Der bürgerliche Staat - eine Einführung

von einer AutorInnengruppe der "Junge Linke"
05/02
 
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Die Entstehung des bürgerlichen Staates

Der bürgerliche Staat entwickelte sich in einem komplizierten Prozess, der von Land zu Land verschieden war. Das Bürgertum entwickelte sich ab dem 13. Jahrhundert aus dem Stadtbürgertum, wurde durch die merkanitilistische Politik der Fürsten(1) gefördert und wurde immer mehr ein relevanter Faktor. Doch mit der zunehmenden Entwicklung seiner Möglichkeiten (Manufakturarbeit), zeigte sich immer mehr seine Beschränkung durch den feudal-bürokratischen(2) Staat: Zunftfesseln, Ständeprivilegien, Willkür. Gleichzeitig war der vorbürgerliche Staat das Instrument einer unproduktiven Klasse (des Adels)(3), deren Erhaltung zu merklichen Steuerbelastungen führte, ebenso die Außenpolitik der Königshofe mit ihren permanenten Kriegen.

Das Bürgertum hatte bestimmte Interessen (Freiheit der Person und des Eigentums, politische Mitwirkung), die es gegen die Feudalherren durchsetzen musste. Die Formen, in der das Bürgertum an die Macht kam, waren verschieden. Aber: Der Staat wurde von der Kirche, dem Grundeigentum und der Zufälligkeit der königlichen Erbfolge getrennt(4), die Privilegien und Sonderrechte von Städten, Ständen, Zünften usw. durch ein Recht ersetzt. Diejenigen, die den bürgerlichen Staat aufbauten (Amerika), durchsetzten (Niederlande, England, Frankreich) oder maulende Nutznießer seiner Durchsetzung (Deutschland) waren, hatten ein Interesse an Kalkulierbarkeit staatlichen Handelns. Gesetze schränken die InhaberInnen staatlicher Gewalt ein, sie verpflichten auf die Allgemeingültigkeit staatlichen Handelns, verbieten Sondergesetze gegen bestimmte Personen. Historisch gesehen ist die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte, die jeder weißen männliche Bürger eines Nationalstaates(5) von Gott oder der Natur haben sollte, eine Idee des Bürgertums.

"We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness."(6)

Damit nicht schon wieder die Warenladung nach Nizza im letzten Moment beschlagnahmt wird, weil die Mätresse des Kurgrafen die Sachen lieber selber haben will, will das Bürgertum den Rechtstaat. In Amerika: Damit das Recht nicht dem Cowboy mit dem schnelleren Colt überlassen bleibt (Der Großteil aller wirklich guten Western zieht daraus seine ganze Spannung). Denn Rechtssicherheit und Kalkulierbarkeit von staatlichem Handeln sind gut für Handel und Wandel, notwendige Voraussetzung für sichere Investitionen.

"Der Verfassungsstaat will vor allem ein Rechtsstaat sein: ein Staat, welcher ganz im Zeichen des Rechts steht, dessen oberster Wille nicht Rex, sondern Lex heißt; ein Gemeinwesen, wo die Beziehungen der Einzelnen nicht nur unter sich, sondern vor allem zur Staatsgewalt durch Rechtssätze bestimmt sind, wo es also auch beim Regiertwerden nach Recht und Gesetz und nicht nach dem tel est notre plaisir der regierenden Person abgeht."(7)

Das diejenigen, die neben dem Bürgertum unter die Bezeichnung "Dritter Stand" fielen, ebenso an der Abschaffung der Adelsherrschaft interessiert waren, um Überleben zu können, heißt eben nicht, dass sie im bürgerlichen Staat tatsächlich ein Mittel für ihre Bedürfnisse hatten.
Der moderne bürgerliche Staat ist eine bürokratische Gewaltmaschinerie, die ausgestattet mit dem Machtmonopol, das sich auf Polizei und Militär stützt, die Verhältnisse in einem bestimmten abgegrenzten Gebiet durch Verwaltung und Justiz regelt. Der Wille des Staates beansprucht Suprematie(8) in seinem Gebiet - er wird formuliert im Konflikt der unterschiedlichen Fraktionen des Staatsapparates.

Freiheit & Gleichheit. Privateigentum. Menschenrechte.

Der bürgerliche Staat befreit seine BürgerInnen von allen zünftischen, ständischen und feudalen Fesseln, er emanzipiert die Bauern vom Land ihrer Feudalherren, die Handwerker vom Schutz der Zünfte und erlaubt allen, unter Achtung der Gesetze ihre Mittel zum Reichtumserwerb einzusetzen. Wer keine anderen Mittel hat, als seine Arbeitskraft, muss entweder Kleingärtner werden oder seine Arbeitskraft verkaufen. Dass die "doppelt freien Lohnarbeiter" nolens volens(9) dazu gezwungen sind und in der Regel kein Reichtum dabei rausspringt (außer durch Erbschaft, Lottogewinn oder One-night-stand mit Robert Redford), gehört dazu.

Der bürgerliche Staat macht alle Menschen vor dem Gesetz gleich - und sorgt damit und mit der Garantie des Privateigentums für den Weiterbestand der Ungleichheit. Er kennt keinen Adel und keinen König, abstrahiert von allen Unterschieden, die er nicht selbst unmittelbar herstellt (Kinder, AusländerInnen, Soldaten, Beamte usw.) Er verbietet Reichen wie Armen unter Brücken zu nächtigen und erlaubt Millionären und SozialhilfeempfängerInnen, Aktien zu kaufen. Jede Tellerwäscherin kann Millionärin werden, jede Millionärin Tellerwäscherin. Das heißt ganz klassisch, er erzeugt durch abstrakte Gleichheit konkrete Ungleichheit.

Das will vielen nicht recht in den Kopf: Denn ungleich sind die Menschen der bürgerlichen Gesellschaft ja ganz offensichtlich. Also vermuten sie Bevorzugung und Privilegien und begreifen den Unterschied zwischen feudaler und bürgerlicher Herrschaft nicht. Aus der Gleichheit, die der Staat praktiziert, machen sie ein Ideal, das der Staat / die Bourgeoisie oderwerauchimmer verraten habe und das es zu verwirklichen gelte, während die Freiheit allgemein gelobt wird, ihre ungemütlichen Konsequenzen aber als Fehler gelten.

Die Justiz des bürgerlichen Staates ist in diesem Sinne Klassenjustiz: Nicht weil die Kapitalisten immer Recht bekommen und die ArbeiterInnen vor Gericht keine Sonne sehen(10), sondern weil das Recht des bürgerlichen Staates so eingerichtet ist, dass die eine Klasse was davon hat und die andere nicht.

Die bürgerliche Gesellschaft, die aus lauter Freien und Gleichen besteht, beruht auf der privaten Verfügungsgewalt über den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums und setzt die Menschen in Konkurrenz zueinander. Sie zwingt also zur Verfolgung der eigenen Interessen auf Kosten anderer. Damit die Konkurrenz nicht mit Pulver und Blei, sondern ordentlich und auf dem Markt abgewickelt wird, muss jemand her, der sie begrenzt. Denn es tobt der berühmte "Krieg aller gegen alle", weil der Mensch dem Menschen bekanntlich ein Wolf ist, was in der bürgerlichen Gesellschaft wahr ist. Darum braucht sie eine Macht, die die Konkurrenz begrenzt, die alle Konkurrenten zwingt, unter Achtung der Person und des Eigentums anderer die Konkurrenz abzuwickeln - eben damit Privateigentum und Konkurrenz erhalten bleiben. "Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert"(11) Also: Damit der Laden nicht gegen den Baum läuft, braucht 'die Gesellschaft' den bürgerlichen Staat.

Verfassung. Grundrechte. Notstand.

Die Abwehrrechte gegen die staatliche Gewalt, die sich das Bürgertum unter Kaisern und Königen erträumte, bleiben aber auch im bürgerlichen Staat eine höchst aktuelle Idee: Denn wer garantiert, dass hinter der Fassade des "allgemeinen Interesses" nicht nur das Privatinteresse des Konkurrenten steckt? Darum darf das Privatsubjekt eben nicht der Willkür des Staates ausgeliefert sein, darum braucht es die Möglichkeit gegen staatliches Handeln vor dessen Rechtsabteilung Klage einzureichen.

Mit seiner Verfassung verpflichtet sich der Staat, alles was er tut, in Form von Gesetzen zu tun, weswegen auch kein Grundrecht im Grundgesetz steht, in das nicht "nur aufgrund eines Gesetzes" eingegriffen werden darf.

Die Verfassung selber ist immer ein geronnenes Machtverhältnis: Föderalismus / Zentralismus; Klerikalismus / Laizismus(12); Rechte der BürgerInnen / Rechte des Staats; Präsidialdemokratie / parlamentarische Demokratie / plebiszitäre(13) Elemente; Rechte von Minderheiten, Frauen etc. / homogenes Volk; Wehrdienst / Berufsarmee - all das entscheidet sich, wenn die Verfassung geschrieben wird, und ist der Stoff, aus dem die Politikwissenschaft so ihren Honig saugt. All diese Fragen hängen ebenso wie das Sozialstaatsregime, die Rechte der Gewerkschaften, das Wahlrecht, Existenz und Rolle eines Verfassungsgerichts etc. vom Kräfteverhältnis zum Zeitpunkt der Entscheidung ab. Und zwar noch mehr als die sonstigen Entscheidungen von Regierung und Parlament, weil sie tradierende Kraft haben (d. sich durch ihre juristische Festschreibung in der Verfassung reproduzieren). Diese neckischen Unterschiede lassen die verschiedenen bürgerlichen Demokratien so farbig erscheinen lassen. Bei schneller Änderung der Kräfteverhältnisse (Revolution, Militärputsch) wird deswegen in der Regel einiges geändert - manchmal sogar die Verfassung.

Das Interesse des Bürgertums, also der Klasse, die die Idee entwickelt hat, liegt auf der Hand. Der moderne Staat dient ja dem Zweck, die allgemeine Konkurrenz um den Anteil am gesellschaftlichen Reichtum aufrechtzuerhalten, also ist es logisch, dass er die Grundrechte, die die sich daraus ableiten, achtet und akzeptiert. Die Behauptung ist also, dass "die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat keinen anderen Sinn hat als die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat"(14). Sie sind also nichts dem Staat mühsam Abgetrotztes, sondern die notwendige Bedingung seiner Existenz als bürgerlich-demokratischer Staat. Sie sind das Innenverhältnis, dass der Staat zwischen sich und seinen Bürger für den Normalfall festlegt; die Art und Weise wie er den Konflikt zwischen privatem und allgemeinem Interesse austrägt. Die Formulierung "Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt", wie sie sich im Grundgesetz findet, ist erfrischend offen: Sie ist ein Bindung, also eine Fessel, die der Staat sich selbst angelegt hat - und die er bei Bedarf auch wieder abwerfen kann. Das bemerken DemonstrantInnen beim Verhalten der Ordnungshüter, die sich zwar nicht an Recht und Gesetz halten, sich aber staatlicher Kumpanei sicher sein können. Schließlich kann mensch das Grundgesetz ja nicht immer unter'm Arm tragen!

Aus seiner Funktion heraus hat der bürgerlich-demokratische Staat ein abstraktes Interesse daran, dass sein eigenes Handeln rechtsförmig geschieht. Er hat aber auch konkrete Interessen (Autobahnen bauen, Steuern kriegen, Leute einsperren), die manchmal an seinem abstrakten Interesse scheitern (darf Leute doch nicht enteignen, kann nix beweisen).
Die Rechtsabteilung des bürgerlichen Staates gliedert sich in Deutschland in drei Dezernate. Die eine sorgt für Streitigkeiten zwischen den BürgerInnen (Zivilrecht), die nächste exekutiert das staatliche Interesse am Wohlverhalten (Strafrecht) und die dritte überwacht das staatliche Handeln auf seines Gesetzes- und Verfassungskonformität (Verwaltungsrecht mit dem krönenden Verfassungsrecht). Dieses dritte Dezernat ist die Garantie dafür, dass der Staat bei der Verfolgung seiner konkreten nicht sein abstraktes Interesse verletzt; er ist der selbst umgebundene Maulkorb des Staates - was nicht heißen soll, dass der Rechtsstaat nicht auch schon heute kraftvoll zubeißen kann (Metaphern sind eben nur Metaphern). Gleichzeitig ist die Rechtswegegarantie und das 'dritte Dezernat' auch die Garantie dafür, dass die InhaberInnen staatlicher Gewalt mit ihrem Handeln nicht ihr Interesse als Privatsubjekte verfolgen, also dem ekligen Nachbarn die Baugenehmigung verweigern, Tante Guste den lukrativen Staatsauftrag zuschanzen und für jeden Stempel erst mal Provision sehen wollen. Dergleichen Zustände sind nämlich unerquicklich und jucken den Staat durchaus - auch wenn das Korruptionsgeschrei im Großen und Ganzen lächerlich ist.

Das Verhältnis des Staates zu den von ihm gewährten "Abwehrrechten" ist ambivalent. Grundsätzlich bejahen in der BRD die InhaberInnen staatlicher Gewalt, vom Bundeskanzler bis zum Verwaltungsbeamten im Finanzamt, den "Rechtsstaat" und damit auch die "Grundrechte". (Das nimmt der Staat auch durchaus genau: Deshalb ist Staatsdienst auch einer, der Verfassungstreue verlangt, notfalls auch vom Lokführer(15)). Andererseits empfinden sie die Grundrechte und überhaupt die Notwendigkeit, sich an viele Gesetze und Ausführungsbestimmungen zu halten, die ihren Entscheidungsspielraum einschränken als im hohen Maße lästig. Zudem machen sich vor allem Konservative Sorgen, wie der Staat denn seine Aufgaben noch erfüllen soll, wenn er gar nix mehr darf: Datenschutz ist Täterschutz!
Nicht jedem nutzen die Grundrechte was. Die "Unverletzlichkeit der Wohnung" hat noch keine/n Obdachlose/n davor bewahrt, von Bullen oder Schwarzen Sheriffs eingesackt (und verprügelt) zu werden. Als Sozialhilfeempfänger/in nützt einem die Reise- und Bewegungsfreiheit auch nicht so furchtbar viel, für Arbeitslose ist das Koalitionsrecht eine ziemlich unspannende Sache.
In diesen Grundrechten stecken allerdings auch ein paar handfeste Zumutungen: Das Recht auf Koalitionsfreiheit Art.9 (3) hat das Lohnsystem, das Recht auf KDV Art.4 (3) das Militär zur Voraussetzung(16), und das alte oder neue Recht auf Asyl (Art 16 bzw. 16a), besagt ja, dass ohne einen für den Staat triftigen Grund eine/r ohne deutschen Pass in Deutschland nix zu suchen hat(17). Zusätzlich das Recht auf Eigentum (Art. 14), das dafür sorgt, dass die einen ihre Arbeitskraft verkaufen und andere sie aufkaufen. Dann gibt es im Grundrechtskatalog auch die richtigen Gemeinheiten: Den Schutz von Ehe und Familie (Art. 6), die Schulpflicht (Art. 7), die Wehr- und Dienstpflicht (Art 12a) und die Einschränkung von Grundrechten (17a). Wo's langgeht hat der Staat in Art. 18 (Verwirkung von Grundrechten) klargezogen: Wenn mal jemand die "Abwehrrechte gegen den Staat" zu dem benutzt, wozu sie angeblich da sind, nämlich zum Abwehren, kann es durchaus sein, dass er/sie sie als "Staatsfeind" wieder aberkannt bekommt.
Für den Fall seiner Bedrohung hat sich der deutsche Staat Mitte der 60er Jahre eine ganze Menge einfallen lassen: Die sog. Notstandsgesetze. In denen ist geregelt wie bei inneren Unruhen oder Angriff von Außen die Staatsmacht verfahren kann. Die Ausübung der Staatsgewalt emanzipiert sich dann von der Verfassung. Das Verfahren zur Entscheidungsfindung wird verkürzt und vereinfacht, die Exekutive nimmt sich manche Freiheit heraus. Die Grundrechte müssen sich dann ganz schöne Einschränkungen gefallen lassen - das regeln im Detail die Sicherstellungs- und Bewirtschaftungssgetze. Dann noch demokratischer Rechtsstaat zu sein, will sich dieser Staat nicht mehr leisten, wenn er anders der Sache nicht Herr wird.

Ursprünglich geschaffen worden sind sie allerdings weniger aus Angst vor APO, also als präventiver Konterrevolution, sondern zur Vollendung deutscher Souveränität. Denn mit den Notstandsgesetze fielen die letzten alliierten Vorbehaltsrechte. Interessiert am rechtsförmigen Vollzug der Abwehr der Gefährdung war in erster Linie die deutsche Sozialdemokratie, die heftige Sorge hatte, dass eine Ausnahmesituation von anderen für unlautere Sachen genutzt werden könnte. "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt", meint der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt. Und daran, wer hierzulande der Souverän ist, lässt dieser Staat keinen Zweifel aufkommen. Dass ein Rechtsstaat auch ohne Grundrechte auskommt, zeigt die Notstandsverfassung der BRD ganz deutlich! Ähnliches leisten sich auch andere Staaten - mit oder ohne Verfassungsgrundlage.

Exkurs: AusländerInnenrecht

Vor dem Gesetz sind zwar alle gleich - aber eben nur die BürgerInnen des Staates. Gegen die Untertanen anderer Staatsgewalten hat dieser Staat ein heftiges Misstrauen: Denn er weiß, dass seine Konkurrenten sich ebenso auf die Loyalität ihrer BürgerInnen verlassen (können) - und gegen Leute, die ihrem Staat gegenüber nicht loyal sind, hat er noch größeres Misstrauen (was müssen das für Leute sein, die ihrem Staat den Dienst verweigern?). Darum legt er Leute mit einem andern Pass im Regelfall Beschränkungen jedweder Art auf, weil er sie erst mal im Verdacht hat, andere als seine Interessen zu verfolgen. An jedem Menschen, der in die BRD will, exekutiert der deutsche Staat sein Verhältnis zum Herkunftsland. Freunde und Verbündete sind herzlich willkommen - außer natürlich Gruppen, in deren Verurteilung sich beide Staatsgewalten völlig einig sind (KommunistInnen, DealerInnen und andere böse Leute). Bei Flüchtlingen lässt der Staat überprüfen, ob das Handeln des anderen Staates es rechtfertigt, sich mit ihm in Clinch zu begeben - und durch die saumäßige Behandlung, die sie sich gefallen lassen und die Suspendierung fast aller Grundrechte haben sie noch den Beweis anzutreten, dass es ihnen mit ihrer Flucht echt ernst ist. Dass es sich die deutsche Staatsmacht manchmal nicht nehmen lässt, auch befreundeten Staatsgewalten zu pieksen, ist kein Parteinahme für verfolgte Menschen. Sondern die Klarstellung, dass der deutsche Staat es sich leisten kann, auch Freunde zu kritisieren. Dass alle Menschen, die gleichen unveräußerlichen Rechte haben, fällt diesem Staat höchstens als Begründung einer ordentlichen Feindschaftserklärung ein, wenn irgendwo Dinge passieren, die dem Staat nicht passen. Ansonsten gelten Grundrechte - wenn überhaupt - nur für Deutsche.

Citoyen(ne) - Bourgeois(e). Abstrakt freier Wille. Gesellschaftsvertrag.

Die BürgerInnen des bürgerlichen Staates sind zwei Menschen gleichzeitig: Sie sind auf der einen Seite Citoyens, Staatsbürger, auf der anderen Seite Bourgeoises, Privatsubjekte. Als solche wollen sie entgegengesetztes.

Der Staatsbürger ist für den Staat, weil die von diesem eingerichteten Verhältnisse ohne ihn verdammt ungemütlich wären. Der Staat ermöglicht die Konkurrenz durch ihre Beschränkung, darum halten so viele ihn für ihr Mittel. Das Privatsubjekt will (weil's muss) soviel Reichtum wie möglich anhäufen, und empfindet die Gesetze, die ihm den Respekt von Person und Eigentum anderer abverlangen, als Beschränkung.

Insoweit ist der bürgerliche Staat der verselbständigte abstrakt freie Wille seiner BürgerInnen: Sie können ihren freien Willen nur ausleben, weil der Staat ihm Grenzen setzt. "Seines Vorteils wegen will der Bürger das Recht, das ihm zugleich als Beschränkung entgegentritt; mit seinem Nutzen muss er zugleich also auch seinen Verzicht wollen: Moral. Er rechtfertigt seine Unterwerfung unter die Gewalt, die ihm schadet, mit dem Ideal dieser Gewalt und ergänzt dem ihm auferlegten Zwang durch seine Tugend."(18)

Der bürgerliche Staat kann das nur, weil er über der Gesellschaft steht, mit keinem besonderen Interesse von Gesellschaftsmitgliedern identisch ist - und wo er in der Lage ist, seinen Willen auch durchzusetzen.

Anekdote:

In dem Film "Mit mir nicht, meine Herren" (USA 1959, mit Jack Lemmon und Doris Day in den Hauptrollen) gibt es eine kleine Sequenz, die ihren ganzen Witz aus dem Zwiespalt von Citoyen und Bourgeois zieht: In der kleinen Stadt in Maine wählt alljährlich die Versammlung den Bürgermeister und beschließt über die öffentlichen Ausgaben. Der bisherige Amtsinhaber besitzt auch gleichzeitig den wichtigsten Laden des Ortes, lässt aber die kaputte Parkuhr vor seinem Laden nie reparieren, damit die Leute bei ihm einkaufen. Auf der Bürgerversammlung wird der Antrag gestellt, Geld für die Reparatur dieser Parkuhr zu bewilligen. Eine Rednerin steht auf, geißelt das durchsichtige Interesse des bisherigen Bürgermeisters an der kaputten Parkuhr vor seinem Laden, um dann wie folgt zu argumentieren: Da alle bei ihm einkaufen, müsste jeder dann tatsächlich Parkgebühren bezahlen und die Versammelten würden Geld aus ihren eigenen Portemonnaies in die Stadtkasse leiten. Die Versammlung lehnt den Antrag, die Parkuhr zu reparieren, ab.

Ihre Legitimation leiten bürgerliche Staaten in der Regel aus einem Gesellschaftsvertrag, den irgendwer irgendwo angeblich mal geschlossen haben soll. Dieser Vertrag existiert nirgendwo wirklich, aber wahr wird er als Ordnung des Zusammenlebens, als die gesellschaftliche Praxis der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden und die sie durch ihr Verhalten selbst immer wieder reproduzieren. Dadurch wird der Staat nötig, der die Verhältnisse einrichtet. Gegeben hat es den "Naturzustand", der angeblich vorher geherrscht haben soll, natürlich nie. Aber das wissen auch (fast) alle: "Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben [Oberherrn - Anm. v. m.] (pactum subiectionis civilis) als ein Faktum vorhergegangen, oder ob die Gewalt vorherging und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünftelein."(19)

Ideeller Gesamtkapitalist - "ideeller Gesamtbourgeois". Nationalstaat. "Staatsmonopolistischer Kapitalismus".

Aber: Der bürgerliche Staat macht das alles nicht aus Jux und Dollerei. Als Nationalstaat befindet er sich in politischer Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten: Um Macht, Territorium, Prestige. Durch diese Staatskonkurrenz hat der Staat ein notwendiges Interesse daran, dass die bürgerliche Gesellschaft am Laufen bleibt, dass die Wirtschaft floriert und das Menschenmaterial halbwegs im Schuss ist. Dadurch vertritt er (ganz egoistisch) jenes allgemeine Interesse, dass aus der Verfolgung der Sonderinteressen der Bürger nicht entsteht. Sein Ziel (gut dastehen in der Staatenkonkurrenz) sorgt im Regelfall dafür, dass er seinen Zweck erfüllt. So wird er zum "ideellen Gesamtkapitalisten".

Er wird dies umsomehr, als dass eine florierende Wirtschaft nicht nur Voraussetzung, sondern auch ein notwendiger Bestandteil nationalen Erfolgs ist: Ohne eine eigene Industrie lässt sich z.B. kein Krieg führen, je größer die Abhängigkeit von den Produkten anderer Nationalökonomien ist, umso problematischer sind Differenzen mit den jeweiligen Staatsmächten etc. Aber auch: Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit sorgen - zumindest klassisch - für eine gewisse Instabilität, d.h. eine Einschränkung der Möglichkeiten einer Regierung. (Gegenläufige Tendenz ist freilich, dass im Falle eines Krieges, die Staatsbürger sich brav hinter ihrer Regierung versammeln und keine Parteien mehr kennen, was zumindest beim Falkland-Krieg bei beiden Kriegsparteien eine Rolle gespielt hat.)

Hat also ein Staat das Eigentum an Produktionsmitteln - das er durch seine Gesetze und Gewalt garantiert - anerkannt, muss er die Notwendigkeiten, die sich daraus ergeben, als Sachzwänge zur Kenntnisse nehmen. Und das heißt die Interessen des Kapitals vorrangig zu bedienen. Ob er das nun will oder nicht. (Meistens will der bürgerliche Staat das aber sowieso.)
Dies ist die Erklärung, warum der bürgerliche Staat der Staat des Kapitals ist. Nicht, weil die Bourgeoisie in allen Staatsfunktionen sitzt, denn das ist erstens gar nicht wahr und würde zweitens bedeuten, dass mensch nur ein paar ArbeiterInnen wählen muss, damit der Staat sich in einen Pfadfinderverein voll Güte und Liebe für das Menschengeschlecht verwandelt. So passiert es ja bekanntlich, sobald Sozialdemokraten den Staat lenken.

Auch nicht, weil die Politiker alle bestochen wurden. Das haben die meisten Kapitalisten nämlich höchstens dann nötig, wenn sie eine tatsächliche Interessenkollision mit dem Staat haben. Das passiert selten, weil die Ökonomie Mittel des Staates ist, wie sich auch die Kapitale des Staates als Mittel bedienen, wenn es denn geht. Auch dass angeblich "die Macht der Monopole mit der Macht des Staates verschmolzen ist im Interesse höchster Monopolprofite und der Absicherung der Herrschaft des Finanzkapitals"(20), ist weder richtig, noch die Erklärung. Die Internationalisierung des Kapitals lässt die Vorstellung, die nationale Staatsführung und das Monopolkapital (buuh, wie gruselig) seien verschmolzen, eher absurd wirken. Und dass die Politiker allesamt Beraterverträge haben, und der BDI und der BDA genau so wie die Kirchen, Gewerkschaften, und der Schrebergartenverband ihren Senf zu den Gesetzesvorlagen geben, von denen sie glauben, dass sie sie angehen, und zudem im seltensten Fall Sozialismus wollen, ist keine Erklärung. Weil die Kapitalinteressen Teil des Staatsinteresses sind, bedient der Staat sie, nicht aus Schwäche, nicht aus Korruption, und nicht aus Langeweile. Und darum ist die 'Lobby-Arbeit' des Kapitals so ungleich erfolgreicher, als die des Zentralrats der Roma und Sinti.

Außerökonomische Macht. Organisation der Reproduktion.

Der bürgerliche Staat ist kein Unternehmen, er muss keinen Profit machen und hat das auch überhaupt nicht vor. Er verwaltet im Gegenteil die Grundlagen des Geschäfts, mit denen selbst kein Geschäft zu machen ist und entzieht bestimmte Bereich der Gesellschaft ganz konsequent der Profitmacherei und der Konkurrenz.

Er zwingt das Kapital, den Arbeitstag zu begrenzen, bestimmte Schutzvorschriften einzuhalten und nicht mit jedem Gift die mitmenschliche Umwelt zu erfreuen.

Der Staat stellt Ehe und Familie unter seinen besonderen Schutz. Die gnadenlose Konkurrenz der Individuen wird ergänzt durch die Ehe, wo zwei Menschen ihre feindliche Stellung zueinander aufgeben und ganz eins werden. Für den Fall des Zerfalls der Zugewinngemeinschaft, der sich wie die Gründung nur mit staatlicher Erlaubnis abspielen darf, hat der Staat das Scheidungsrecht entwickelt. Den Grund seiner Begeisterung für die Hetero-Zweierkiste plus Gören hat das Deutsche Reich 1919 sogar in seine Verfassung geschrieben:

Art. 119
Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates.
Art. 120
Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht.

Hier ist auch die Erklärung, warum der Staat Homosexualität doof findet, sich für Prostitution nicht begeistern kann und die Jugend vor Pornographie, aber nicht vor Rambo beschützt. Oder warum er alleinstehende Mütter im Verdacht hat, sich nicht genügend um Kinder zu kümmern, wie sich auch manch warmherzigen Gesetzes zum Mutterschutz und zur Frauennachtarbeit dadurch erklären lässt: Um den Nachwuchs geht's ihm. Denn der ist für die Eltern eine finanzielle Belastung, der neben Geld auch noch Zeit, die ja auch Geld ist, kostet. Die Nachwuchsproduktion hält die BRD - ganz parteiübergreifend - in der üblichen Kleinfamilie für am besten gewährleistet. Andere Formen, sexuell aktiv zu sein, sind da höchstens als Vorbereitung oder Notlösung akzeptiert. Die Schützenhilfe der Kirchen bei der Verbreitung der entsprechenden Moral versilbert der Staat ihnen durch manches Privileg. (Anders Staaten, die ein großes Reservoir an 'überflüssigen Menschen' haben: Da wird Verhütung ganz groß geschrieben.)

Die Sorge um das Staatsmaterial, ohne das weder Staat noch Kapitalismus gehen, hat ihn zu einigen Leistungen gebracht: Wo Eltern ihre Kinder als Reichtumsquelle benutzen wollen, schaltet er die Fürsorge ein und schickt sie notfalls ins Waisenhaus. Damit Eltern und Kapitalisten gar nicht erst auf die Idee kommen, verbietet er erstens Kinderarbeit und richtet zweitens die Schule als Pflichtanstalt ein. Die wiederum qualifiziert die angehenden Staatsbürger für den zukünftigen Dienst am fremden Reichtum bzw. am Staat und sortiert schon mal vor, wer was in Zukunft gewisslich nicht wird.

Er sorgt dafür, dass es ein funktionierendes Verkehrs- und Nachrichtenwesen(21) gibt, dass die Wissenschaft auch getrennt von den speziellen Interessen der Unternehmen getrieben wird und dass es eine ausreichende Anzahl von Leuten gibt, die können, was von den Kapitalisten so nachgefragt wird.

Als Sozialstaat erhält er die industrielle Reservearmee am Leben, gibt aber durch seine Verwaltung der Armut allen einen guten Grund, lieber malochen zu gehen.
Der Staat hält sich darüber hinaus ein Militär, mit dem er Politik macht und zu dessen Ausrüstung er jede Menge Sachen kaufen muss, die sonst zu nix zu gebrauchen sind. Ein teures, aber keineswegs sinnloses Vergnügen: Die Kriegsdrohung steht hinter aller Diplomatie, mit der der Staat seinen Willen und seine Interessen durchsetzt. Bei der Zurichtung anderer Staaten zum lukrativen Geschäftsfeld des eigenen Kapitals gibt es des öfteren Konflikte, die manchmal in ganz unlukrativen Kriegen (für den Staat) münden. In Sachen nationaler Ehre und des internationalen Mitmischens sind Staaten ziemlich prinzipiell. Darum sind deutsche Textilfabriken in Kroatien/Serbien/Bosnien auch eine ganz blöde Erklärung für den Wunsch der BRD im Jugoslawien-Krieg mitzuballern und für die einseitige Parteinahme gegen Serbien.
All seine Leistungen in der Gewährleistung von Konkurrenz und Ausbeutung erscheinen als Schutz der Leute vor dem Profitprinzip, das als verwerflich zu betrachten alle frühzeitig gelernt haben. Darum dichten ihm linke Staatsbürger gerne eine Menge Aufgaben an (in Sachen Minderheiten, Wale, Frauen, Blumen), die eigentlich wenig mit dem zu tun haben, wozu er da ist. SozialistInnen und KommunistInnen würden ihn gerne in eine Arbeiterbeglückungsanstalt verwandeln, Sozialdemokraten haben ihn - nach ihrer eigenen Meinung - schon in eine solche verwandelt, was Konservative, Kapital und Krise jetzt wieder kaputt machen.
Wiederum andere entdecken in ihm den Sachwalter der Ideale: Gerade weil die Bourgeoisie "den heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt" und "alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet"(22) hat, will sie den Staat als Agent von Volk und Vaterland sehen. Die "Kälte des Subjekts" (Adorno) weckt bei manchen die Sehnsucht nach dem heimeligen Lagerfeuer der Nation, nach gestrengen Landesvätern (Familie!) und einem Staat, mit dem mensch sich auch wirklich identifizieren kann und Idealen, wie sie die Jugend ja heute nicht mehr hat! Gemeinschaft und Werte stehen auch in der Demokratie hoch im Kurs, während Individualismus und Interessen ein bisschen verpönt sind.

Demokratie. Faschismus. Gemeinwohl.

Generell hat der Staat sein Menschenmaterial im Verdacht, sich zu sehr ums eigene und zu wenig ums allgemeine Wohl zu kümmern. In den Politikerreden taucht dies als der Hinweis, wer Rechte habe , müsse aber auch Pflichten hinnehmen, als Kritik am Versorgungs- und Anspruchsdenken, als Aufforderung mal den mit dem "Freizeitpark Deutschland" aufzuhören usw. blablabla auf. Darum ist der Staat gegen eine zu weitherzige Auslegung der Grundrechte. Je mehr sie von den Individuen die Hintanstellung ihrer Interesse hinter die des Staates/ der Nation/ der Gesellschaft/ der Allgemeinheit(23) verlangen, umso weniger haben sie für die Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat übrig. (Und umso weniger finden sie den rechtsförmigen Vollzug staatlicher Gewalt interessant.)

Demokraten wollen dabei den Kompromiss der verschiedenen Gruppen, die da die Gesellschaft bilden. Im heiteren Konfligieren der verschiedenen Interessen kommt zum Schluss der große Kompromiss heraus, den alle (oder fast alle) mittragen. Dazu muss der Staat verschiedene Interessengruppen hin und wieder ermahnen, auch ans Gemeinwohl zu denken. Die Stabilität einer solchen Ordnung, die sich auf die Zustimmung der BürgerInnen gründet und darum auf sie verlassen kann, gilt allenthalben als unschlagbares Argument. Armut und Elend gelten als schlechte Grundlage einer solchen anspruchsvollen Regierungsform, wo alle sowohl ihr eigenes, als auch das allgemeine Interesse im Auge haben müssen. Soviel Verantwortung ist für manchen Hungerleider zuviel, die Wahl von sozialdemokratischen Nationalisten insbesondere in Lateinamerika und Afrika galt in der Zeit des Kalten Krieges als Zeichen demokratischer Unreife.
Da Freiheit wichtiger ist als Demokratie (Friedrich Hayek) kümmerten sich CIA, BND oder die GIs um das Problem. “Ich weiß nicht, warum wir zusehen sollen, wie ein Staat kommunistisch wird, nur weil die Bevölkerung verrückt spielt", wie der damalige US-Außenminister Henry Kissinger 1971 so richtig bemerkte. Staaten, die sich - mit oder ohne Zustimmung ihrer Bevölkerung - ganz vom Privateigentum verabschiedeten und ihr Glück in einer Staatswirtschaft (die sich zumeist „Sozialismus“ nannte) suchten, sagte der freie Westen noch ganz anders den Kampf an.
Allerdings ruft die bürgerliche Demokratie immer wieder besorgte KritikerInnen auf den Plan. Sind die BürgerInnen mündig genug? Ist das politische Personal in der Lage, "unpopuläre Entscheidungen" zu treffen? Ist eine Führung, die von der Zustimmung ihrer Gefolgschaft abhängig ist, nicht immer zu schwach? Parteien werden des öfteren - ganz zu unrecht - als VertreterInnen von bösen, bösen Einzelinteressen ausgemacht, PolitikerInnen wollen wiedergewählt werden, und machen darum ganz verantwortungslose Sachen!

Faschistische Kritik an der Demokratie im Namen der Demokratie ist ein Dauerbrenner. Wobei es dann schon schwierig wird, eine solche Kritik von einem Eintreten für eine andere Sorte politischer Herrschaft noch zu unterscheiden.

Rätsel: Wer hat das gesagt?

"Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu vieles nur ums Geldverdienen dreht. Es gibt Wichtigeres im Leben des Einzelnen wie auch im Leben der Nation."

Und das?

"Der Staat ist kein Mittel zu gegenseitigen Begaunerei".(24)

Faschisten ziehen aus dieser Kritik ihre harschen Konsequenzen: Die Nationenkonkurrenz ist ein Krieg, darum ist der Ausnahmezustand der Normalzustand. Wahlen und Parteien sind schädlich und gehören ebenso abgeschafft wie der Klassenkampf. Da der Staat die "Zusammenfassung physisch und psychisch gleichartiger Lebewesen" (Adolf Hitler), kommen Differenzen zwischen besonderem und allgemeinen Interesse nur durch schädlichen Individualismus und mangelnde Opferbereitschaft zustande: Du bist nichts, Dein Volk ist alles.

Die Konkurrenz um den gesellschaftlichen Reichtum wird Staatsdienst, der Bourgeois wird in den Citoyen aufgelöst. Auch das Kapital wird an die Kandare genommen, was diesem finanziell nicht schlecht bekommen ist... Auf Verfassung und Grundrechte ist dabei geschissen, weil eine Volksgemeinschaft derartiges nicht braucht: Der Führer schützt das Recht. Auch wenn sich weiterhin alles durch Gesetze vollzieht, sieht es mit der Kontrolle eher dünn aus.


Anmerkungen

(1) Gerade die absolutistischen Fürsten förderten so das Bürgertum (in Frankreich und im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation); die beiden Prototypen der kapitalistischen Entwicklung im 16. und 17. Jhdt., England und die Niederlande, zeichnen sich aber gerade durch das Fehlen einer absolutistischen Fürstengewalt aus. Inwieweit diese Länder durch ihre Politik die kapitalistische Durchdringung des Rests der Welt starteten und bestimmte Politik der noch feudal-bürokratischen Staaten erzwangen - das ist hier nicht zu untersuchen.
(2) feudal-bürokratisch werden in diesem Text einfach alle Staaten genannt, die die Übergangsform vom mittelalterlichen Feudalstaat' zum bürgerlichen Staat bilden: Adel, König und Kirche sind noch mit der Staatsmacht real verbunden, die Bürokratie hat ein starkes Gewicht, die kapitalistische Entwicklung wird durch den Staat zwar gefördert, aber auch begrenzt, um dem Bürgertum nicht zuviel Macht einzuräumen. Eigentlich ist diese Übergangsform noch in verschiedene Typen aufzuspalten und der Begriff "feudal-bürokratisch" zu unscharf.
(3) in dieser moralischen Kritik am Adel als faul und verschwendungssüchtig, wie sie sich z.B. auch im Märchen Drosselbart findet, und auch in den Schriften vom Vorabend der französischen Revolution, hat der bürgerliche Arbeitsmythos seine Grundlage.
(4) bzw. diese wurde bedeutungslos, weil die Krone nur noch repräsentative Aufgaben bekam.
(5) das war gemeint, wenn von "Menschen" die Rede war
(6) Declaration of Independence, zit. n. The book of great american documents, hrsg. von Vincent Wilson, Maryland 1993. "Wir halten folgenden Wahrheiten für keines weiteren Beweises bedürftig: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass darunter sind, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück".
(7) Deutsches Staatsrecht in der Enzyklopädie von Holßendorf-Kohler Bd. II, 1904. S. 593. zit. n. Schmitt, Carl: Nationalsozialismus und Rechtsstaat. In: Juristische Wochenschrift Heft 12/13, 24/31.3.1934, S.715
(8) umfassende Geltung, Vorherrschaft
(9) ob sie wollen oder nicht
(10) derartig ständische Überbleibsel gibt's auch, dazu seien unter anderem selbstkritische Diskussion auf dem vorletzten Deutschen Richtertag in Erinnerung gebracht, die die Ungleichbehandlung von ärmeren und reicheren Angeklagten problematisierten, oder die bürgerliche Norm der "geordneten Lebensverhältnisse", die dann eine günstige Sozialprognose und Bewährungsstrafen nach sich ziehen.
(11) Der bürgerliche Staat. [Die Staatsanalyse der MG], München: Resultate - Verlag 1980
(12) Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften zu einander.
(13) Plebiszit: Volksabstimmung
(14) Marx/Engels: Die heilige Familie. MEW Band 2, S.120
(15) als die Bundesbahn noch Staatsbesitz war...
(16) Ironischerweise haben die Macher des GG das Recht auf KDV hineingeschrieben, bevor es eine deutsche Armee gab. War dies weise Vorausschau - oder ging es, wie viele PolitologInnen vermuten, auch bei diesem relativ menschenfreundlichen Artikel nur darum, deutsche Soldaten vor dem Dienst in alliierten Heeren zu 'schützen'?
(17) triftiger Grund sind: Sportler/in oder Wissenschaftler/in sein, Bürger/in eines befreundeten Landes sein (EU), Kapital haben oder Dienst als Soldat einer befreundeten Armee hier zu tun. Konjunkturabhängig ist eben die Infragestellung der Souveränität eines anderen Staates durch Asylgewährung oder die Verwendung als sogennante/r "Gastarbeiter(in)".
(18) Der bürgerliche Staat. [Die Staatsanalyse der MG]. Resultate Nr. 3, S.27.
(19) Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangs-gründe der Rechtslehre. In: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie. Berlin (DDR): Akademie-Verlag 1988, S.133
(20) Grundwissen für junge Sozialisten [Schulungsbuch der SDAJ]. Dortmund: Weltkreis-Verlag 1980, S.145.
(21) Zu einigen Zeiten und an einigen Orten hat er das selbst betrieben. Aber seine Garantie der Existenz dieser Notwendigkeiten beißt sich gar nicht mit profitabler Privatverwaltung. Denn auch weiterhin muss die Post jedem die Briefe bringen und die Telekom jedem ein Telefon geben. Und auf Fernsehen und Rundfunk passt der Kanzler ganz persönlich auf.
(22) Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Band 4, Berlin (DDR): Dietz 1972, S. 465
(23) je nach Parteibuch und politischer Weltanschauung
(24) Das erste Zitat ist aus “Weil das Land sich ändern muss” von Helmut Schmidt, Gräfin Dönhoff, Edzard Reuter et al. Das andere ist vom Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs von 1934 - 45 in seinem Früh-, Erst- und Einzelwerk “Mein Kampf” sinngemäß geschrieben worden.
 

Editorische Anmerkungen:

Dieser Text erschien 1996 als Artikel in einem Rundbrief der Jungen Linken mit dem Titel  "Hoch die ... Nieder mit...!" und ist eine Spiegelung von
http://www.junge-linke.de