Mehr als die Nation
Über den Wandel nationaler Repräsentationen im Fußball

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on PHASE 2 Leipzig

05/06

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Alle vier Jahre wird nahezu die gesamte Welt in den Taumel des globalen »Völkerfestes« Fußballweltmeisterschaft der Männer gezogen. Als Wettstreit der Kulturen und Nationen inszeniert, verweist sie auf die nationale Bedeutung dieses Events. Während über lange Zeit Fußball und Nationalismus tatsächlich eine symbiotische Einheit darstellten, verändern sich in Zeiten der Globalisierung und Kommerzialisierung die Modi der Organisation von kommerziellen Fußball und nationaler Repräsentation.

Fußball und Nation

Über lange Zeit waren Nationalismus und Fußball untrennbar verbunden. Als Fußball noch kein profitables Marktprodukt war, vollzog sich die Organisation des Fußballs und seiner daran gekoppelten Emotionen vor allem im nationalen Rahmen. Die identitäre Repräsentation, sei es des Lokalen oder Nationalen, stand im Zentrum des Fußballs. Er musste vor allem Emotionen wecken und Begehrlichkeiten befriedigen und sich nur mäßig mit kommerziellen Interessen auseinandersetzen, sondern vor allem die Volksseele ausdrücken. Auf internationaler Ebene lässt sich die Bedeutung der nationalen Semantik des Fußballs anhand beliebiger Fußballländerspiele und am deutlichsten am Beispiel der vierjährlichen Fußball-WM zeigen. Diese baut auf nationale Abgrenzung auf, setzt sie ein und reproduziert sie schließlich.
Die Sprache des Fußballs verrät bereits, dass man sich hier als Beteiligte/r eines imaginären Krieges wähnt. Fußballschlachten werden geführt, Gegner vernichtend geschlagen, Spieler stoßen über die Flanke nach vorne, versetzen einer Abwehr den Todesstoß, es gibt Blitzsiege ebenso wie Kollateralschäden. Wenn die Bildzeitung stolz triumphiert: »Jetzt plätten wir die Letten«(1), steht die Trauer über einst verlorene wirkliche Schlachten wohl Pate solch martialischer Sprache. Dass die Grenzen durchaus auch mal verschwimmen können, demonstriert der sogenannte Fußballkrieg, der im Jahre 1969 unmittelbar nach der Niederlage von Honduras gegen El Salvador im WM-Qualifikationsspiel zwischen beiden Staaten ausbrach.
Den Appell an das nationalistische Ressentiment zelebriert in regelmäßigen Abständen der Boulevard der konkurrierenden Nationen. Allein ein kurzer Blick auf die Verbalschlachten zwischen den Niederlanden, England und Deutschland zeigt, dass es hier weniger um Fußball als um nationale Befindlichkeiten geht. Die Niederländer gedenken, 2006 mit orangefarbenen Wehrmachtshelmen in Deutschland einzumarschieren. Das weiß zumindest BILD zu berichten und hat bereits 20.000 verkaufte Exemplare ausgemacht. Der deutsche Boulevard kontert mit der Betonung der prügelnden Holländer und der saufenden, bierbäuchigen und randalierenden Briten. Diese wiederum versäumen es nicht, in beruhigender Regelmäßigkeit auf die deutsche Geschichte des Nationalsozialismus zu verweisen. So vor dem Endspiel der WM 2002, als die SUN das Bild der deutschen Nationalmannschaft aus dem Jahre 1936 auf das Titelbild brachte, auf dem alle deutschen Spieler mit dem Hitlergruß posierten.
Trotz alledem steht nicht der hässliche Kampf zwischen den Nationen im Vordergrund, sondern die Zelebrierung des friedlichen Wettstreits der Kulturen und Nationen. Zwar verliert die Sprache zusehends an Aggressivität, die kulturellen Eigenheiten und Identitäten werden jedoch weiterhin mit Nachdruck eingefordert und reproduziert. So sind es die Brasilianer vom »Zuckerhut«, die mit ehrlicher Arbeit nichts zu tun haben, denen der elegante Fußball jedoch in die Wiege gelegt wurde, den sie quasi im Blute haben. Ebenso die Lebensfreude, die sie zelebrieren. Und so kommt keine Berichterstattung der Spiele der Brasilianer ohne die obligatorischen halbnackt tanzenden brasilianischen Frauen aus. Auch die Südeuropäer, hier besonders die Italiener glänzen nicht gerade durch Arbeit, sondern vor allem durch die Sorge um ihr Äußeres. »Wie der Afrikaner lebt, so spielt er auch Fußball«, brachte es einst Berti Vogts auf den Punkt. Den Deutschen hingegen wurde nichts geschenkt, nichts in die Wiege gelegt. Fleiß, Arbeit, Disziplin und Kampfgeist - die deutschen Sekundärtugenden - sorgen für die dennoch zu spärlichen Triumphe der Deutschen. Der amtierende Präsident des DFB, Gerhard Mayer-Vorfelder, formulierte es einmal so: »Die deutschen Tugenden schlagen sich ja nicht im Spielsystem nieder. Sondern in der Einsatzbereitschaft. Auf die wird der deutsche Fußball immer angewiesen sein. Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben da genetisch andere Voraussetzungen.«(2)

Fußball als Marktprodukt

Als massenkulturelles Event hat der Fußball jedoch lange Zeit gebraucht, um sich teilweise aus der nationalen Umklammerung zu lösen. Besaß Fußball über Jahrzehnte fast ausschließlich die Funktion, Emotionen zu schüren und Identifikationen zu bedienen und zu schaffen, entwickelte er sich vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer profitablen Ware der kapitalistischen Produktionsmaschinerie.
Somit lässt sich die Fußballweltmeisterschaft der Männer heute nicht mehr allein als Fest der Nationen interpretieren. Auch wenn die nationale Folklore, die alle vier Jahre aufs Neue zelebriert wird, offensichtlich ist, war in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine immer intensiver werdende Kommerzialisierung dabei unverkennbar. Die mediale Verwertung des Geschehens beschränkt sich schon längst nicht mehr auf die Stadien, sondern dringt in die Fußballrandzonen öffentlicher Plätze vor. Die Vermarktung des Namens »FIFA World-Cup«, der Trikots einzelner Mannschaften und Spieler, die Vermarktung des gesamten Fußballumfelds nimmt exorbitante Ausmaße an. Die Weltmeisterschaft ist zu einem gigantischen Konsum- und Merchandise-Spektakel avanciert. Sie ist das Spiegelbild einer Entwicklung des Fußballs zu einem potenten Wirtschaftsfaktor.
Fragt man heute nach dem Sinn und Erfolg der WM, darf nicht unterschlagen werden, dass es sich hier um eine Tradition handelt, deren Fortführung ein Stück weit auch Selbstzweck ist. Auch heute ist das Kernelement der WM der Wettkampf der Nationen. Und doch ist dies nicht der einzige Grund.
Vielmehr hat sich die WM in den letzten Jahren auch zu einer gigantischen Fußballmesse entwickelt. Hier präsentiert sich das Spielermaterial der Weltöffentlichkeit und den Vereinen. Bei den Weltmeisterschaften wird der Marktwert von Spielern verhandelt, hier werden die Scouts der (vorwiegend) europäischen Großvereine aktiv, um aus dem präsentierten Reservoir der »Nachwuchstalente« ihre eigenen Spielerkader aufzufrischen.
Gleichzeitig wird durch dieses Spektakel der Marktwert des Fußballs an sich in die Höhe getrieben, was zu positiven Nebeneffekten auch für die Vereine führt. Es gilt mittlerweile als offenes Geheimnis, dass die Vergabe der Weltmeisterschaften 1994 und 2002 aus taktisch-ökonomischen Gründen erfolgte. Sowohl die Vereinigten Staaten (1994) als auch Asien (2002) galten als Fußballmärkte, deren Erschließung durch die Vergabe der WM forciert werden sollte. Bis dahin hatten Weltmeisterschaften - mit Ausnahme Mexikos - nur in den fußballerischen Hochburgen Südamerika und Europa stattgefunden. 1994 bestand das Ziel darin, den bisherigen weißen Collegesport Soccer auf eine breitere soziale Basis zu stellen. Der FIFA-Generalsekretär Sepp Blatter umschrieb diesen Umstand so: »Wir erhoffen uns, dass durch die WM auch die farbigen Jugendlichen […] ihr Interesse am Soccer entdecken. Wir setzen bei dieser Prognose darauf, dass die Afrikaner im kommenden Jahr sicherlich wieder eine gute Rolle Spielen werden und das für viele Farbige ein Antrieb sein wird, um über den Fußball aus ihren ärmlichen Lebensverhältnissen herauszukommen.«(3)
Zwar war der amerikanische Markt nur schwer zu erobern, dafür sorgte aber zumindest der asiatische für Rekord-gewinne. Als David Beckham nach der WM 2002 von Manchester United zu Real Madrid wechselte, verkaufte Real gleich hunderttausende Trikots mit dessen Namenszug nach Asien. Auch der Hamburger SV profitierte von dieser Markterschließung, als mit der Verpflichtung des Japaners Naohiro Takahara der Trikotverkauf Richtung Asien explosionsartig in die Höhe schoss.(4)
Die nationale Aufladung des Fußballs und insbesondere der Weltmeisterschaft ist jedoch nicht nur Selbstzweck. Das Produkt bezieht seinen Wert vor allem aus Emotionen und identifikationsstiftenden Momenten. Die Konkurrenz und der Wettkampf müssen permanent aufrechterhalten werden, um die Spannung zu halten und damit dem Produkt Fußball einen gewinnbringenden Wert zu verleihen. Der Fußball lebt davon und kann zu dessen Realisierung problemlos auf bestehende lokale oder nationale Identifikationsmuster aufbauen. Indem der Fußball als Wettkampf der Nationen und der Kulturen ausgetragen wird, werden die vorhandenen Nationalismen und Rassismen aufgegriffen, verstärkt und dadurch schließlich auch reproduziert. »Ein gewisser Heimatbezug ist nicht alles, aber ohne ihn ist alles nichts. Die Fans brauchen ihn zur Identifikation, und die Vereine brauchen ihre Fans. Nur mit Fernsehübertragungen aus der Ferne, dem Ausland, landet man allzu bald in einer virtuellen Welt mit virtuellen Fans, die sich per Knopfdruck zur Konkurrenz verabschieden.«(5)

Zwischen Nation und Kapital

Dabei sind es zunächst vor allem die Vereinsmannschaften, die vom Fußballboom profitieren. Europäische Spitzenklubs wie Manchester United (ManU), Real Madrid, Bayern München, Chelsea London oder Juventus Turin setzen im Jahr jeweils um die 200 Millionen Euro um, verfügen über ein dichtes Netz an Beteiligungsgesellschaften (Cateringfirmen, Restaurant- und Kinoketten, Reisebüros etc.), besitzen - wie z.B. ManU - eigene Fernsehsender und sind entscheidende Wirtschaftsfaktoren ihrer Städte.
Die zunehmende Kapitalisierung der Vereine führt zu Modifikationen der nationalen Repräsentationen. Es ist vor allem die Globalisierung, die althergebrachte Gewohnheiten der Fußballfangemeinde zerstört und neue Organisationsformen nationaler Repräsentation verlangt.
Die Bestückung der Spielerkader mit vorwiegend ausländischen Stars kann die eigenen nationalen Gewissheiten kaum beruhigen. Die Bildung von Monopolstellungen der europäischen Spitzenklubs kommt den entsprechenden Vereinen zwar zugute, schadet dem Gesamtfußball jedoch erheblich, da die Spannung als Kernelement der Popularität des Fußballsports verloren geht.(6)
Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen den Großvereinen und den nationalen Fußballverbänden. Die Vereine wollen die Zahl einsetzbarer »Ausländer« möglichst maximieren, die Verbände diese eher begrenzen. Die Verbände sehen in den Nationalmannschaften das Herzstück des Fußballs, während die Vereine ihre Spieler vor zu vielen Nationalmannschaftseinsätzen schützen, auf Minimierung drängen und bisweilen die Freigabe verweigern. Um die Attraktivität der nationalen Ligen zu gewährleisten, versuchen die Verbände wenigstens ansatzweise eine sportliche und finanzielle Ausgewogenheit zu ermöglichen, die Vereine hingegen versuchen, auf eine eigene Monopolstellung zuzusteuern.
Die Allmacht der nationalen und internationalen Verbände wie Deutscher Fußballbund (DFB), United European Football Association (UEFA) und Fédération International de Football Association (FIFA) ist in den letzten Jahren gebrochen worden. Die Vereine versuchen, sich parallel bzw. gegen die Verbände zu organisieren. Die britische Premiere League z.B. ist von der nationalen Meisterschaft der britischen Football Association (FA) abgekoppelt und wird von den Vereinen selbst organisiert und vor allem selbst vermarktet. Auch in Deutschland haben sich die Vereine mit der Gründung der Deutschen Fußball Liga (DFL) ein Instrument an die Hand gegeben, mit dem sie dem DFB entgegentreten und drohen können.

Fußball in Deutschland

Auch im deutschen Fußball geht die Entwicklung immer mehr dahin, dass Vereine nicht mehr als Privatbesitz elitärer Mäzene ganz im Sinne deutscher Provinzvereine geführt werden. Vielmehr werden diese zu solide geführten Wirtschaftsunternehmen umgebaut. Früher wurden Präsidenten praktisch auf Lebenszeit verpflichtet, die Kaderstruktur der Vereine sorgte dafür, dass Posten und Pöstchen hin- und hergeschoben wurden, um bestimmten Personen ein nicht selten lebenslanges Auskommen zu ermöglichen. Ob sie von der Thematik nun Ahnung hatten oder nicht, spielte keine wesentliche Rolle.
Immer mehr werden die Führungspositionen mit Personen besetzt, die sich zum einen im sportlichen Bereich auskennen und gleichzeitig wirtschaftlichen Sachverstand mitbringen.
Der Prozess geht in Deutschland jedoch wesentlich langsamer vonstatten als in anderen europäischen Staaten. In Deutschland existiert eine lebendige Tradition, die den Fußball eng an das nationale Wohl koppelt. Während sich Fußball in Großbritannien, Frankreich oder der Schweiz im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als Unterschichtensport etablierte, der von vornherein Gesetzen des Marktes zu gehorchen hatte, dominierte in Deutschland noch die Turnerbewegung. Diese verfocht als Schule für Nation, Volk und Krieg keine kommerziellen, sondern lediglich völkisch-nationale Ziele.
Fußball war als jüdischer Materialismus bzw. Amerikanismus verschrien, dem die ideellen Werte von Volk und Vaterland fehlten. Erst der konsequente Dienst an der Nation sorgte schließlich für den Durchbruch des Fußballs. Der DFB entledigte sich dabei seiner kosmopolitisch-jüdischen Gründergeneration und wurde zur völkischen Paradeorganisation der Weimarer Republik und schließlich des Nationalsozialismus.(7) Der Fußball stellte sich freiwillig in den Dienst am Vaterland, begriff sich selbst als Schule für den Krieg und für die Erziehung zum wahrhaft Deutschen. Nicht verwunderlich, dass der DFB noch vor den Erlässen der nationalsozialistischen Führung seinen Verband von Juden und »Volksfremden« säuberte.
Spätestens mit dem NS war Fußball in Deutschland immer auch ein nationales Ereignis. Nach 1945 wurde Fußball zum nationalen Platzhalter, dort wo überschäumender deutscher Nationalstolz eine gewisse Zeit nicht angebracht schien. Das »Wunder von Bern« 1954, der Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die ungarische »Übermannschaft« sorgte schließlich für die nationale Euphorie, die anderorts so nicht zu äußern war: Wir sind wieder wer!
Und so wundert es nicht, dass man sich in Deutschland enorm lange dagegen gewehrt hat, den Fußball aus dem Dienste der Nation zu entlassen und dem Markt anheim zu stellen. Bis in die sechziger Jahre hielt man hierzulande am Amateurstatus fest und verweigerte sich einer einheitlichen Fußballliga. Fußball als Berufssport würde zum Selbstzweck verkommen, die hehren Ideale - Stärkung der Gemeinschaft, körperliche Ertüchtigung etc. - dem Mammon geopfert. Deutschland war das letzte westeuropäische Land, das 1962 eine einheitliche erste Liga einführte und das Berufsspielertum erlaubte. Erst 1974 wurde schließlich die Gehaltsobergrenze abgeschafft.
Die Verbindung von Nation und Fußball entfaltete sich mit aller Kraft 1990. Der Sieg der deutschen Nationalmannschaft im Finale gegen Argentinien beflügelte den so schon wallenden Nationalismus nach dem Ende der DDR. Der damalige Nationaltrainer Franz Beckenbauer befand: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.«(8) Im Siegesrausch verkündete er, Deutschland sei nun auf Jahre wenn nicht gar Jahrzehnte unschlagbar. Eine Stimmung, die in diesen Tagen ganz Deutschland erfasste und sich u.a. in einer Pogromwelle, die bis Mitte der neunziger Jahre anhielt, äußerte.
Der nationale Taumel fand nicht nur auf den Straßen sondern ebenso in den Stadien statt. Nationalismus, Antise-mi-tismus und Rassismus wurden zum Standardrepertoire na-hezu aller Fußballvereine. Bei Auftritten dunkelhäutiger Spieler hallten tausendfach Urwaldgeräusche durch die Stadien und rauschten Bananen hernieder. Nahezu jede Fankurve baute verbal U-Bahnen nach Auschwitz, in denen die gegnerischen Fans hineingewünscht wurden, nach Fußballspielen kam es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen auf MigrantInnen, Linke, Obdachlose etc.
Es war vor allem der Umbau der Vereine zu Fußballunternehmen, der für eine Zivilisierung sorgte. In Deutschland ist seit den neunziger Jahren ein neuer Fußballboom zu verzeichnen, der mit dazu führte, dass die Kommerzialisierung vorangetrieben wurde. Fast alle Clubs umgeben sich mit Beteiligungsgesellschaften, bauen neue Stadien, in denen es teils luxuriös zugeht und sichern sich dadurch höhere Einnahmen. Fernseh- und Markenverwertungsrechte bringen Millioneneinnahmen. Nicht mehr der Unterschichtenpöbel ist das avisierte Publikum, sondern die zahlungskräftige Mittelschicht. Das hat Auswirkungen. Die permanente Präsenz gewalttätiger, nationalistischer und rassistischer Fans steht der optimalen Vermarktung im Wege, weil deren Exzesse das Bild im Ausland beschädigen zudem Bereitschaft ausländischer Spieler, ein Engagement bei einem deutschen Verein anzunehmen, negativ beeinflussen.
Augenfällig wird diese Entwicklung auch beim DFB. Über Jahrzehnte war er ein Paradespiel für völkischen Nationalismus. Bis ins Jahr 2000 weigerte sich dieser, sich überhaupt mit seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus zu beschäftigen. Bis heute steht an dessen Spitze Gerhard Mayer-Vorfelder, der ohne Scheu nationalistische und rassistische Positionen verkündet: »Ich bin stolz ein Deutscher zu sein. […] Unsere Geschichte besteht nicht nur aus zwölf dunklen Jahren« oder »Was wird aus der Bundesliga, wenn die Blonden über die Alpen ziehen und statt dessen die Polen, diese Furtoks und Lesniaks, spielen?«(9)
Zunächst hat sich mit der Gründung der Deutschen Fußball Liga (DFL) eine Organisation gebildet, die vor allem die kommerziellen Interessen der Vereine gegen die nationalen des DFB durchsetzt. Die stetige Aufweichung der »Ausländerregel« - also wie viele »Ausländer« in einem Team gleichzeitig spielen dürfen - ist nicht nur auf einschlägige Urteile europäischer Gerichte zurückzuführen. Es ist schlicht das Interesse der Vereine, die Führungspersonen verpflichten zu dürfen, die sie für ihre Unternehmen haben wollen.
Der DFB selbst machte seine eigene Zivilisierung durch, indem er die Aufarbeitung seiner Geschichte zögerlich anschob und mit allerlei Maßnahmen den Rassismus in den Stadien zu bekämpfen versucht. Mayer-Vorfelder wurde ein geschäftsführender Präsident zur Seite gestellt -ein einmaliger Vorgang in der über 100-jährigen DFB-Geschichte.
Die Kommerzialisierung zeitigte nebenher auch zivilisierende Effekte. Die Urwaldgeräusche sind aus den Stadien der Bundesliga nahezu verschwunden, die Hetze gegen ausländische Spieler weitestgehend eingestellt. Die Vereine setzen auf Multi-Kulti, völkischer Rassismus gilt zunehmend als verpönt. Die Nationalmannschaft verliert ihren Nimbus als Gemeinschaft von kräftigen Germanen und erscheint zunehmend als Ensemble von Popstars.
Diese Entwicklung ist jedoch umstritten. Besonders BILD ergeht sich regelmäßig in Hetztiraden gegen die vermeintliche Aufgabe des Nationalen. Als die deutsche Nationalmannschaft bei der EM 2000 bereits in der Vorrunde ausschied und die Spieler dennoch wagten, eine Abschlussfeier zu veranstalten und, laut BILD, bis in die Morgenstunden den »Anton aus Tirol« zelebrierten, wurden sie publikumswirksam des Landesverrats bezichtigt. Das Geld sei ihnen mittlerweile wichtiger als das Land. Und als Gerald Asamoah als erster dunkelhäutiger Spieler der Nationalmannschaft im Jahre 2001 sein Debüt gab, schrieb BILD-Chefkolumnist Franz Josef Wagner skeptisch: »Natürlich war auch ich einer von vielen, die gespannt waren, wie Sie die Nationalhymne mitsingen. […] Sie haben […] die Situation gemeistert, indem Sie Ihre Lippen nicht bewegten […] Sie sind der erste Schwarze in der Nationalelf […] Sie sind nicht gemischten Blutes. Ihr Vater ist schwarz, Ihre Mutter ist schwarz, Sie sind vom reinen Schwarz Afrikas […] Sie sind der erste ausländische Junge, wie ihn sich die Politiker wünschen. Der Ausländer lebt bei uns, der Ausländer spielt bei uns […] Das ist okay, weil es ehrlicher ist, als die Lippen bei der Nationalhymne zu bewegen.«
Trotz aller vermeintlichen Verwerfungen im Zuge der Kommerzialisierung des Fußballs ist man hierzulande noch immer stolz, sich dieser nicht zu ergeben. Die Kooperation aus Nation und Fußball wird nicht über den Haufen geworfen, sondern lediglich modernisiert. Die Süddeutsche Zeitung nennt dies das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft: »Diese Dialektik ist Ausdruck einer spezifisch deutschen sozialdemokratischen Variante von Fußballkapitalismus. Zwischen den Fans und den Klubs besteht eine Art unerklärter Sozialpartnerschaft.«(10)

Das System Klinsmann

Bisher ist also der Umbau der Vereine und der Verbandstruktur noch nicht sonderlich weit vorangeschritten. Allerdings hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sowohl die Vereine als auch der Verband (DFB) marktwirtschaftlich organisiert werden müssen, um im internationalen Geschäft Schritt halten zu können. Zu viel wurde seit dem Erfolg der deutschen Nationalmannschaft im Jahre 1990 versäumt, um mit den weltweiten Entwicklungen mithalten zu können.
Die Umgestaltung des Fußballs hat im Jahr 2004 einen Namen und ein Gesicht erhalten: Jürgen Klinsmann. Er steht für ein modernisiertes Modell nationaler Repräsentation. Er soll die Verbindung von kommerziellen Fußball und nationaler Semantik aufrechterhalten und auf die Höhe der Zeit bringen. Er ist das perfekte Beispiel des neuen, modernen Fußballs. Man kann ihn getrost als Repräsentanten des zivilgesellschaftlichen Deutschlands und als idealen Widerpart zur völkischen Riege des DFB verstehen. Dass Klinsmann und sein Gefolge zum Führungsstab der Nationalmannschaft wurden, hat im Endeffekt zwar doch überrascht, steht aber deutlich für den Wunsch des DFB, sich von alten verknöcherten Strukturen zu befreien.
Das Programm der drei führenden Protagonisten des Umbaus, Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Oliver Bierhoff, ist durchaus als ambitioniert zu bezeichnen. Ihnen geht es darum, den deutschen Fußball im Ganzen zu modernisieren. Zunächst vollzieht sich das im fußballerischen Bereich. Klinsmann hat das Personal um spezielle Fit-ness-Trainer, Psychologen, PR-Manager, Mental-Trainer etc. erweitert. Das Training sowie die Ausgestaltung des fußballerischen Umfelds der Nationalspieler orientieren sich an modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und sind nicht aus dem Lehrbuch des DFB-Trainerlehrgangs exzerpiert. Klinsmann selbst sieht sich nicht als allmächtigen Trainergott, sondern setzt auf moderne Teamarbeit, seine Ziele und Mittel bespricht er mit seinen Getreuen im DFB ebenso wie mit dem Führungspersonal seiner amerikanischen Sportmarketing-Firma. Der distanzierte Blick von Los Angeles aus gilt ihm als strategischer Vorteil.
Dies könnte auch ein Grund dafür sein, warum Jens Lehmann von Klinsmann eine Chance als erster Torwart der Nationalmannschaft eingeräumt bekommt, während ganz Deutschland den strammen Germanen Oliver Kahn im Tor sehen möchte. Lehmann ist bekannt dafür, eine gewisse Distanz zum typisch deutschen Spiel zu besitzen. Vielmehr betont er Dynamiken und beschäftigt sich mit modernen Formen des Fußballspiels, so dass sich viele Gemeinsamkeiten in den Aussagen Lehmanns und Klinsmanns herauslesen lassen. Und so ist es auch kaum als Zufall zu bezeichnen, dass gerade Lehmann die typisch deutsche Spielweise für überholt hält. In einem Interview hieß es: »Fußball hat noch viel mit Hierarchien zu tun. Wer ist Führungsspieler? Wer ist Chef? Das wird völlig übertrieben [… ] Frage: Legionäre wie Johan Micoud halten das Gerede vom Führungsspieler für typisch deutsch. Lehmann: Auf jeden Fall. Vielleicht kommt das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus.«(11)
Doch die Nationalmannschaft soll nicht nur modernen Fußball spielen, sondern insgesamt als eine moderne Institution auftreten. Klinsmann trainiert bei seinen Kickern nicht nur das Fußballerische, sondern ebenso das Mentale, Kommunikationsfähigkeit etc.. Wie nötig dies ist, demonstrierte eindrucksvoll der damalige Nationalspieler Mario Basler 1997 beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Beim Gang durch die Gedenkstätte war dieser sichtlich geschockt und hatte schließlich seinen Trainer Berti Vogts gefragt: »Das kann doch nicht wahr sein. Hat's so etwas wirklich gegeben, Trainer?« worauf ihm Vogts antwortete: »Doch, so war es.« Basler, völlig fassungslos, dass es so etwas gab und er noch nie etwas davon gehört hatte: »Das kann doch nicht wahr sein.«(12)
Auch wenn sich Klinsmann selbst zurückhält, wird sein System in der Öffentlichkeit als Ausdruck des neuen modernisierten Deutschlands verstanden. Das »System Klinsmann« sei dasjenige, das - wahlweise - die Aufbruchstimmung des modernen zivilgesellschaftlichen Deutschlands repräsentiert oder die Aufbruchstimmung produziert, die auch für Deutschland von Vorteil sei. In der Zeit heißt es: »Er gilt als Deutschlands mutigster Reformer. Der Mann ist nicht Bundeskanzler, sondern Bundestrainer. Er heißt Jürgen Klinsmann, und er wird langsam so etwas wie der heimliche Regierungschef des FC Deutschland.«(13) In der Welt liest sich das ganz ähnlich. Unter der Überschrift »Wie Deutschland wieder Weltmeister wird« heißt es. »Die Bundesrepublik ist wie ein Fußballteam […] Im Jahr vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land gelingt es nun Jürgen Klinsmann, die deutschen Tugenden mit einer international orientierten schnellen Spielweise zu verbinden und dabei Begeisterung beim Publikum zu wecken. Zuletzt hat sich unser Team sehr gut präsentiert, ist sympathisch und weltoffen. Im System Klinsmann wurden alte Zöpfe abgeschnitten und neue Spieler, Methoden und Visionen eingeführt […] Die Notwendigkeit einer zusammenhängenden Analyse ist offensichtlich, das vergleichende Bild einer Mannschaftsaufstellung, der ›Elf für Deutschland‹ ist hilfreich: Wir brauchen flexible Arbeit in der Abwehr, ein darauf abgestimmtes Spielsystem von Sozial- und Steuerregelungen, um vor allem über Bildungsanstrengungen aus dem Mittelfeld heraus Dynamik für den Angriff in der globalen Liga zu erzeugen.«(14)
Weltoffenheit wird demonstriert, aber all das bedeutet mitnichten das Ende des Nationalen im deutschen Fußball, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlich zu beobachtende Modernisierung des Nationalen. Repräsentanten des neuen Deutschlands sollen keine grätschenden Raubeine sein, die in keinem Interview bestehen, das den Bereich Fußball verlässt, sondern weltoffene Popstars, die ihr Land nicht nur auf dem Fußballplatz würdig vertreten können.
Dass dieses System nicht unumstritten ist, versteht sich von selbst. Sobald es fußballerisch mal nicht so läuft, sehen die Breitners, Beckenbauers, Maiers, Mayer-Vorfelders und andere Kämpfer der alten Garde besonders in der Bild ihre Stunde geschlagen, um mit dem vaterlandslosen Gesellen Klinsmann abzurechnen. Zu modern, zu brachial und nicht mal in Deutschland wohnend sei er kaum geeignet die gute alte Institution deutsche Nationalmannschaft zu führen. Auch wenn der Erfolg solcher Kampagnen wesentlich vom Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft abhängt, lässt sich feststellen, dass das Grundanliegen des Systems Klinsmann gesellschaftlich geteilt wird. In der Zeit heißt es dazu treffend: »Wir sind noch wer, diese Botschaft soll von der Weltmeisterschaft ausgehen - politisch wie sportlich. Es ist die letzte Gelegenheit für lange Zeit, den deutschen Fußball und die deutsche Nation gemeinsam aus der Depression der letzten Jahre herauszureißen.«
Die Einheit von Nation und Fußball auf der Höhe der Zeit herzustellen, das sei die Aufgabe Klinsmanns, die er zu einem großen Teil bereits erfüllt hat.

Fußnoten:

(1) BILD vom 16. Juni 2004.

(2) Zit. nach Markus H.W. Flohr, Rote Karte für Fußball-Greencards? Nationale Pässe in den freien Raum, in: Gerd Dembowski, Jürgen Scheidle (Hrsg.), Tatort Stadion. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball, Köln 2002, 68.

(3) Zit. nach Dietrich Schulze-Marmeling, Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports, Göttingen 2000, 179.

(4) Dabei ist der Trikotverkauf nicht mehr nur nützlicher Nebeneffekt sondern zunehmend Hauptgrund. Für Manchester United hatte sich das Produkt Beckham irgendwann totgelaufen, es ließen sich nur noch bedingt Trikots mit seinem Namenszug absetzen. Für Real Madrid hingegen war Beckham eine völlig neue Marke, die sich gewinnbringend vermarkten ließ und darum interessant. Auch Takahara ist Teil der Strategie des Hamburger SV, den asiatischen Markt zu erschließen. Die Verpflichtung Takaharas wurde durch eine Asien-Tour des HSV begleitet. Gleichzeitig wurde im Zusammenhang mit dessen Verpflichtung immer wieder die Tatsache benannt, dass man sich hierdurch Verkaufserlöse aus Takahara-Trikots in sechsstelliger Höhe erwarte.

(5) Hagen Rudolph, Management der 1. Liga. Mit den Strategien des FC Bayern München zum Erfolg, Planegg bei München 2002, 212.

(6) Die Monopolstellung einzelner Vereine in ihren nationalen Ligen führt dazu, dass die Fußballsaison kaum mehr Überraschungen bereithält. Damit verliert jedoch die gesamte Liga an Attraktivität, was wiederum auch auf die Spitzenvereine zurückschlägt. Die Meisterschaft in Spanien wird regelmäßig zwischen FC Barcelona und Real Madrid ausgespielt, in England dominiert unschlagbar der FC Chelsea, während in Deutschland Bayern München zunehmend als unschlagbar gilt. In den Vereinigten Staaten z.B. wurden die großen Ligen genau aus diesem Grund anders organisiert. Das Auf- und Abstiegssystem existiert so nicht, um die Verschuldung von Kleinvereinen zu vermeiden, schlechte Vereine können sich am Jahresende auf dem Transfermarkt als erste bedienen, damit die Liga immer spannend bleibt. Solche Methoden existieren im (europäischen) Fußball nicht.

(7) Gegen die unzähligen belanglosen Fußballbücher sind hier vor allem zwei wegweisende Arbeiten zu empfehlen: Arthur Heinrich: Der Deutsche Fußballbund. Eine politische Geschichte, Köln 2000 und Gerhard Fischer, Ulrich Lindner: Stürmer für Hitler. Vom Zusammenspiel zwischen Fußball und Nationalsozialismus, Göttingen 1999.

(8) Zit. nach Flohr, Rote Karte, 68.

(9) Zit. nach G. Dembowski, J. Scheidle (Hrsg.), Tatort Stadion, 170.

(10) Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2005.

(11) Rund, Nr. 11, November 2005, 47/8.

(12) Zit. nach G. Dembowski, J. Scheidle (Hrsg.), Tatort Stadion, 86.

(13) Die Zeit, Nr. 51/2004 vom 09. Dezember 2004.

(14) Welt am Sonntag, 24. Juli 2005.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel ist eine Spiegelung von
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