundert schrieb ein Historiker: "Statistiken gibt es zwar nicht, doch herrscht allgemein Einigkeit, dass die meisten Priester auf dem Land verheiratet waren und viele Geistliche und Bischöfe in der Stadt Frau und Kinder hatten." Am heftigsten stritt Gregor VII (1073-85) für das Zölibat, doch der entscheidende Schritt erfolgte im Jahre 1139 beim zweiten Lateran-Konzil. Priester durften von nun an per definitionem keine Heirat mehr eingehen, und diejenigen, die nach der Priesterweihe geheiratet hatten, wurden angewiesen, sich scheiden zu lassen. Da die Eheschließung noch nicht gänzlich der kirchlichen Rechtssprechung unterstellt war, übten Priester, die heimlich heirateten, weiterhin ihr Amt aus. Dieses Schlupfloch wurde 1563 beim Konzil von Trient geschlossen - eine christliche Heirat musste von nun an in Anwesenheit eines Priesters erfolgen.

Die Einführung des Zölibats traf auf offenen Widerstand. Kirchenfunktionäre, die Gregors Erlasse durchzusetzen versuchten, wurden verspottet, bespuckt und gelegentlich tätlich angegriffen. Ein kirchlicher Kritiker argumentierte, Gregor ""versuchte, Männer zu zwingen, wie Engel zu leben... Da er den normalen Gang der Natur unterdrückte, förderte er nur die Unzucht." Die Opposition gegen das Zölibat hielt an. Eine Form davon kennen wir als die protestantische Reformation. Martin Luther, der 1524 heiratete, betonte, es gebe in der Heiligen Schrift keine Grundlage für das Zölibat.

Innerhalb der Kirche selbst ignorierten viele Priester weiterhin das Verbot der Heirat. Im Spanien des 16. Jahrhunderts war Heirat bei Priestern offensichtlich üblich. Ein weiterer Historiker schreibt: "Das Zölibat erlitt Rückschläge während der Aufklärung und der französischen Revolution, die 1791 verkündete, dass kein Mann am Heiraten gehindert werden sollte. Tausende von französischen Priestern verheirateten sich."

Während die anfängliche Opposition der Spitzen der katholischen Kirche gegen die Priesterheirat sicherlich durch Jahrhunderte antisexueller Propaganda bedingt war, so hat sie doch ganz weltliche und materielle Grundlagen, die vor allem mit kirchlichem Grundbesitz und Eigentum zu tun haben. Die Fähigkeit von Priestern und Kirchenfunktionären, Eigentum Erben zu vermachen, beunruhigte Gregor und andere Päpste zutiefst. Es gab Fälle, wo Geistliche Kirchen und Klöster besaßen und sie an ihre Kinder oder Geschwister vererbten. Weltliche Herrschaft über kirchliches Eigentum konnte so über Generationen aufrecht erhalten werden. Im zehnten und elften Jahrhundert wurde dies zu einer drängenden Frage. Man kann leicht erkennen, weshalb Gregor und seine Anhänger weltliche Besitzrechte wie auch Heirat von Geistlichen verurteilten.
Historiker haben auch politische Befürchtungen als mögliche Ursachen angeführt. Einem Priester Heim und Familie vorzuenthalten, könnte seine nationalen Gefühle schwächen und so seine Unterordnung unter die zentrale Macht in Rom sicherstellen und aus ihm ein gefügigeres Instrument der päpstlichen Autokratie machen.

Keines dieser Argumente erklärt, weshalb die katholische Kirche heute noch das priesterliche Zölibat so verbissen verteidigt. Rationale Überlegungen sprechen schließlich eher für die Heiratserlaubnis für Priester. Etwa 20.000 Priester legten in den USA von 1970 bis 1995 ihr Amt nieder, weltweit schätzt man die Zahl auf 100.000, wobei der Hauptgrund der Wunsch nach Heirat war. Nach einer US-Studie von 1990 unter jungen katholischen Männern ist das Zölibat das Haupthindernis, den Priesterberuf zu wählen.

Zölibat und Keuschheit sind jedoch mit dem anti-rationalen, mystischen Konstrukt der katholischen Lehre eng verbunden. Die Voreingenommenheit gegenüber Sex ("sexuelles Vergnügen ist von Gott bestimmt als Anreiz, eine Handlung zu vollziehen, die an sich ekelerregend und auch in ihren Folgen beschwerlich ist", erklärte ein 1929 erschienenes Werk katholischer Gelehrter, das als "human" bezeichnet wurde), Unbefleckte Empfängnis, jungfräuliche Geburt, der Unsinn der Heiligen Dreifaltigkeit und andere katholische Lehren und Dogmen sind untrennbar miteinander verbunden. Man kann kaum ein Element davon entfernen, ohne das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen.

Je tiefer das Verständnis der Menschheit über sich und ihre Welt wurde, desto verbissener hat die katholische Kirche an ihrer Lehre festgehalten. Sie verteidigt nach wie vor Auffassungen, die bereits vor langer Zeit durch Wissenschaft und Technik völlig haltlos geworden sind. Aus Sicht der Kirchenhierarchie würde eine Aufgabe des Zölibats und anderer Praktiken daher ein unerträgliches Zugeständnis an Rationalismus und Säkularismus bedeuten.

Es sollte nicht vergessen werden, dass wichtige Elemente der katholischen Lehre erst im neunzehnten Jahrhundert eingeführt beziehungsweise in die Lehre aufgenommen wurden, so im Jahre 1854 die Lehre von der unbefleckten Empfängnis und 1870 das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit. Die Kirche trat der geistigen Bedrohung der Aufklärung, des Darwinismus und der Moderne im Allgemeinen, der Bedrohung der sozialen Revolution (1848 gab es in ganz Europa Aufstandsbewegungen und 1871 die Pariser Kommune) und des Anwachsens der sozialistischen Bewegung entgegen, indem sie ihre Stellung festigte und sich neu bewaffnete. 1878 gab Papst Leo XIII eine Enzyklika gegen die "tödliche Plage" heraus, welche "Sozialisten, Kommunisten und Nihilisten" propagieren, die öffentlich den "Sturz jeglicher zivilen Gesellschaft" auf ihre Fahnen geschrieben hätten.

Zur Verteidigung des Zölibats trägt weiterhin der Umstand bei, dass es seit der Reformation zu den trennenden Themen zwischen der katholischen Kirche und den verschiedenen protestantischen Glaubensgemeinschaften gehört. Fiele dieses Trennende weitgehend weg, stellte sich die Frage: Was ist am Katholizismus anders?

Wie jede reaktionäre Bürokratie, vor allem eine, die über so reichhaltige Erfahrungen verfügt, spürt die katholische Funktionärskaste instinktiv, dass jede überholte Institution dann am gefährdetsten ist, wenn sie versucht, sich zu reformieren. Gäbe die Kirche das Zölibat auf, nachdem sie es Jahrhunderte erbittert verteidigt hat, könnte dies eine unkontrollierbare Krise auslösen. Wirklich reformorientierte Kritiker würden sich damit nicht zufrieden geben, und konservative Elemente würde es erzürnen und verbittern. Dann, so mögen Kirchenfunktionäre denken, ist es schon viel besser, die Realitäten des modernen Lebens zu ignorieren, Priester in eine aussichtslose Situation zu bringen und Kinder und Jugendliche zu gefährden, als die Auflösung der gesamten Institution zu riskieren.

Editorische Anmerkungen:

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von
http://wsws.org/de/2002/mai2002/kath-m02_prn.html