Von Erwerbsloseniniatitiven wird
gelegentlich der Verdacht geäußert, die »Arbeitsmarktreformer«
wollten uns ins Mittelalter zurückkatapultieren. Tatsächlich
entspricht die Höhe des geplanten Arbeitslosengeldes II der
eines Tagelohns von vor 600 Jahren, nur konnten damals auch arme
Menschen aufgrund des Gemeineigentums an Wald und Weideland
bescheiden überleben. Heute sind wir der Willkür von Staat und
Bürokratie absolut ausgeliefert.
Nach mir vorliegender, bestimmt nicht repräsentativer
Information, verdiente ein Tagelöhner um das Jahr 1400 im
städtischen Milieu Süddeutschlands drei bis fünf »silbern
Pfennig«, ein qualifizierter Handwerker das zwei- bis vierfache.
Zwölf dieser Pfennige wurden »durch alle Königreich (...) für
ein(en) gülden Werth« gerechnet. Über diesen »gülden Werth«
bestimmt der Sachsenspiegel um 1230: »Das ist zwei Ochsen zum
Pflügen oder eine (Milch-)Kuh mit Kalb«. Nach amtlichem
Münzedikt von 1409 wurden vom »rheinischen Goldgulden« 66 Stück
aus der »rauhen cöllnischen Mark« (= 233,696 metrische Gramm)1
zu 22 Karat »geschlagen«, was einem Feingoldgehalt von 3,4258
Gramm entspricht.
Seit der Renaissance – dem Beginn der massiven Edelmetallimporte
aus dem späteren »America« – hat sich der Geldwert einer
durchschnittlich qualifizierten Arbeitskraft bei zweieinhalb bis
fünfeinhalb Kilogramm Feingold pro Jahr eingependelt: 1512
betrug das Jahresgehalt des Professors Pietro Pomponazzi an der
Universität Bologna 1 600 Dukaten (à 3,488 g zu 23 3/4 Karat,
also insgesamt 5 522 2/3 Gramm Feingold). Aus der gleichen
Epoche (frühe Neuzeit) berichten die Gebrüder Grimm, daß der –
eher dümmliche – Held des Märchens »Hans im Glück« als Lohn für
siebenjährige »treue Dienste« ein Goldstück erhält, »so groß wie
Hansens Kopf«. Dieses trägt Hans zwar zunächst fröhlich von
dannen, aber mit der Zeit wird es unerträglich schwer.
Realistisch geschätzt, ergibt sich eine Last von nicht weniger
als 15 und nicht mehr als 25 Kilogramm. Dies wiederum entspricht
einem Geldlohn von zwei- bis dreieinhalb Kilogramm Gold pro Jahr
– zusätzlich zu Kost und Logis nebst allem andren, was der
»treue Hans« während siebenjähriger Arbeitszeit so verbraucht
hat.
Zu ähnlichem Wertresultat kommt die Untersuchung des
Statistischen Bundesamts von 1996 (veröffentlicht in »Wirtschaft
und Statistik«, 2/1999) über »durchschnittliche Arbeitskosten«
in ausgewählten Branchen: Zwischen 56 000 (Textil und Leder) und
108 000 (Chemie) Deutsche Mark müssen bundesdeutsche Unternehmen
für die gewöhnliche Arbeitskraft aufbringen – dividiert durch 20
400 ergibt sich die Feingoldmasse in Kilogramm.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beträgt der Wert des
gesellschaftlichen Gesamtprodukts pro Kopf der Bevölkerung
Deutschlands – vom Säugling bis zur hundertjährigen Oma – rund
24 000 Euro jährlich, was gewöhnlich als »Volkseinkommen«
bezeichnet wird. In mittelalterliche »Wehrung« (rheinischer
Goldgulden nach dem Münzfuß von 1409) umgerechnet, sind das
exakt zwei »Gülden« pro Person und Kalendertag.
Offensichtlich glauben die »Modernisierer des Sozialstaats«
Hartz & Co. im Jahr 2004, die kalendertägliche Zuteilung eines
mittelalterlichen Tagelohns an einen Haushaltsvorstand (die vier
Pfennig von 1409 entsprechen – fast – genau den 11,50 Euro in
2005) sei eine hinreichende Lebensgrundlage. Sie »vergessen«
dabei geflissentlich die Folgen: Ab 1419 überrannten
aufständische Volksmassen – »Hussitenkrieg« – von Böhmen aus
(damals das industriell höchstentwickelte Land Europas) die
Nachbarländer. Zur Zeit der »sächsischen Münzreformation« von
1444 war es hier keine Seltenheit, daß eine ärmere Familien als
gesamten Geldvorrat gerade »einen einzigen Heller im Haus«
hatte. Die früher mal aus bestem Silber gefertigte Münze war um
1420 schon »soweit herumgekommen, daß
deren zweie (noch) einen Pfennig ausmachten«.
Frau stelle sich bitte heute eine zehnköpfige Familie vor, die
über ein Gesamtvermögen von 1,43 Euro verfügt.
1) Die
cöllnische Mark wird offziell mit 233,8555 Gramm angegeben,
seit zirka 1736 ein deutsches Münzkonvent beschloß, daß alte
cöllnische Originalgewicht durch die »beste« (= schwerste)
Kopie aller deutschen Münzstätten zu ersetzen
Editorische Anmerkungen
Der Artikel
erschien am 30.8.2004
in der Jungen Welt.
Dort befindet er sich mittlerweile im passwortgeschützten
Archiv. Wir wurden daher von der Autorin um die
Zweitveröffentlichung gebeten.
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