Konfliktende in Frankreich? Streiks und Massendemonstrationen
sind vorerst abgeklungen, nachdem die konservative Regierung
unter Dominique de Villepin einen wichtigen Teilrückzieher
bekannt gegeben hat und den «Ersteinstellungsvertrag» CPE
zurückzog. Aber eine aktive Minderheit machte noch bis in die
vorletzte Aprilyoche hinein weiter mit – oft symbolischen -
Blockadeaktionen, mit kleineren Protestzügen oder Besetzungen
öffentlicher Institutionen. Ihre Aktionen richteten sich vor
allem gegen die fortdauernde Gültigkeit aller übrigen
Bestimmungen des Gesetzespakets namens «Gesetz zur
Chancengleichheit», nachdem der darin enthaltene Artikel zur
Einführung des «Ersteinstellungsvertrags» CPE zurückgezogen
worden ist.
Die Repression
Nicht zu Ende ist der Konflikt mit den politischen und
wirtschaftlichen Machthabern aber auch, unzweifelhaft, für die
zahlreichen Betroffenen der staatlichen Repression. Selten fiel
diese in den letzten Jahrzehnten derart massiv aus, angesichts
einer sozialen und politischen Protestbewegung von solcher
Breite und gesellschaftlicher Verankerung. Seit Anfang März
wurden über 4.300 Festnahmen binnen weniger Wochen verzeichnet.
Nur
auf Paris bezogen waren es (laut ‘Libération' vom 15./16. April)
2.143 Festnahmen, zuzüglich 1.478 Personalienfeststellungen. 547
Personen wurden in Polizeigewahrsam gehalten. Damit ist
zahlenmäßig beinahe das «Niveau» der Verhaftungen infolge der
Riots in den Banlieues im Oktober/November 2005 erreicht: In
ihrem Verlauf wurden damals insgesamt 4.700 Personen
festgenommen, und später über 1.000 verurteilt, mehrheitlich zu
Haftstrafen, von denen ein Teil ohne Bewährung verhängt wurde.
Schon zu einem frühen Zeitpunkt der Anti-CPE-Bewegung, Ende
Februar, hatte die studentische Streikkoordination ihre
kollektive Amnestie bzw. Freilassung gefordert. Inzwischen gibt
es einen neuen Appel, den unter anderem die KP-nahe Tageszeitung
‘L'Humanité' powert, unter dem Titel: «Nein zum repressiven
Furor – Amnestie für die Jugendlichen aus der Anti-CPE-Bewegung».
Der Aufruf erschien auf der Titelseite von ‘L'Humanité' vom 13.
April und wird durch ein breites Bündnis von Kräften
unterstützt, von der radikalen Basisbewegung «Droits devant»
über die CGT bis hin zur altehrwürdigen Bürgerrechtsorganisation
«Liga für Menschenrechte» (LDH). Am vorletzten April-Wochenende
hatten inzwischen schon über 10.000 Personen den Aufruf
unterzeichnet, der auch auf der Homepage der Tageszeitung
publiziert ist (http://www.humanite.presse.fr/petition/meta828136
; dort wurden zum selben Zeitpunkt gut 7.000 Unterschriften
vermeldet, aber darunter sind viele Kollektivunterschriften von
mehreren Personen).
Auch
die Justizmaschinerie arbeitet nämlich auf vollen Touren. Allein
in der französischen Hauptstadt wurden bis Mitte April schon 85
Personen in Eilverfahren den Richtern vorgeführt (gemäß der
Prozedur der ‘comparution immédiate', die bei Flagranti-Delikten
angewandt wird und bei der die Angeklagten von der Verhaftung
bis zum Urteilsspruch in den Händen der Justizpolizei bleiben).
128 andere Personen erhielten Vorladungen der Justiz für die
kommenden Wochen und Monate. In ganz Frankreich laufen aktuell
Strafverfahren gegen 1.270 Personen.
Schlechte Anklagedossiers und Haftstrafen ohne Bewährung
Die
Anklagen sind häufig offenkundig schlecht konstruiert, beruhen
auf Aussagen von Polizeizeugen und enthalten mitunter flagrante
Widersprüche: Der Angeklagte wird durch die Polizeizeugen in
ihren Aussagen als Träger eines langen dunklen Mantels betrieben
– wurde aber mit einer kurzen hellen Jacke aufgegriffen, die er
auch im Gerichtssaal trägt ? Macht nichts, eine Verurteilung
(seien wir großzügig, die Haftstrafe können wir ja zur Bewährung
aussetzen) als «Warnung» kann doch nicht schaden. In einem
anderen Fall kommt ein junger Angeklagter dagegen gerade noch
davon, nachdem ein Polizist infolge seiner Festnahme steif und
fest behauptete, er habe am 16. März, also drei Wochen vorher
(!) Gegenstände geworfen : «Ich habe mir seine markanten
Gesichtszüge gemerkt». Dumm gelaufen – der Angeklagte konnte
beweisen, dass er sich am 16. März fernab der Pariser Demo
aufhielt. So mokiert die linksliberale Tageszeitung ‘Libération'
(o.g. Ausgabe) in ihrem Überblicksbericht schon in der
Artikelüberschrift «Die leeren Akten der Anklage».
Anfänglich erschien es so, als komme dieses Prozedere vor allem
gegen Jugendliche aus Unterschichtsfamilien in den
Trabantenstädten, oftmals mit Migrationshintergrund, also gegen
‘jeunes de banlieue' zur Anwendung. Doch die Pariser Anwältin
Dominique Noguères beschreibt in der KP-Tageszeitung
‘L'Humanité' vom 13. April eine andere Tendenz: «Im Laufe der
Anhörungen erhielt ich wirklich den Eindruck, dass man diesen
Jugendlichen ‘aus gutem Hause' eine Lektion erteilen wollte, um
ihnen zu verstehen zu geben, dass man sich gefälligst von
Demonstrationsplätzen nach Auflösung der Versammlung fern hält.
In ihren Fällen zögert man nicht, kürzere Haftstrafen ohne
Bewährung zu verhängen, da man schätzt, dass sie schon nicht
ihre Aussichten deshalb verlieren werden, weil ihre Familien ja
für sie da sei. Aber man kommt nie unbeschadet aus dem Gefängnis
heraus.»
Demnach ging es eher darum, eine soziale «Entmischung» zu
befördern, indem man den Jugendlichen aus den Mittelschichten
signalisiert, dass sie sich von den Banlieuejugendlichen – die
nach Demoauflösung gerne da bleiben, um ein Hühnchen mit der
Polizei zu rupfen – und Anarchisten besser fern halten. Allem
Anschein nach zielte die Repression im übrigen besonders gezielt
(und bewusst) auf politisch organisierte Teilnehmer/innen der
Proteste bzw. so genannte "Rädelsführer". Die Tageszeitung
L'Humanité vom 20. April etwa zitiert den Rechtsanwalt
Bertard Fayn mit den Worten: "Das nennt sich Repression gegen
eine soziale Bewegung, sonst nichts. (...) Im Allgemeinen tritt
klar hervor, dass die Polizeikräfte versuchen, in erster Linie
die Wortführer zu verhaften." Natürlich sind letztere nicht die
"Gewalttätigsten", auch nicht aus bürgerlicher Sicht - aber die
Repression verfolgt demnach ein vorwiegend politisches Ziel. In
den Reihen der Oberschüler/innen-Gewerkschaft UNL (Union
nationale lycéenne; vom linken Flügel der Sozialistischen partei
dominiert) wurden sowohl ihr nationaler Sprecher Karl Stoeckel,
anlässlich einer Blockadeaktion auf dem Boulevard périphérique
(der Ringautobahn rund um Paris) Ende März, als auch ihre
Vorsitzenden in Bezirken um Marseille, Avignon und Nizza
verhaftet. Der Bezirksvorsitzende im ostfranzösischen Mulhouse
verbrachte mehrere Stunden im Polizeigewahrsam. Ähnlich
berichtet auch die undogmatisch-trotzkistische
Jugendorganisation JCR, dass die Polizei in Nanterre gezielt
gewalttätig gegen einen ihren führenden Aktivisten vorgegangen
sei, ohne dass dieser irgendwie militant aktiv geworden wäre.
Mehrfach erwähnen Berichte (in ‘Libération` oder dem ‘Journal du
dimanche') auch, dass Angeklagte mit blauem Auge oder anderen
Spuren von Schlägen, die bei der Festnahme entstanden, vor ihren
Richter traten.
Aber
auch die verhängten Strafen haben es oftmals in sich. In ganz
Frankreich wurden (bis zur letzten Aprilwoche) bereits insgesamt
78 Haftstrafen ohne Bewährung, und 167 mit Bewährung verhängt,
mehrwöchige oder gar mehrmonatige Freiheitsstrafen. Die
häufigsten Urteilsgründe sind Beamtenbeleidigung, Widerstand
gegen die Staatsgewalt (bei der Festnahme) und in einigen Fällen
der Einsatz von «Wurfgeschossen» auf Polizisten, auch wenn die
angeblich oder tatsächlich geworfenen Gegenstände – angefangen
bei leeren Bierdosen - häufig ihr Ziel verfehlten. An solchen
Handlungen beteiligten sich landesweit tausende auch «normaler»,
vor allem studentischer Demonstranten. Eine Hochburg solcher
Ansätze von Massenmilitanz lag etwa im westfranzösischen Rennes,
wo bereits im Vorfeld eine gewisse studentische Tradition
entstand – seit anderthalb Jahren scheppert es dort einmal pro
Woche, aufgrund eines Streits um die Sperrstunde im
Studentenkneipenviertel.
Nicht bekannt ist dagegen, dass bisher auch nur ein einziger
Jugendlicher oder junger Erwachsenen aufgrund von Gewalttaten
gegen Demonstrantinnen verurteilt worden wäre, die es auch
gegeben hatte und die für die besonders schockierenden Bilder
vom 23. März 06 aus Paris sorgten. In Wirklichkeit waren solche
Überfälle, die sich gegen Teilnehmer richteten und in der Regel
nach der Auflösung der großen Demonstrationen erfolgten, auf
einzelne Mobilisierungsdaten beschränkt. Am gravierendsten waren
die Gewalttaten am 23. März in Paris vor dem Invalidendom, wo
einige hundert oder tausend Demonstranten im Anschluss an den
Protestzug auf dem Platz verblieben, um abzuwarten, was
passieren würde. Denn einige Gruppen hatten dazu aufgerufen,
danach noch – trotz Verbots – vor das nahe gelegene Parlament zu
ziehen. Durch den Abzug der Ordnerdienste entfiel, im selben
Moment, der passive Schutz der Demos durch die zuvor gebildeten
Ketten. Der Sicherheitsapparat ging mit dieser Gewalt um, wie es
sich aus einer Herrschaftsperspektive heraus gebührt: Er nahm
sie nicht als Problem wahr, das ihn zu kümmern hätte - sondern
konzentrierte sich auf die Festnahme von Parolen, die etwa
Schmähparolen gegen Polizisten gerufen hatten.
Doch
diese Erfahrung hat doch für eine größere politische Konfusion
gesorgt. Ein Teil der «moderaten» Regierungskritiker, etwa die
parlamentarische Opposition, riefen daraufhin nämlich nach
«stärkerer Sicherheit» und scholten die Polizei der Untätigkeit
- obwohl diese gar nicht passiv geblieben war, aber eben klare
Prioritäten in ihrem repressiven Vorgehen verfolgt hatte.
Innenminister Nicolas Sarkozy antwortete darauf mit dem
«Angebot», dann möge man doch bitte erlauben, dass Polizisten in
Zivil oder in Uniform auch innerhalb der Demonstrationsgblöcke,
also hinter den Ordnerketten, in Einsatz kommen könnten. Dieses
Ansinnen wurde durch die größte Gewerkschaft, die CGT, zwar
deutlich zurückgewiesen.
Aber
im Gegenzug beteiligte sich der Ordnerdienst der CGT bei der
vorletzten Pariser Großdemo zusammen mit Zivilpolizisten an
einer Prügelaktion gegen Banlieuejugendliche. Diese wurden
überwiegend durch ihr Aussehen identifiziert, und beileibe nicht
alle dürften mit aggressiven Absichten gegen Demonstrantinnen
gekommen sein. Erfahrungsgemäß kamen im
Pariser Raum rund 90 Prozent der Jugendlichen aus
Trabantenstädten, die in die Innenstädte hereinfuhren, zum
Demonstrieren wie alle anderen auch. Denn auch in den Banlieues
– vor allem im Norden von Paris – war die Protestbewegung massiv
verankert, es gab dort zahlreiche Besetzungen von Oberschulen,
auf die oft mit massiven Polizeiprovokationen geantwortet wurde.
Von den übrigen 10 Prozent wiederum strebte der Großteil vor
allem danach, ein Hühnchen mit der Polizei zu rupfen, oder
eventuell ohne Bezahlung in teuren Geschäften einzukaufen.
Vielleicht ein Prozent gehörte zu Jugendgangs, die auch
gewaltsam auf Demonstrierende einprügelten. Dieses Agieren von
einigen dutzend, maximal ein paar hundert Personen
hinterließdennoch prägende Bilder. Letztere beförderten manchmal
Segregationstendenzen innerhalb der Demos – die jungen weißen
Protestierenden auf der einen, Trabantenstadt- und und
Migrantenjugendliche auf der anderen Straßenseite -, und nur
unzureichend wurde als Skandal wahrgenommen, dass bei den
letzten Demos in Paris massive Polizeikräfte den Zugang zur
Hauptstadt für Teile der Banlieuejugend abriegelten. Sie
verhinderten etwa Anfang April am Pariser Nordbahnhof den
Übergang vom Vorortzug RER in die Metro.
Sarkozy für Verschärfung des Jugendstrafrechts
Frankreichs hyperaktiver konservativer Innenminister und
Präsidentschaftskandidat, Nicolas Sarkozy, forderte Mitte April
eine spürbare Verschärfung des Jugendstrafrechts.
Er stützte sich dabei auf "die Erfahrungen"
während der jüngsten Anti-CPE-Bewegung. Gleichzeitig plädierte
er für eine schärfst mögliche Auslegung bestehender
Rechtsvorschriften, um Teilnehmer an den Krawallen am Rande der
Demos verurteilen zu können. Die bisherige Bilanz der
Justizaktivitäten in diesem Zusammenhang sei enttäuschend, also
zu schwächlich, tönte Sarkozy. Damit verübt er zwar im Grunde
eine unautorisierte Einmischung in die Angelegenheiten seines
Ministerkollegen im Justizressort, Pascal Clément. Clément, ein
konservativer Scharfmacher (1981 zählte er innerhalb der
gespaltenen Rechten zu den Anführern jener Fraktion, die sich
der damaligen Abschaffung der Todesstrafe unter Francois
Mitterrand wiedersetzte), zieht jedoch genau am selben Strang.
In ministeriellen Anweisungen an die ihm untergebenen
Staatsanwälte forderte er diese zur Einhaltung einer harten
Linie auf.
Sarkozys Vorstoß ist jedoch nicht nur als
Reaktion des konservativen Innenministers auf die jüngste
Jugendrevolte im Zusammenhang mit dem Konflikt um den CPE zu
sehen. Vielmehr reiht er sich in eine Serie von Initiativen ein.
Im Jahr 2004 sowie im Dezember 2005 etwa wurden zwei vom Justiz-
bzw. vom Innenministerium bestellte Studien zum Umgang mit
Jugendkriminalität veröffentlicht, die es "in sich" haben. Die
erste, der Rapport Benisti (benannt nach dem hauptsächlichen
Verfasser), behauptet, Faktoren zur Kriminalitätsbildung seien
bereits für 2- bis 3jährige im Elternhaus auszumachen. Etwa
stellte es einen solchen Faktoren dar, wenn die Eltern mit den
Kids nicht, wie es sich gehört, Französisch sprechen. Doch doch,
denn die Kinder werden dadurch nachhaltig verdorben - wird ihnen
doch dadurch die Möglichkeit gegeben und nahe gelegt, später in
einem Geheimcode (nämlich ihrer Muttersprache) unter sich zu
kommunizieren, um so etwas vor ihren MitschülerInnen oder gar
Lehrern verbergen zu können. Und die zweite Studie, die im
vorigen Dezember von dem psychologisch-medizinischen Institut
INSERM vorgelegt wurde, behauptet, Anzeichen abweichenden
Sozialverhaltens, das zu Kriminalität führen könne, bereits bei
3jährigen mittels ihrer Betragens nachweisen zu können (etwa in
Form frühkindlicher Hyperaktivität). Der Bericht spricht einer
entsprechenden medizinischen und ggf. chemischen (pharmakologischen)
Behandlung das Wort. Hätte man dies nur rechtzeitig mit den
Jugendlichen von heute gemacht, dann hätten sie vielleicht nicht
den dummen Gedanken gefasst, gegen den CPE zu demonstrieren...?
Editorische Anmerkungen
Den Artikel
erhielten wir am 30.4.2006 vom Autor.
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