Die politischen Lehren aus den Präsidentschaftswahlen in Frankreich

von Peter Schwarz
05/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Frankreich hat eine lange historische Tradition als Land des revolutionären Handelns. Die Französische Revolution 1791-1795 eröffnete die Epoche der bürgerlichen Revolutionen auf dem europäischen Kontinent. In den Jahren 1831, 1848 und wiederum 1968 leitete Frankreich Wellen revolutionärer Erhebungen ein, die über ganz Europa schwappten.

Doch während die französischen Massen in ihrer revolutionären Energie und ihrem Tatendrang unübertroffen sind, wurden die theoretischen und politischen Lehren aus diesen Kämpfen häufig woanders gezogen und umgesetzt. Allgemein kann man sagen, dass den politischen Lehren aus den Ereignissen in Frankreich immer eine gewaltige internationale Bedeutung zukam. Ohne die Französische Revolution wären die Lehren von Marx und Engels, und selbst die von Hegel, undenkbar gewesen. Ohne die Pariser Kommune von 1871 hätte es keinen erfolgreichen Oktober 1917 in Russland gegeben.

Etwas Ähnliches kann über die Ereignisse gesagt werden, die Frankreich in den letzten zwei Wochen erschüttert haben. Wenn die Lehren aus diesen Ereignissen korrekt gezogen und verstanden werden, dann werden sie die Grundlage für zukünftige Kämpfe auf einem viel höheren politischen Niveau bilden, nicht nur in Frankreich sondern in der ganzen Welt. Sie haben eine Bedeutung, die über die französischen Staatsgrenzen weit hinausgeht, und beinhalten wichtige politische Lehren für die internationale Arbeiterklasse.

Politische Ereignisse in Frankreich erinnern oft an einen Vulkanausbruch. Über Jahre hinweg bleibt es an der Oberfläche ruhig. Dann plötzlich kommt es zu einer explosiven Eruption. Geologen wissen, dass das Ausmaß solcher Eruptionen das Resultat der Spannungen ist, die sich über einen längeren Zeitraum unter der Oberfläche aufgebaut haben ohne ein Ventil zu finden.

Die Präsidentschaftswahlen 2002 schienen eine überaus langweilige und ereignislose Angelegenheit zu werden. Jeder ging davon aus - und die Meinungsumfragen bestätigten diese Annahme -, dass die Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen dem Amtsinhaber Jacques Chirac und dem amtierenden Premierminister Lionel Jospin stattfinden würde, die, obwohl sie aus verschiedenen politischen Lagern kommen, in den vergangenen fünf Jahren recht harmonisch zusammengearbeitet hatten. Ihre Wahlprogramme waren sich so ähnlich, dass bei einer Umfrage drei Wochen vor der Wahl 70 Prozent der Befragten keinen Unterschied erkennen konnten.

Am Abend des 21. April jedoch, kurz bevor die Wahllokale schlossen, machte in den Medien ein Gerücht die Runde, dass Jean-Marie Le Pen, der Kandidat der Nationalen Front, eine Rede vorbereite. Alle wurden aufmerksam. Um 8 Uhr bestätigten die Umfrageergebnisse - die im Allgemeinen ziemlich akkurat sind - den ersten Verdacht: Jean-Marie Le Pen hatte Lionel Jospin, den Kandidaten der Sozialistischen Partei, geschlagen und würde in der zweiten Runde gegen den Gaullisten Jacques Chirac antreten. Statt der üblichen Wahl zwischen einem Kandidaten des rechten Flügels und einem Kandidaten des linken Flügels des bürgerlichen Establishments hatten die Arbeiter überhaupt keine Wahl - sie sollten sich zwischen einem direkten Vertreter der Großunternehmen und einem offenen Faschisten entscheiden.

Innerhalb weniger Stunden zogen Tausende Jugendliche auf die Straßen, um gegen diesen Zustand zu protestieren. Am nächsten Tag schlossen sich ihnen andere Teile der Bevölkerung an, die ihre Opposition gegen Le Pen und seine faschistische Ideologie zum Ausdruck brachten. Die Demonstrationen wuchsen von Tag zu Tag und erfassten das ganze Land. Erst waren es Zehntausende, dann Hunderttausende und am 1. Mai zwischen zwei und drei Millionen, die auf die Straße gingen.

Das Wahlergebnis enthüllt eine tiefe politische Krise

Eine Analyse des Wahlergebnisses zeigt, dass die Wahlen nicht der eigentliche Grund sondern lediglich der Auslöser für diese gewaltige Manifestation von Unzufriedenheit in der Bevölkerung waren. Die Ergebnisse enthüllen eine scharfe Polarisierung der französischen Gesellschaft und eine tiefe Krise des gesamten politischen Establishments und der politischen Institutionen.

Die beiden Hauptkandidaten Chirac und Jospin erhielten gemeinsam nur die Stimmen von einem Viertel der Wahlberechtigten. Ein Drittel der Wahlberechtigten blieb den Urnen fern, und von denen, die zur Wahl gingen, stimmten 20 Prozent für einen Kandidaten der extremen Rechten, während 10 Prozent einen der linken Kandidaten wählten, die sich selbst Trotzkisten nennen. Der Rest der Stimmen entfiel auf die Kandidaten, die entweder zu Jospins oder Chiracs Lager gehörten.

Das Chirac-Lager als Ganzes hat im Vergleich zur ersten Runde der letzten Wahlen im Jahre 1995 insgesamt vier Millionen Stimmen verloren. Das Jospin-Lager als Ganzes verlor anderthalb Millionen Stimmen. Dieses Zerbröseln der Unterstützung für die traditionelle Rechte und Linke ist Ausdruck eine tiefen Unzufriedenheit der Wählerschaft mit denjenigen, die das Land in den vergangenen zwanzig Jahren in verschiedener Zusammensetzung regiert haben. Es ist ein Hinweis auf eine tiefe Entfremdung zwischen der Masse der Bevölkerung und dem politischen Establishment.

Le Pen verdankt seinen Erfolg zweifellos seiner Fähigkeit, diese Unzufriedenheit auszunutzen. Er bemühte sich sehr darum, sich als den einzigen Kandidaten zu präsentieren, der gegen das, wie er es nennt, "System" kämpft.

Seine Wahlerklärung, die jedem Haushalt des Landes kostenlos zugesandt wurde, war zurückhaltend in Bezug auf seine traditionellen Themen Fremdenhass und Rassismus, versuchte aber in jeder Hinsicht an die Unterdrückten, die Erniedrigten, die Ausgeschlossenen, die kleinen Leute zu appellieren. Er beschuldigte Maastricht, Brüssel und den Euro für die soziale Misere und jedes politische Übel der französischen Gesellschaft und trat für eine Rückkehr zur isolierten französischen Nation als einzigem Heilmittel ein.

Le Pen behielt seine Unterstützung in den alten Hochburgen der Nationalen Front im Süden und Osten des Landes, wo scharfe soziale Spannungen in heruntergekommenen Vorstädten gewisse Schichten für seine fremdenfeindlichen Fantasien empfänglich gemacht haben. Es gelangen ihm auch Einbrüche in extrem konservative Schichten, die bei den letzten Wahlen für Philippe de Villiers, einen anderen rechten Kandidaten, gestimmt hatten. Und zum ersten Mal erhielt er beachtenswerte Unterstützung in ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei im Norden und der Umgebung von Paris. Er erhielt überdurchschnittlich viele Stimmen von Arbeitern und noch mehr von Arbeitslosen.

Die Stimmen für Le Pen stellen keine Massenunterstützung für ein faschistisches Programm in Frankreich dar, noch weniger das Entstehen einer faschistischen Massenbewegung nach dem Vorbild von Mussolini oder Hitler. Aber dass ein faschistischer Demagoge eine beachtliche Unterstützung unter Arbeitern gewinnen konnte, ist Grund zur ernsten Sorge.

Die Hauptverantwortung für diese Lage der Dinge liegt bei der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei. Le Pen hat vor allem wegen der rechten Politik, die die sogenannten linken Parteien in den letzten zwanzig Jahren betrieben haben, an Stärke gewonnen. Diese Politik hat die Stimmung der Entfremdung und Entmutigung geschaffen, die von der Nationalen Front ausgenutzt wird.

Die Sozialistische Partei gewann vor fünf Jahren unter der Führung von Jospin die Parlamentswahlen, indem sie sich als Verteidigerin traditioneller sozialreformistischer Politik darstellte. In ganz Europa wurde Jospin als eine linke Alternative zu rechten Sozialdemokraten wie Großbritanniens Tony Blair und Deutschlands Gerhard Schröder präsentiert. Es stellte sich heraus, dass sich seine Politik nur in der Darstellung unterschied, aber in ihrer Substanz nicht anders war als die der weiter rechts stehenden europäischen Regierungen. Wie er im Wahlkampf selbst bekannte, mag seine Partei sich zwar "sozialistisch" nennen, aber ihr Programm ist "nicht sozialistisch".

Die Jospin-Regierung übernahm die Verantwortung für die Verschlechterungen und Kürzungen im Bereich von Arbeitsplätzen und Sozialprogrammen, die Bedingung für die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung waren. Die gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Woche rief gerade unter seinen Wählern Ärger hervor. Was als die größte Sozialreform der gesamte Amtszeit Jospins präsentiert wurde, stellte sich als ein Instrument heraus, mit dem niedrigere Löhne, unsicherere Arbeitsverhältnisse und Arbeitsplatz-Flexibilität durchgesetzt wurden.

Die Jospin-Regierung unterstützte den französischen Imperialismus in Afrika, im Nahen Osten, auf dem Balkan und in jüngster Zeit in Afghanistan. Sie hat bereits ihre Bereitschaft erklärt am amerikanischen Krieg gegen den Irak teilzunehmen, einer imperialistischen Intervention, die den gesamten Nahen Osten destabilisieren und sich zu einem größeren Krieg zwischen den imperialistischen Mächten ausweiten könnte. Jospin hat sich somit auf die gleiche Seite der Barrikade gestellt wie Le Pen, der ehemalige Fallschirmspringer und Folterer im Algerienkrieg.

Die Kommunistische Partei trägt die Hauptverantwortung dafür, das Gift des gegen Immigranten gerichteten Chauvinismus in die Arbeiterklasse getragen zu haben. Ihr Präsidentschaftskandidat und Vorsitzender Robert Hue machte sich vor zwanzig Jahren erstmals als Bürgermeister einer Pariser Vorstadt einen Namen, als er Hass gegen Einwanderer schürte. Damit bereitete er in den ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei den Weg für Le Pen.

Der völlige Einbruch dieser alten stalinistischen Partei gehört zu den bemerkenswertesten Ergebnissen der Wahl. Seit sie sich 1936 an der Volksfrontregierung beteiligte, die eine riesige Streikwelle abblockte und sich an der Erdrosselung der spanischen Revolution beteiligte, ist die französische Kommunistische Partei die wichtigste Stütze des französischen Kapitalismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Im Jahre 1968, als sie über den größten Einfluss während der Nachkriegszeit verfügte, half sie den Generalstreik auszuverkaufen und ebnete den Weg für die Rückkehr De Gaulles, der bereits nach Deutschland geflohen war.

Jetzt haben zum ersten Mal in einem entwickelten kapitalistischen Land zwei Kandidaten, die sich selbst als Trotzkisten bezeichnen - Arlette Laguiller von Lutte Ouvrière und Olivier Besancenot von der Ligue Communiste Révolutionnaire - den stalinistischen Kandidaten überrundet. Die Stimmen für den Kandidaten der Kommunistischen Partei fielen von 2,6 Millionen bei der Wahl 1995 auf weniger als eine Million im Jahre 2002.

Mit 3,4 Prozent der Stimmen erreichte die Partei noch nicht einmal die notwendigen 5 Prozent, um Staatsgelder zur Refinanzierung des Wahlkampfs zu erhalten. Nachdem die Kommunistische Partei 6,5 Millionen Euro für ihren Wahlkampf ausgegeben hatte, ist sie nun praktisch bankrott. Mitglieder der Kommunistischen Partei mit Sammelbüchsen, die meisten im Alter zwischen 60 und 70 Jahren, waren ein häufiger Anblick auf allen Demonstrationen.

Die drei Millionen Stimmen für Kandidaten, die in Frankreich allgemein als die "äußerste Linke" bezeichnet werden, sind ein weiterer bemerkenswerter Aspekt dieser Wahlen. Die gewaltige Stimmenzahl für die radikale Linke - wie auch die massive Beteiligung an den Demonstrationen gegen Le Pen - sind unmissverständliche Anzeichen dafür, dass es eine weitverbreitete Suche nach einer linken politischen Alternative gibt.

Laguiller, Besancenot und Daniel Gluckstein, der Kandidat der Parti des Travailleurs, erhielten gemeinsam mehr als 10 Prozent der Stimmen. Dies ist ein beachtlicher Stimmenanteil. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass die Grünen in Deutschland, die in den letzten vier Jahren den Vizekanzler und Außenminister gestellt haben, niemals in ihrer ganzen Geschichte auf nationaler Ebene einen so hohen Prozentsatz der Stimmen erhalten haben.

Das Ergebnis der sozialistischen Linken ist um so bemerkenswerter angesichts der hysterischen antikommunistischen Kampagne, die im vergangenen Jahrzehnt das Land überschwemmt hat. Es war Frankreich, in dem Stéphane Courtois‘ Schwarzbuch des Kommunismus und François Furets Das Ende der Illusionen erschienen sind. Die Kampagne, die mit diesen Büchern eingeleitet wurde, fand ihren Widerhall in einem großen Spektrum von politischen und intellektuellen Gestalten. Ihr Ziel bestand darin, Lenin, Trotzki und dem Marxismus im Allgemeinen jedes Verbrechen anzuhängen, das von ihren stalinistischen Feinden begangen wurde - von Stalin, Mao, Pol Pot, bis hin zum Leuchtenden Pfad.

Wie das Wahlergebnis zeigt, hatte dies wenig Auswirkung.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Ergebnis der ersten Wahlrunde eine doppelte Krise sichtbar gemacht hat: Eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen, die sich in der scharfen Polarisierung der Stimmen und der Abwendung von den Kandidaten und Parteien des Establishments ausdrückte. Und eine Krise der politischen Perspektive in der Arbeiterklasse, die ihren Ausdruck in der Tatsache fand, dass ein Teil der Arbeiter und Arbeitslosen für ihren schlimmsten Feind, Le Pen, gestimmt hat, dass mehr als 12 Millionen der Wahl fern blieben und dass - wie wir sehen werden - die äußerste Linke unfähig ist die politische Verantwortung zu übernehmen, die sich aus ihrem hohen Stimmenanteil ergibt, und einen Ausweg aus der Krise aufzuzeigen.

Die zentrale Aufgabe, die sich aus dem Ergebnis vom 21. April ergab, beschränkte sich nicht darauf, eine Wahlempfehlung für den zweiten Wahlgang am 5. Mai abzugeben. Sie bestand vielmehr in der Entwicklung einer unabhängigen Politik, die es der Arbeiterklasse ermöglicht die Initiative zu übernehmen und einen Ausweg aus der sozialen Krise zu weisen, die sich im Wahlergebnis gezeigt hat.

Die Kampagne für die Wahl Chiracs

Die führenden Vertreter der Bourgeoisie waren sich sehr bewusst, dass das Wahlergebnis und die folgenden Massendemonstrationen eine mögliche Bedrohung ihres gesamten politischen Systems zum Ausdruck brachten.

Nach der massiven Maidemonstration in Paris besuchte ich ein öffentliches Treffen, das einen repräsentativen Teil der führenden Gestalten im politischen und intellektuellen Leben Frankreichs zusammenbrachte. Das Treffen war von dem traditionellen republikanischen Journal Marianne organisiert worden.

Alle großen Parteien der bürgerlichen Rechten waren auf dem Podium vertreten - Jean-Pierre Raffarin von Démocratie Libérale, der mittlerweile zum Premierminister ernannt worden ist, François Bayrou von der Union pour la Démocratie Française (UDF), und ein Vertreter von Chiracs Rassemblement pour la République (RPR). Führende Gestalten der regierenden Linken waren anwesend - Dominique Strauss-Kahn, ein Parteiführer der Sozialisten und ehemaliger Finanzminister, Noël Mamère, der Präsidentschaftskandidat der Grünen, wie auch ein Vertreter der Bürgerbewegung von Jean-Pierre Chevènement. Führende Intellektuelle waren da - die Philosophen Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Levy, der Herausgeber von Le Monde, Edwy Plenel, ein ehemaliges Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire, und schließlich die LCR selbst, repräsentiert durch Daniel Bensaïd, ihre führende intellektuelle Figur.

Trotz kleinerer politischer Differenzen waren sich alle auf dem Podium einig, dass das Wahlergebnis eine scharfe Entfremdung der Wählerschaft vom politischen Establishment zum Ausdruck bringt und eine Krise des gesamten institutionellen Rahmens offenbart. Und jeder machte Vorschläge, wie diese Krise überwunden werden könnte, ohne die bürgerlichen Grundlagen der Republik zu gefährden.

Viele forderten eine Sechste Republik, die an die Stelle der Fünften Republik treten solle, die von Charles de Gaulle 1958 geschaffen worden ist. Das Parlament, das im Juni gewählt wird, solle sofort in eine verfassungsgebende Versammlung umgewandelt werden, schlug jemand vor. Es gab Aufrufe, den Menschen sorgfältiger zuzuhören und die eigene Politik entsprechend zu präsentieren. Es versteht sich von selbst, dass jeder auf dem Podium zur Wahl von Chirac aufrief. Dies solle nicht widerwillig sondern "mit Enthusiasmus" getan werden, betonte der Philosoph Levy.

Sobald die Demonstrationen an Fahrt gewannen, griffen alle Parteien der Regierungs-Linken ein, um sie zu kanalisieren und in Bahnen zur Unterstützung von Chirac und den diskreditierten Institutionen der Fünften Republik zu lenken. Die Kampagne, die sie initiierten und die von jedem Fernsehsender und Printmedium aufgegriffen wurde, war beachtlich. Den Leuten wurde von früh morgens bis spät in die Nacht erzählt, der einzige Weg Le Pen aufzuhalten sei die Wahl von Chirac. Um dem Faschismus entgegenzutreten, müsse man seine Loyalität zur Republik durch eine massive Stimmabgabe für Chirac zeigen.

Die Gefahr des Faschismus wurde grob übertrieben. Chirac, der rechte, völlig korrupte Politiker, der nur durch sein Immunität als Präsident einem Strafverfahren entging, wurde glorifiziert und als Retter der Demokratie dargestellt.

Parteimitglieder der Sozialisten, Kommunisten und Grünen überschwemmten die Demonstrationen mit Transparenten, auf denen zur Wahl von Chirac aufgerufen wurde. Chiracs Wahlplakate wurden mit Aufklebern geschmückt, auf denen das Symbol der Sozialistischen Partei und die Worte "Ich wähle Chirac" zu sehen waren. Das Presseorgan, das sich am ausdrücklichsten für Chirac aussprach, war Libération, die links-liberale Tageszeitung, die von einem ehemaligen Maoisten herausgegeben wird. Chiracs Wahlkampf wurde fast ausschließlich von den Parteien der Linken geführt. Die rechten Parteien blieben den Demonstrationen fern und waren im Allgemeinen passiv.

Chirac selbst nutzte die Zeit, um zur Vorbereitung auf die Parlamentswahlen im Juni in seinem eigenen Lager aufzuräumen. In einem Versuch, seine Rivalen innerhalb des rechten Lagers ins Wanken zu bringen, gründete er eine neue Partei, die Union für eine Präsidentenmehrheit (UMP). François Bayrou, der Führer der liberalen UDF, verurteilte Chiracs Vorgehen und brandmarkte es als eine Art Putsch, der die Zerstörung seiner Organisation bewirken solle.

In einer andere demonstrativen Geste trat Chirac öffentlich mit drei Regionalpräsidenten auf, die mit Unterstützung der Nationalen Front ins Amt gelangt sind. Dies war ein deutliches Zeichen, dass er in der zweiten Runde der kommenden Parlamentswahlen nach der Unterstützung der Nationalen Front Ausschau halten wird.

Die äußerste Linke passte sich der Kampagne zur Unterstützung Chiracs völlig an. Am offensten tat dies die LCR. Alain Krivines Partei rief zum "Kampf gegen Le Pen auf den Straßen und an den Wahlurnen" auf. Dies konnte nur als Wahlempfehlung für Chirac verstanden werden - und führende Vertreter der Partei erklärten dies auch offen. Die Parti des Travailleurs und Lutte Ouvière zeigten ein wenig mehr Widerwillen, zur Wahl von Chirac aufzurufen. Die PT verschwand einfach von der Bildfläche und sagte, sie würde keine Empfehlung aussprechen. Lutte Ouvrière erklärte, sie würden nicht Chirac wählen, und nach einer Woche der Unschlüssigkeit riefen sie dazu auf, ungültige Stimmzettel abzugeben. Dies war nicht mehr als eine individuelle Geste, die der Arbeiterklasse keine unabhängige Orientierung gab.

Unter diesen Bedingungen zeigte die Wahlkampagne für Chirac Auswirkungen. Die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde lag um 10 Prozent höher als in der ersten, und Chirac erhielt 82 Prozent der Stimmen. Es ist offensichtlich, dass viele von denen, die für ihn gestimmt haben, dies nicht taten, weil sie mit seinem Programm übereinstimmen. Nichtsdestotrotz hat Chiracs Bestätigung im Amt mit einer großen Mehrheit eine gefährliche Situation für die Arbeiterklasse geschaffen. Als gewählter Präsident verfügt Chirac über eine gewaltige Macht. Er hat umgehend eine neue rechte Regierung eingesetzt, die vor den Wahlen im Juni nicht vom Parlament bestätigt werden muss. Der Hauptzweck dieser Regierung besteht darin, ihm im Juni eine rechte Mehrheit im Parlament zu sichern.

Während der neue Premierminister Jean-Pierre Raffarin eine Kompromissfigur ist, die an die traditionelle Mittelklasse appelliert, hat Chirac auch das Superministerium für Innere Sicherheit geschaffen, das er im Wahlkampf versprochen hatte. Ihm steht der rechte Gaullist Nicolas Sarkozy vor. Sarkozy besuchte an seinem ersten Tag im Amt eine der unruhigen Vorstädte und bereitet offenbar eine spektakuläre Polizeiaktion gegen Kleinkriminelle für die Zeit vor den Wahlen vor, um die rechte Wählerschaft zu umwerben.

Solch eine rechte Regierung würde bösartige Angriffe auf die Arbeiterklasse durchführen und einen scharfen Rechtsruck in der Innen- und Sozialpolitik bewirken. Die Arbeiterklasse würde sich sehr schwer tun, die Legitimität einer solchen Regierung in Frage zu stellen, nachdem sie massiv für Chirac gestimmt hat.

Selbst wenn Chirac im Juni keine rechte Mehrheit erhält, werden weitere fünf Jahre der Kohabitation eben jene Bedingungen verschärfen, unter denen Le Pen Erfolg hatte. Die politische und soziale Verwesung der Gesellschaft wird anhalten und Bedingungen schaffen, unter denen eine wirkliche faschistische Gefahr entstehen kann. Unter Umständen, wo die Kampagne zur Unterstützung Chiracs die Arbeiterklasse vollkommen verwirrt zurückgelassen hat, darf diese Gefahr nicht unterschätzt werden. Die Aufgabe, eine unabhängige Alternative für die Arbeiterklasse aufzubauen, stellt sich mit größerer Dringlichkeit als je zuvor.

Das Eingreifen der World Socialist Web Site

Ich begann meine Rede mit der Bemerkung, dass die politischen Lehren aus den Ereignissen in Frankreich immer von gewaltiger internationaler Bedeutung waren. Wie können diese Lehren gezogen werden? Die wichtigste Vorbedingung ist das Eingreifen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) und ihres Organs, der World Socialist Web Site, in die französischen Wahlen.

Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass das politische Instrument, das vom IKVI in den letzten vier Jahren aufgebaut wurde, ein gewaltiges Potenzial hat, dann hat unser Eingreifen in Frankreich diesen geliefert. Obwohl wir keine Sektion in Frankreich haben und unsere Kräfte sehr begrenzt sind, war der Boykottaufruf von der Redaktion der World Socialist Web Site, der auf der Demonstration am 1. Mai tausendfach verteilt wurde, praktisch die einzige Erklärung, die eine unabhängige politische Orientierung bot - und sie hatte mit Sicherheit Auswirkungen.

Die Auswirkungen zeigten sich nicht so sehr im Wahlergebnis - hier konnten sie unter den gegebenen Umständen nur minimal sein. Unser Eingreifen schuf aber die Voraussetzungen, um wichtige politische Lehren zu ziehen, Arbeiter politisch zu erziehen und ihr revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Es zeigte auf eine konkrete Art und Weise, dass die faschistische Gefahr bekämpft werden kann, ohne die Arbeiterklasse den immer weiter nach rechts gehenden bürgerlichen Politikern unterzuordnen. Es unterhöhlte die Behauptungen von Lutte Ouvrière, der LCR und der PT, den authentischen Trotzkismus zu repräsentieren, und bereitete dadurch den Weg, um eine Sektion des Internationalen Komitees in Frankreich aufzubauen.

Die World Socialist Web Site rief zu einem Boykott der zweiten Wahlrunde auf. In einem offenen Brief, der an die LCR, LO und PT gerichtet war, drängten wir diese Organisationen, sich aktiv für einen solchen Boykott einzusetzen.

Ein Boykott hat einen anderen Charakter als eine Enthaltung oder die Abgabe eines ungültigen Stimmzettels. Enthaltung und ungültige Wahl sind individuelle Formen des Protests, die in der Abgeschiedenheit der Wahlkabine oder zu Hause vollzogen werden. Ein Boykott, für den aggressiv geworben wird durch Parteien, die einen beachtlichen Stimmenanteil erhalten haben, ist der organisierte Ausdruck eines unabhängigen politischen Standpunkts der Arbeiterklasse. Das Ziel des Boykotts bestand darin, wie wir in einem Brief an einen Unterstützer von Lutte Ouvière schrieben, "die Arbeiterklasse als aktive politische Kraft zu mobilisieren und an die Spitze aller Menschen zu bringen, die gegen das gesamte politische Establishment, sei es ‚links' oder ‚rechts', und gegen die faschistische Reaktion sind."

Solch ein Boykott hätte dieser betrügerischen Wahl, die den Arbeitern keine wirkliche Wahl ließ, sondern sie vor die Entscheidung zwischen einem Kandidaten der Großunternehmen und einem offenen Faschisten stellte, jegliche Legitimität abgesprochen. Er hätte die besten Bedingungen für die politischen Kämpfe geschaffen, die nach den Wahlen aufkommen werden. Er wäre ein wichtiger Beitrag zur politischen Erziehung der Massen und besonders der jungen Menschen gewesen, die der Schock nach Le Pens Erfolg in der ersten Wahlrunde in Bewegung gesetzt hat. Er hätte sie gelehrt, die Lügen des bürgerlichen politischen Establishments zu durchschauen, wonach Chirac angeblich für die Verteidigung der Demokratie stehen soll.

Der Haupteinwand gegen einen Boykott war, dass dieser zu einem Sieg von Le Pen in der zweiten Wahlrunde führen könnte. Wir antworteten auf diesen Einwand in dem offenen Brief:

"Mancher wird vielleicht argumentieren, dass ein Boykott der Wahl am 5. Mai Le Pen und seine faschistische Bewegung stärken würde. Solche Behauptungen weisen wir zurück. Politik ist nicht dasselbe wie Arithmetik, und man muss nicht Chirac unterstützen, um gegen Le Pen zu sein. Im Gegenteil, gerade die offizielle Kampagne für Chirac, in der Regierungs-Linke und -Rechte zusammenstehen, wirkt als Bestätigung von Le Pens völlig falscher und demagogischer Behauptung, dass er als Einziger die Opposition der Bevölkerung gegen das politische Establishment zum Ausdruck bringe.

Eine breit angelegte Kampagne des Boykotts und der Opposition gegen den 5. Mai, an deren Spitze die sozialistische Linke steht und die Arbeiter und Jugendliche sowohl gegen Le Pen als auch gegen Chirac mobilisiert, würde Le Pens verlogene Pose zerstören und breiten Massen vor Augen führen, dass es eine progressive gesellschaftliche Kraft gibt, die der bestehenden Gesellschaft und Politik entgegentritt."

Wir bestanden darauf, dass Le Pen, selbst wenn er die Wahlen gewinnen würde, nicht in der Lage wäre, die französische Bevölkerung einer totalitären Diktatur zu unterwerfen. Tatsächlich übertrieben die linken Parteien die Stärke Le Pens aufs Gröbste, um jede Diskussion über ihre eigene Verantwortung für die soziale Misere zu verhindern.

Keine der drei Organisationen, an die der offene Brief gerichtet war, reagierte positiv und griff die Forderung nach einem Boykott auf.

Wir brachten den Brief persönlich in ihre Büros und baten um eine Diskussion. Die LCR erklärte, sie hätte keine Zeit mit uns zu sprechen. Im Hauptquartier der PT trafen wir ein langjähriges Mitglied, der als Privatperson mit uns sprach. Lutte Ouvrière sandte eine kurze Notiz an einen Unterstützer der World Socialist Web Site, und die Redaktion erhielt einen Brief von einem Sympathisanten von Lutte Ouvrière, den wir mit einer Antwort veröffentlichten. Schließlich gab uns Arlette Laguiller am 5. Mai, nach der zweiten Wahlrunde, ein kurzes Interview, in dem sie ihre Haltung zu dem offenen Brief erklärte.

Trotz dieser sehr begrenzten Reaktionen hat die Diskussion, die der offene Brief hervorgerufen hat, zur Klärung der grundlegenden Perspektivfragen beigetragen. Er hat geholfen, eine wirklich marxistische, revolutionäre Orientierung von einer zentristischen Linie abzugrenzen.

Der Opportunismus der äußersten Linken

Der politische Kurs, den LO, LCR und PT verfolgen, ist von derbem Opportunismus gekennzeichnet. Sie haben sich alle in der einen oder anderen Form der Kampagne zur Unterstützung Chiracs angepasst. Der Gedanke, dass eine marxistische Partei gegen den Strom schwimmen und gegen die vorherrschenden Formen des Bewusstseins ankämpfen muss, ist ihnen vollkommen fremd.

Arlette Laguiller fasste diese klassische Position des Opportunismus im Interview mit der World Socialist Web Site zusammen, als sie sagte: "Wir treten immer für Vorschläge ein, die unserem Eindruck nach dem Kräfteverhältnis entsprechen und denen die Arbeiterklasse in einem gegebenen Land auch bereit ist nachzukommen."

Marxisten gehen von den objektiven Bedingungen aus und von den Aufgaben, die sich aus diesen Bedingungen für die Arbeiterklasse ergeben, und kämpfen darum, das Bewusstsein der Arbeiter zu heben und auf die Höhe der Aufgaben zu bringen. Dagegen geht Laguiller als typische Opportunistin von dem subjektiven Bewusstseinsstand in der Arbeiterklasse aus - oder besser: von ihrer Einschätzung dieses Bewusstseinsstands - und versucht, ihr Programm entsprechend daran anzupassen.

Tatsächlich gab es nur eine einzige Möglichkeit herauszufinden, welchen "Vorschlägen die Arbeiterklasse bereit ist nachzukommen", d.h. ob sie bereit war, einen organisierten Boykott zu unterstützen: Eine aggressive Kampagne für einen Boykott. Angesichts der Tatsache, dass Chirac extrem unpopulär ist, kann es keinen Zweifel daran geben, dass eine solche Kampagne ein Echo gefunden hätte.

Aber Lutte Ouvrière ist derart beherrscht von den unmittelbaren Formen des Bewusstseins und der Aktivitäten der Arbeiterklasse, dass die Organisation jedes Mal vollkommen überrumpelt ist, wenn plötzlich eine große politische Bewegung aufkommt. Was sie betrifft, so wird es niemals ein "Kräfteverhältnis" geben, das günstig genug ist, um die Arbeiterklasse die Initiative übernehmen zu lassen. Wie Trotzki mehrmals und vor allem in seinen Schriften zu Frankreich betont hat, ist es unmöglich das wirkliche Kräfteverhältnis zu verstehen, ohne den subjektiven Faktor, das ist die aktive Rolle der Partei und ihrer Führung, mit einzubeziehen.

Lutte Ouvrière kann die Aktivitäten der Arbeiterklasse nur vom Standpunkt gewerkschaftlicher Kämpfe wahrnehmen und ist praktisch blind hinsichtlich jeder politischen Bewegung. Das Verblüffendste, was Laguiller in ihrem Interview sagte, war die Behauptung, dass es eine "Mobilisierung der Arbeiterklasse [...] derzeit in unserem Land in Form von Kämpfen absolut nicht gibt." Und dies nach zwei Wochen von Massendemonstrationen und großen politischen Umbrüchen!

Der politische Opportunismus und die Passivität von Lutte Ouvrière sind verbunden mit ihren beschränkten nationalen Anschauungen. Diese Organisation, deren Wurzeln bis in die 1930-er Jahre zurück reichen, hat sich immer geweigert, sich der Vierten Internationale anzuschließen. Ihre Erklärung dafür lautete, dass die Führung der Vierten Internationale in ihrer sozialen Zusammensetzung kleinbürgerlich sei und dass es wichtiger sei, sich an die französischen Arbeiter zu halten, als sich einer internationalen Organisation anzuschließen. Politisch bedeutete dies, dass die Verbindungen zum opportunistischen nationalen Gewerkschaftsmilieu für wichtiger gehalten werden als eine internationale politische Orientierung.

Arlette Laguiller ist die Personifizierung dieser Perspektive. Ich habe eine ihrer Wahlreden gelesen, die sie vor 2.000 Anhängern gehalten hat. Während der gesamten Rede, die länger als eine Stunde dauerte, erwähnte sie nicht ein einziges internationales Ereignis. Der Krieg in Afghanistan, an dem Frankreich sich mit eigenen Truppen beteiligt, die Krise im Nahen Osten, die Globalisierung, die Europäische Union - all dies wurde für nicht erwähnenswert erachtet. Es machte den Eindruck, als ob Frankreich eine Insel auf einem anderen Planeten sei.

Die Revolutionärin Arlette Laguiller ist in vielerlei Hinsicht der konservativste Mensch, den man in Frankreich treffen kann. Sie hat ihr ganzes Leben lang in derselben Wohnung gelebt, 40 Jahre lang an demselben Arbeitsplatz gearbeitet... und seit 30 Jahren hält sie dieselbe Rede. Alle ihre Reden und Artikel haben denselben lamentierenden, jammernden Ton: "Die Bosse beuten euch aus, die Regierung betrügt euch und unterstützt die Bosse." Man hält vergeblich Ausschau nach einer kühnen Initiative oder einer politischen Orientierung.

Die LCR hat eine andere soziale Orientierung und politische Anschauung als Lutte Ouvrière. Ihr Bezugspunkt ist nicht das Gewerkschaftsmilieu sondern die politische "Linke", d.h. die linke Peripherie des bürgerlichen Establishments. Krivine hofft, dass er aus den Trümmern der derzeitigen politischen Krise einen zentristischen Sumpf bilden kann. Hierzu würden abtrünnige Parteimitglieder der Sozialisten, Kommunisten und Grünen ebenso gehören wie Protestbewegungen wie ATTAC, die Sans Papiers, AC Chomage und radikalisierte Studenten, die für LCR-Kandidaten gestimmt haben.

In einem Interview mit Le Figaro deutete Krivine an, dass er selbst eine Fusion der LCR mit den Überresten der Kommunistischen Partei nicht ausschließt. Die Implosion der Kommunistischen Partei, sagte er, könnte zur Schaffung "einer neuen feministischen, ökologischen, antikapitalistischen Partei führen, die nicht auf die derzeitige äußerste Linke beschränkt wäre".

Krivines Vorbild ist die Rifondazione Communista in Italien, die aus dem Pro-Stalin-Flügel der Kommunistischen Partei entstanden ist und auf ihrem letzten Kongress der stalinistischen Vergangenheit öffentlich entsagt hat, um sich gegenüber den Globalisierungsgegnern und anderen Protestbewegungen, wie ATTAC, zu öffnen. Über lange Zeit hat Rifondazione eine wichtige Rolle als linkes Feigenblatt der Mitte-Links-Regierung gespielt, die schließlich von der rechten Koalition Berlusconis abgelöst wurde. Die italienischen Pablisten - die Gesinnungsgenossen der LCR - haben in dieser ganzen Zeit eine führende Rolle innerhalb der Rifondazione gespielt.

Da die meisten der Kräfte, die Krivine im Sinn hat, aktive Wahlhilfe für Chirac betrieben haben, ist klar, warum sich die LCR nicht offen gegen eine Stimmabgabe für Chirac stellen konnte: Sie hätte zu viele ihrer Freunde verloren. Gleichzeitig hat ihr Aufruf zur Wahl von Chirac eine definitive politische Bedeutung: Es ist ein Signal an die herrschende Elite, dass sie den Verfassungsrahmen der französischen Republik respektiert und keiner sozialen Bewegung unter ihrer Kontrolle erlauben wird, ihn nicht zu beachten.

Die zentristische Bewegung, die Krivine anstrebt, würde an die Stelle von Jospins Pluraler Linken treten, die der französischen Bourgeoisie in den letzten fünf Jahren so gut gedient hat, die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten. Sie wäre keine antikapitalistische Bewegung sondern vielmehr die letzte Verteidigungslinie des kapitalistischen Systems.

Die PT hat sich einfach geweigert, irgendeine politische Verantwortung für die Ereignisse nach der ersten Wahlrunde zu übernehmen. Das langjährige Mitglied, das wir im Hauptquartier der Partei trafen, sagte zu uns: "Wir geben keine Empfehlung ab." Nach seiner Meinung zum Boykott gefragt, erklärte er, ähnlich wie Laguiller, dass das "Kräfteverhältnis" dies nicht erlauben würde.

Der PT-Kandidat Daniel Gluckstein veröffentlichte nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse eine kurze Stellungnahme, in der er seine Zuversicht äußerte, dass "die Arbeiter fähig sind, sich aus eigener Kraft und durch ihre eigene Mobilisierung all die notwendigen Mittel zu beschaffen, um in der derzeitigen, schwierigen Periode eine Lösung zu finden." Wenn dies der Fall ist, dann besteht offensichtlich keine Notwendigkeit, dass die PT überhaupt existiert.

An anderer Stelle verwies Gluckstein seine Anhänger an die Gewerkschaftsbürokratie. "Wie es bei vielen früheren Gelegenheiten der Fall war," sagte er, "hängt die Verteidigung der Demokratie an der Fähigkeit der Gewerkschaftsverbände, die Arbeiter und ihre Organisationen zur Verteidigung ihrer Rechte und Errungenschaften und zur Verteidigung der Demokratie zu vereinigen." Dies unter Bedingungen, wo weniger als acht Prozent der französischen Arbeitskräfte Gewerkschaftsmitglieder sind und die Gewerkschaften selbst die treusten Anhänger der Jospin-Regierung waren!

Die PT ist zu einem Flügel der Gewerkschaftsbürokratie degeneriert, und arbeitet hauptsächlich über die von ihr kontrollierte Gewerkschaft Force Ouvrière, eine rechte Abspaltung des Gewerkschaftsverbandes CGT. Die PT trägt eine direkte Verantwortung für die jüngsten Ereignisse, da ihre Vorgängerin, die Organisation Communiste Internationaliste (OCI), viele führende Mitglieder der Sozialistischen Partei ausgebildet hat, unter anderem auch Jospin selbst.

Zusammenfassend ist festzustellen: Die Ereignisse in Frankreich sind keineswegs einzigartig. Die gleichen sozialen Spannungen, die gleiche politische Krise der traditionellen Parteien und staatlichen Institutionen existieren überall in Europa, wenn auch in verschiedenen Formen. Das energische Eingreifen der World Socialist Web Site in Frankreich zeigt, wie der Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse voran gebracht werden kann.

Unser grundlegender Streitpunkt mit Lutte Ouvrière und all den anderen linken Gruppen "besteht darin, dass wir der politischen Erziehung der Arbeiter, der Entwicklung ihres revolutionären Bewusstseins, einen höheren Stellenwert einräumen als irgend einer bestimmten Form praktischer Aktivität wie beispielsweise dem gewerkschaftlichen Kampf," wie Patrick Martin in seiner Antwort an einen Anhänger von Lutte Ouvrière betonte.

Genau zu diesem Zweck haben wir den Aufruf für einen Boykott der zweiten Wahlrunde initiiert. Dies hat eine Diskussion und einen Klärungsprozess eingeleitet, die nach den Wahlen nicht abbrechen werden. Sie erfordern Kühnheit, Hartnäckigkeit und eine Menge Geduld. Es existiert eine Menge Verwirrung in der Arbeiterklasse und diese Fragen müssen immer wieder erklärt und durchdiskutiert werden.

Wir kämpfen dafür, die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms international zu vereinigen. Unsere Antwort auf die Europäische Union, die von Banken und Großkonzernen kontrolliert wird, sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Wir haben großes Vertrauen darauf, dass unser Kampf im wachsenden Maße Gehör finden und sich schließlich gegenüber dem Opportunismus durchsetzen wird, der von der äußersten Linken in Frankreich zur Schau gestellt wurde.

Editorische Anmerkungen:

Die Socialist Equality Party in Großbritannien lud am 12. Mai zu einer öffentlichen Veranstaltung in London mit dem Titel "Die Perspektiven für den Sozialismus im 21. Jahrhundert" ein. Der hier veröffentlichte Text war der Hauptvortrag, der von Peter Schwarz, der Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationalen,  dort über die politischen Lehren aus den französischen Präsidentschaftswahlen gehalten wurde. Der Text ist eine Spiegelung von
http://www.wsws.org/de/2002/mai2002/psfr-m22_prn.html