Berichte aus Frankreich
Was bleibt von der Anti-CPE-Bewegung ?
Bilanz und Versuch einer inhaltlichen Bewertung - Teil 2
Soziale Charakterisierung und gesellschaftliche Perspektiven


von Bernhard Schmid
05/06

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Das Hauptergebnis von über zwei Monaten heftiger Sozialproteste war der Rückzug des «Ersteinstellungsvertrags» CPE ( contrat première embauche ). Dies ist nicht unbedeutend, denn zum ersten Mal seit Antritt dieser konservativen, neoliberalen und autoritären Regierung im Mai 2002 konnte sie durch den «Druck der Straße» und die sozialen Widerstände zum Nachgeben gezwungen werden. Der Premierminister Dominique de Villepin, über den sich hartnäckig Gerüchte bezüglich Rücktrittsabsichten halten, traut sich im Augenblick fast keine potenziell umstrittene Maßnahme mehr zu ergreifen. So zog er die Gesetzesvorhaben zurück, die ein verschärftes Rauchverbot auf allen öffentlichen Plätzen sowie eine strengere Reglementierung von Trödelmärkten vorsahen – aus Angst, die Studierenden könnten vielleicht auch Raucher/innen sein, wie sarkastisch kommentiert wurde. 

Noch selten waren ein amtierender Präsident und sein amtierender Premierminister gleichzeitig derart heftig angeschlagen. Laut 'Le Monde' vom 24. April kann Staatschef Chirac noch auf positive Popularitätswerte von 29 Prozent (gegenüber 70 Prozent offen geäußerter Ablehnung) blicken, sein Premier Dominique de Villepin gar nur noch auf 24 Prozent Zustimmungswerte bei 74 Prozent negativen Äußerungen. Ähnlich schlechte Popularitätswerte kannten zuvor die beiden konservativen Premierminister Alain Juppé (nach dem Streikherbst im November/Dezember 1995) und Jean-Pierre Raffarin im Zeitraum 2004/05, wobei letzterer immerhin fast drei Jahre benötigt hatte, um so tief in der Gunst der öffentlichen Meinung abzusinken. Und vor allem konnte der aktuelle Regierungschef auch das Staatsoberhaupt auf dramatische Weise mit "hinunter ziehen". In jüngerer Vergangenheit war Chirac vom drastischen Popularitätsverlust seines damaligen Premierministers Raffarin noch eher vorschont geblieben: Dem Premier blieben die unpopulären sozialen Einschnitte einbehalten, dagegen blieb Präsident Chirac (und seinem früheren Berater und damaligen Außenminister: niemand anders als de Villepin!) blieb die in der Öffentlichkeit durchaus geschätzte "Opposition gegen die US-Amerikaner" während des Irakkriegs vorbehalten. Erst nach dem misslungenen Referendum über den EU-Verfassungsvertrag im Frühsommer 2005 war Jacques Chirac (kurzfristig) ähnlich tief abgerutscht wie jetzt. Nun hat es also die beiden letztgenannten Protagonisten Chirac und de Villepin, alle beide auf einmal, kräftig erwischt. 

Die Wählerschaft der 2002 als konservativ-bürgerliche Einheitspartei gegründeten UMP ist unterdessen in zwei annähernd gleich große Blöcke gespalten. (Vgl. dazu auch den Leitartikel in Le Monde vom 24. April.) Ungefähr die Hälfte befürwortet die Rücknahme des CPE, zu der Premierminister de Villepin am 10. April gezwungen worden war (nachdem zuvor auch ein Teil der UMP-Wählerschaft sich kritisch bis ablehnend zum CPE geäußert hatte). Eine ungefähr gleich große Hälfte jedoch bedauert laut den verfügbaren Umfragewerten, dass die Regierung "dem Druck der Straße nachgegeben" habe. In diesem Sinne agitiert auch die äußerste Rechte unter dem Rechtskatholiken Philippe de Villiers und rund um den Altfaschisten Jean-Marie Le Pen, die beide das "Einknicken" der konservativen Regierung im Namen des Autoritätsanspruchs des Staates - der nicht hätte sträflich geschwächt werden dürfen - denunzieren. 

Was folgt auf den CPE? 

Der CPE wurde inzwischen durch eine neue Bestimmung ersetzt, die im Prinzip nur die x-te Neuauflage des altbekannten Prinzips der «Unterstützung von Beschäftigung» durch finanzielle Stimulierung der Unternehmen darstellt. Dieses neue "Gesetz über den Zugang von Jugendlichen zum Erwerbsleben im Unternehmen" wurde jetzt am vorigen Samstag (22. April) im 'Journal officiel' publiziert, dem französischen Amtsblatt oder Gesetzesanzeiger, und damit in Kraft getreten, an die Stelle des bisherigen Artikels 8 des "Gesetzes zur Chancengleichheit" tretend. Der CPE ist also definitiv tot.

Einmal mehr werden mit dem neuen Gesetz den so genannten Arbeitgebern Senkungen bei den Sozialabgaben und Lohnnebenkosten gewährt, falls sie die Gunst erweisen und bestimmte Arbeitskräfte einstellen – in diesem Fall unter 26jährige in unbefristeten Verträgen. (Dazu kommentiert die Wochenzeitung ‘Canard enchaîné' vom 12. April lakonisch: «Bei diesem Rhythmus dürften die französischen Unternehmer alsbald genauso gedopt sein, wie ein Bergfahrer der Tour de France.») Nichts Erfreuliches, aber ansonsten auch nichts Dramatisches oder Gravierendes, sondern nur der allerneueste Wiederaufguss einer altbekannten Politik, also kaum geeignet, irgend einen Skandal zu erregen. Die Gewerkschaften haben sich mit diesen Ersatzregeln für den CPE längst abgefunden. 

300 Millionen Euro werden dafür aufgewendet, was ohnehin – würde es sich um einen ernst gemeinten Versuch der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit handeln – nur ein Tropfen auf den heißen Stein wäre. Im Prinzip werden die 300 Millionen ohnehin nur ausgegeben, damit der (noch?) amtierende Premierminister sein Gesicht wahrt und nicht völlig mit leeren Händen dasteht. Zusätzlich wird noch ein Betreuer bei der Jobsuche für die unter 26jährigen geschaffen, in den französischen Arbeitsagenturen. Unabhängig davon, wie man eine solche Bestimmung inhaltlich bewertet, kann man doch feststellen, dass sie über das symbolische Stadium nicht hinauskommt. «Le Canard enchaîné» zufolge wird es einen Betreuer für 120 junge Arbeitssuchende geben, während dieses Verhältnis in den Niederlangen 1 : 26 beträgt und in Dänemark 1 : 35. Aber vielleicht lässt man dann wenigstens den armen Arbeitslosen etwas mehr Ruhe, anstatt sie ständig mit saudummen «Angeboten» zu drangsalieren?  

Zu den Perspektiven der Protestbewegung 

Um dieselbe Zeit versuchte der politisierte «harte Kern» vor allem der studentischen Protestbewegung, keine offene Kluft zwischen studentischem Publikum einerseits, der Jugend aus dem Proleriat oder Subproletariat andererseits auftreten zu lassen. Mindestens im studentischen Teil der Protestbewegung war es bis zuletzt Konsens, dass die Rücknahme des gesamten Maßnahmenpakets unter dem Namen «Gesetz für Chancengleichheit» und nicht allein des umstrittenen Arbeitsvertrags CPE – den der Artikel 8 des Gesetzespakets einführte – gefordert wurde. Dies widerspiegelte sich nahezu systematisch in den Beschlüssen von Vollversammlungen und auf den Fronttransparenten studentischer Demoblöcke. Das Maßnahmenbündel hat es auch über den jetzt zurückgezogenen CPE hinaus in sich, und enthält beispielsweise die Legalisierung von Lohnarbeit ab 14 Jahren (statt bisher 16), von Nacht- und Wochenendarbeit ab 15. Es sieht auch die Kollektivbestrafung von Familien in sozialen Schwierigkeiten vor, wenn deren Jugendliche zu häufig die Schule schwänzen: Ihrer Familie sollen dann bestimmte Sozialleistungen gesperrt werden. Der Großteil dieser Bestimmungen hat spezifisch die Jugend aus Unterschichtsfamilien in den französischen Trabantenstädten im Visier. 

Aus diesem Grunde hielt ein Gutteil der Protestaktivisten vom «harten Kern» der Anti-CPE-Bewegung es für dringlich geboten, gerade auch jetzt weiterhin gegen das Gesetzespaket zu mobilisieren. Denn ansonsten dränge sich der Eindruck auf, dass es ihnen in Wirklichkeit doch nur um die Belange ihrer studentischen Klientel gegangen sei. Einer solchen Tendenz wollte zumindest der politisierte Teil der Protestbewegten von Anfang an entgegen wirken. 

Nachdem der CPE als äußerst zugkräftiges Negativsymbol, das unterschiedliche Kräfte im Protest zusammenhielt, nunmehr vom Tisch ist, stellt sich die Frage nach Möglichkeiten zur Fortsetzung der sozialen Widerstände. Dass die Breite der Mobilisierung sich nach diesem wichtigen Teilerfolg so nicht aufrecht erhalten lässt, damit war zu rechnen. In relevanten Teilen der Studierendenschaft tritt, nach über zwei Monaten ohne Vorlesungsbetrieb und mit ununterbrochener Mobilisierung zumindest des «harten Kerns», eine unübersehbare Ermüdung ein. Wachsende Teile fangen an, ernsthaft zu befürchten, ihr gesamtes Studienjahr zu verlieren, was sich viele von ihne kaum erlauben können. Nach den Frühjahrsferien stehen, im Mai, die Jahresendprüfungen dann dicht bevor, auch wenn derzeit in vielen Hochschulen über ihre Verschiebung oder über alternative Prüfungsmodalitäten verhandelt wird. 

Auch innerhalb der radikalen Linken tritt dennoch ein Teil der Aktiven für eine Beendigung der Proteste in ihrer jetzigen Form, und einen Neuanfang nach der Urlaubsperiode unter veränderten Formen ein. Ihr wichtigstes Argument lautet, dass man den wichtigen Teilerfolg – die Rücknahme des CPE erzwungen, und den regierenden konservativen Block erstmals seit 2002 zum Nachgeben gezwungen zu haben – jetzt nicht verspielen und in eine Niederlage verwandeln dürfe. Dies drohe aber, falls man einen künftig immer minoritärer werdenden Protest in unveränderter Form fortführe, so dass es danach aussehen könne, als laufe sich die Bewegung ohne Erfolge tot.  

Ende der Blockaden an den Universitäten 

Dennoch wurde auch Mitte April noch an mehreren Hochschulen in Vollversammlungen explizit für eine Fortsetzung des Streiks – zumindest bis zu den anstehenden Universitätsferien – votiert, nachdem die Rücknahme des CPE bekannt geworden war. So in Rouen und Toulouse. Andernorts blieb die Mobilisierung zu den Vollversammlungen stark, doch eine knappe Mehrheit stimmte für einen Beendigung des Streiks (wie in Poitiers mit 1.400 zu 1.200 Stimmen). Ähnlich auch in Rennes, wo der Ausstand begonnen hatte und seit acht Wochen andauerte: 2.300 Studierende stimmten am Montag voriger Woche für die Wiederaufnahme des Vorlesungsbetriebs, und 2.000 dagegen. Doch eine neue Vollversammlung kippte dam Mittwoch, 19. April den Beschlss und votierte doch noch für eine Fortsetzung des Streiks. Die Verwaltungsspitze ließdie Hochschule daraufhin völlig dicht machen.

Inzwischen wurden allerdings die letzten Blockaden des Vorlesungsbetriebs überall aufgehoben. Überall, wo die Studierenden im Moment nicht ohnehin schon im 14tägigen Frühjahrsurlaub sind, konnte der Vorlesungsbetrieb wieder beginnen. So inzwischen auch in Nantes, Montpellier und Lille. Am Dienstag, 18. April stimmten zuletzt auch die Studierenden an den Hochschulen Toulouse-2 und Toulouse-3 für eine Beendigung der Blockade. An Toulouse-2 nahmen 1.178 Studierende einen solchen Beschluss an, 883 stimmten in einer Vollversammlung dagegen. An Toulouse-3 stimmte eine Mehrheit für die Fortsetzung von Streiks und Aktionen, aber für die Aufhebung der Blockade des Vorlesungsbetriebs. (Damit wird allerdings ein Streik kaum durchzuhalten sein - da schon nach wenigen Tagen die Nachteile für jene Studierende, die Vorlesungen oder gar Seminarveranstaltungen mit Pflichtanwesenheit versäumen, derart überhand nehmen, dass sie sich unverhältnismäßig selbst bestrafen. Aus diesem Grunde waren ja in der Hochphase der Protestbewegung überall die Blockaden, durch Vollversammlungen mehrheitlich befürwortet, durchgeführt worden.) Die Sorbonne, die historisch älteste Hochschule im Zentrum von Paris, deren Stellenwert in der Bewegung freilich total mythologisch überhöht worden ist, öffnete am Montag (24. April) wieder ihre Pforten, nachdem die Polizeiblockade schon 10 Tage vorher zu Ende ging und nun auch die Hochschulferien dort zu Ende sind. Daraufhin wurde die symbolträchtige Hochschule jedoch kurzzeitig nochmals besetzt, durch circa 200 DemonstrantInnen, die die "Rücknahme des gesamten Gesetzespakets ('Gesetz zur Chancengleichheit')" statt allein jener des CPE forderten und gegen einen Auftritt von Premierminister Dominique de Villepin an der Sorbonne, unter dem Vorwand eines Kolloquiums, protestierten. Am Abend bis gegen 20.30 Uhr war die Sorbonne jedoch durch Polizeikräfte geräumt worden. Grundsätzlich wird seit Wiedereröffnung der Sorbonne der Eintritt polizeilich kontrolliert, d.h. der Besitz von Studentenausweisen wird überprüft, damit nicht "Universitätsfremde eindringen" können.  

Finanzminister Thierry Breton (der ehemalige Konzernchef der privatisierten französischen Télécom) behauptete zu Wochenanfang zunächst öffentlich, die finanziellen Auswirkungen der ehemaligen Besetzungen und Blockaden seien «katastrophal». Pro Universität seien «mehrere hunderttausend Euro Sachschaden» zu verzeichnen. Nachdem der Minister so über den Medien hatte Panik stiften können, widersprach ihm sein Kollege vom Bildungsministerium: Gilles de Robien (UDF, Christdemokrat) räumte am Dienstag ein, dass «die Schäden von geringer Bedeutung sind, berücksichtigt man die Länge der Blockaden» (zitiert nach ‘Libération' vom 19. April). 

Mitte März war de Robien noch selbst in die Kritik geraten, weil er überzogene Angaben über angebliche Sachschäden an der – kurzzeitig besetzten – Sorbonne in Paris verbreitet hatte. Von «500.000 bis eine Million Euro Sachschaden» hatte er gesprochen, und die Besetzer sogar mit Bücherverbrennern und Nazis verglichen, was jedoch eher auf breiten Abscheu über seine geschmacklosen Auslassungen stieß. Dabei schien sich jedoch angebliche Sachschaden vorwiegend auf den Einsatz von Stühlen und einzelnen Tischen zur Verbarrikadierung der Universität zu beschränken, die dadurch vielleicht ein paar Kratzer erhielten. Die angeblich entwendeten Bücher aus der Bibliothek tauchten ausnahmslos wieder auf – sie waren entweder durch bildungshungrige studentische Besetzer/innen zum Lesen benutzt, oder aber in Sicherheit gebracht worden. Augenzeugenberichte sprechen davon, dass studentische Besetzer/innen aktiv die Bücher gegen Hitzköpfes schützten, die auch Bücher dazu benutzen wollten, um sie auf die anrückende Polizei zu werfen. Dafür waren doch Stühle viel besser geeignet... (Tatsächlich gab es während der Besetzung Auseinandersetzungen mit Individuen aus der so genannten Ultralinken; das ist jene kleine Strömung, die die bürgerliche Demokratie und die aus der Arbeiterbewegung hervor gegangenen Bürokratien mit dem Faschismus gleichsetzt. Diese Idioten schafften es, die achttägige Besetzung an der sozialwissenschaftlichen Hochschule EHESS im Pariser Zentrum zu dominieren. Dort führten sie sich als so super-rrrradikal auf, dass sie dekretierten, demokratische Abstimmungen seien «bürgerliches Zeugs», und man selbst durch die eigene Rrrradikalität so sehr legitimiert, dass man dies gar nicht nötig habe. So wurde die EHESS-Besetzung teilweise über die Köpfe der Studierenden hinweg durchgeführt. An der Sorbonne dagegen dominierten die studentischen Besetzer/innen, die sich freilich auch mit ein paar Leuten dieser Tendenz herumzuärgern hatten.)  

Der «schlimmste» Sachschaden an der Sorbonne war wohl der, dass einige Besetzer/innen ihren guten Geschmack dadurch unter Beweis stellten, dass sie einige erlesene Weine aus der Privatbibliothek des Universitätspräsidenten kosteten. Sie hinterließen ihm auch ein Dankschreiben dafür. Aber warum sollte der Bourgeoisie reserviert bleiben, was gut ist... Schäden rief allerdings auch, ähnlich wie andernorts, der Polizeieinsatz zur Räumung der Sorbonne hervor. Um in die besetzte Hochschule einzudringen, und wohl auch um über möglichst beeindruckende Fernsehbilder von den "Schäden durch die Besetzer" zu verfügen, schlugen die Polizisten Fernsterscheiben ein usw. - Anlässlich der Wiedereröffnung der Sorbonne am 24. April tat dann ein Versicherungskonzern der Regierung den Gefallen und evaluierte die entstandenen Schäden auf 550.000 Euro; er machte Schädigungen des Feuerschutzsystems geltend.  

Was ist mit dem CNE, bzw. der Forderung nach Abschaffung desselben ? 

Die Gewerkschaftsführungen ihrerseits reden (im Unterschied zur studentischen Streikkoordination) kaum von den übrigen Bestimmungen des Gesetzespakets «zur Chancengleichheit», über den auch von ihnen bekämpften CPE hinaus. Allerdings hat auch ein Teil der etablierten Gewerkschaften jetzt eine neue Forderung auf die Tagesordnung gesetzt, die auch durch die studentischen Protestierer erhoben wird, nämlich nach Rückzug auch des «Neueinstellungsvertrags» CNE ( Contrat nouvelle embauche ). Anlässlich der bevorstehenden 1. Mai-Demonstrationen möchten die Mehrzahl der institutionalisierten Gewerkschaften sowie die Studierendengewerkschaft UNEF zusammen diese Forderung in den Mittelpunkt rücken. 

Zur Erinnerung: Dieser Sondervertrag (der CNE) funktioniert ähnlich wie der zurückgenommene CPE und hebt den Kündigungsschutz während der ersten beiden Jahre nach Eintritt in ein Arbeitsverhältnis auf. Doch betrifft er nicht die junge Generation, sondern – unabhängig vom Alter – alle Beschäftigten in den Klein- und mittelständischen Betrieben bis 20 Mitarbeiter. Ihn hatte das Kabinett von Dominique de Villepin bereits im August 2005 kraft hochsommerlichem Regierungsdekret, also ohne Parlamentsvotum und in einem Überraschungsschlag, eingeführt. Als das Arbeitgeberlager ab Anfang April seinerseits Druck auf die konservative Regierung ausübte, dass sie den «Ersteinstellungsvertrag» (CPE) für die junge Generation zurücknehmen solle, ging es ihm unter anderem auch darum, gleichzeitig den CNE zu «retten». 

In einem zynischen Kommentar für das ‘Figaro Magazine' (Ausgabe vom 15. April), die konservativ-reaktionäre Beilage der Tageszeitung ‘Le Figaro', war dann auch unter dem Titel «Der CPE ist tot, Es lebe der CNE! » zu lesen: «Im Schiffbruch des CPE bleiben zwei wesentliche Maßnahmen bestehen: Das Eintrittsalter in eine Lehre bei 14, das im ‘Gesetz für Chancesgleichheit' enthalten ist und zu einer Revolutionierung des Schulssystems beitragen könnten, und der CNE vom Hochsommer vorigen Jahres. Indem sie sich auf die (Forderung nach) Abschaffung des CPE konzentrierten, die sie erreicht haben, haben die Gewerkschaftsverbände indirekt den CNE akzeptiert, oder ihn als eine feststehende Tatsache betrachtet. Die Unterzeichnung von 400.000 Verträgen dieses Typs in sieben Monaten sorgte dafür, dass die Abschaffung schwer zu rechtfertigen gewesen wäre. Im Falle ihres Wahlsieges im kommenden Jahres – werden die Sozialisten den CNE abschaffen können, wenn sein Erfolg sich im Jahresrhtyhmus bestätigt ?» Der Kommentar stammt von François d'Orcival, Chefredakteur des Wochenmagazins ‘Valeurs actuelles', das dem Rüstungsindustriellen Serge Dassault gehört, vor allem über Wirtschafts- und Armeethemen berichtet und parteipolitisch sowohl das konservativ-liberale Spektrum als auch die extreme Rechte explizit bedient.

Vor allem die CGT machte unterdessen Anzeichen, den Schwung der jüngsten Proteste dazu zu nutzen, um auch die Abschaffung dieses «Neueinstellungsvertrags» ins Gespräch zu bringen zu fordern. Die Wochenzeitung ‘Le Canard enchaîné' vom 12. April vermeldete jedenfalls: «Was wird man (nunmehr mit der Regierung und/oder dem Arbeitgeberverband MEDEF) verhandeln? Die CGT, die (Gewerkschaft der höheren Angestellten) CGC und (der «unpolitisch»-populistische Gewerkschaftsbund) FO wollen den CNE auf die Tagesordnung setzen.» 

Sogar der Generalsekretär des sozialliberalen Gewerkschaftsverbands CFDT, François Chérèque, forderte (zumindest auf ausdrückliche Nachfrage hin!) in einem Interview mit ‘ Libération' vom 12. April 06, nun Druck in dieser Richtung zu entfalten. Seine Organisation verhält sich aber bisher nicht sonderlich offensiv dazu.

Libération' vom 12. April 2006 : Anderthalb Seiten langes Interview mit François Chérèque, Generalsekretär der CFDT (Auszug)

Frage der beiden ‘Libération'-Journalisten: Werden Sie die Steilvorlage nutzen/verwandeln, indem Sie auch die Abschaffung des CNE fordern ?

Antwort François Chérèque: Heute findet der Kampf gegen den CNE auf juristischem Terrain statt. Und in dem Moment, wo die Regierung eine Debatte über (die Themen Flexibilität und) Absicherung der Erwerbsbiographien eröffnen will, wird es ihr schwer fallen, die Akte CNE nicht zu öffnen. Die CFDT wird es verlangen.

Unter der Formulierung «Kampf gegen den CNE auf dem juristischen Terrain» versteht François Chérèque zweifellos die Serie von Musterprozessen, die die beiden größten Gewerkschaftsdachverbände (CGT und CFDT) gegen willkürliche oder offenkundig diskriminatorische Entlassungen im Rahmen des ‘Contrat nouvelle embauche' vorbereitet haben. Diese Prozesse dürften «immerhin» dazu führen, dass einige der gröbsten Auswüchse – in Form von offenkundiger Arbeitgeberwillkür oder ungeschminkter Diskriminierung – arbeitsgerichtlich sanktioniert werden. Erstmals wurden am 21. Februar dieses Jahres zwei mittelständische Unternehmen deshalb vom Arbeitsgericht in Longjumeau bei Paris verurteilt (Labournet berichtete ausführlich). Die Abschaffung des CNE bedeutet dies jedoch nicht!, sondern lediglich, dass bestimmte Mindeststandards auch bei der Kündigung eines Beschäftigten im Rahmen des CNE Gültigkeit behalten sollen. Es bleibt das große Problem, nachzuweisen, dass eine Kündigung (im Rahmen der Sonderregelungen des CNE, also ohne schriftliche Begründung) tatsächlich aufgrund einer grundsätzlich rechtswidrigen Diskriminierung erfolgte. Oder erfolgt sein könnte - in dem Sinne, dass dies zumindest so hinreichend wahrscheinlich bzw. plausibel ist, dass das Arbeitsgericht deswegen die Motive des Arbeitgebers prüft. Auf alle Fälle wird der Rechtsschutz gegen Willkürmaßnahmen und Diskriminierung bei der Entlassung durch den Wegfall der Erfordernis zur schriftlichen Begründung stark erschwert – auch wenn er theoretisch durchaus nicht völlig entfällt. 

Inzwischen hat auch die CGT zu erkennen gegeben, dass sie in der derzeitigen Lage eher auf die «juristische Schlacht» (mit ihren inhaltlichen Grenzen, s.o.) denn auf die Entwicklung neuer Massenproteste, um den CNE seinerseits zu kippen, vertraut. Die Wirtschaftstageszeitung ‘Les Echos' vom gestrigen Mittwoch (19. April) schreibt dazu: «Gestern hat die CGT bekannt gegeben, dass sie noch immer das Ziel der Abschaffung des CNE verfolge, aber dass dieser Kampf zweifellos zunächst über die Gerichte verlaufe.» Und in einem anderen Artikel weiter hinten zitiert die ungefähr mit dem ‘Handelsblatt' vergleichbare Zeitung dann auch die Worte des CGT-Generalsekretärs Bernard Thibault, der am Vortag eine Pressekonferenz anlässlich des bevorstehenden Kongresses der CGT – er findet vom 24. bis 28. April in Lille statt – abhielt.  

Die Wiedergabe von Thibault Pressekonferenz durch ‘ Les Echos' im Originalton:

«Es bleibt, dass zwar der CPE verschwunden ist, aber dass der Contrat nouvelle embauche, sein großer Bruder, immer noch da ist. Den Kritikern zuvor kommend, die sich zweifellos anlässlich des Kongresses äußern werden, erklärte der Generalsekretär auf die Frage nach den einigen Studenten, die ihre Bewegung für die Abschaffung des CNE fortsetzen: Es sei ‘nicht sicher, dass man am besten Gehör findet, indem man diese Aktionsformen fortsetzt'. Denn um zu gewinnen, brauche man ‘ein geeignetes Kräfteverhältnis'. ‘Wir werden alle Justizwege, die uns zur Verfügung stehen, ausschöpfen', betonte er, und fügte hinzu, dass die CGT ‘sehr rasch Mittel und Wege finden muss, um die Rekrutierung (von Arbeitskräften) per CNE zu unterbrechen.»

Letztere geht unterdessen im Moment noch – allem Anschein nach – ungebrochen weiter. Einem anderen Beitrag in der oben zitierten Ausgabe von ‘Les Echos' (übertitelt mit «Die Zahl der Einstellungen per CNE bleibt hoch, trotz der Debatte über die Prekarität») zufolge wurden seit der Einführung dieses «Neueinstellungsvertrags» im vorigen Hochsommer bisher 410.000 Arbeitsverträge vom Typ CNE abgeschlossen. Im Januar dieses Jahres waren es demnach 60.000, und im Monat März «auf dem Höhepunkt der Anti-CPE-Bewegung» (so ‘Les Echos') waren es 52.000 CNE-Verträge. Ihre Zahl war demnach im März etwas höher als im Februar dieses Jahres, und berücksichtigt man die jahreszeitlich bedingten Effekte, dann konnte bisher keine Verlangsamung bei der Nutzung des CNE durch die Unternehmen beobachtet werden. 

11 Prozent aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge (im nationalen Durchschnitt) sind demnach Sonderverträge vom Typ CNE. Die Zahlenangaben wurden allerdings, dem ‘Canard enchaîne' zufolge, nach ihrer Berechnung durch die Sozialversicherungskassen (die die Lohnnebenkosten einnehmen und deshalb statistische Erhebungen durchführen) mehrere Tage lang im Arbeitsministerium blockiert. Insofern kann man wohl davon ausgehen, dass man seitens der Regierung die Statistiken sorgfältig auf ihren politischen Effekt hin durchleuchtet hat, bevor die Zahlen an die Öffentlichkeit gegeben wurden.

Der Arbeitgeberverband MEDEF seinerseits signalisierte in der vorigen Woche, nach dem Rückzug des CPE, dass er Verhandlungen mit den Gewerkschaften über die Themen «Flexibilität und Sicherung der Erwerbsbiographien» aufnehmen wolle. Sicherlich, um seine Forderung nach «stärkerer Fleixibilitä» zu legitimieren und potenziell mit einer sozialen Abfederung zu verbinden. Doch diese Woche erwies sich, dass diese Verhandlungsbereitschaft stark relativiert gesehen werden muss. Laut ‘Canard enchaîné' trat die MEDEF-Präsidentin Laurence Parisot den Gewerkschaften erst einmal mit dem Ansinnen gegenüber, einen allgemeinen «Tour d'horizon» über alle möglichen Verhandlungsthemen (die man Revue passieren lassen kann) anzufangen. Dies bedeute, so werden gewerkschaftliche Verhandlungsführer durch die Wochenzeitung zitiert, «dass wir schnell verstanden haben, dass sie es vermeiden möchte, irgendwelche Verhandlungen vor dem Sommer dieses Jahres zu eröffnen.»  

Überwindung der Spaltung zwischen öffentlich Bediensteten und Lohanbhängigen der Privatwirtschaft? 

Welche Kräfte die jüngste Sozialbewegung, auch über das – vorläufige? - Abklingen der jüngste Straßenproteste in den bisherigen Formen hinaus, noch entfalten oder hervorrufen kann, ist bisher unbekannt. Auffällig an dieser Protestbewegung war unter anderem, dass es dieses Mal in einem während der letzten Jahre weitgehend unbekannten Ausmaßgelungen ist, auch Beschäftigte von kleinen Unternehmen des privatwirtschaftlichen Industrie- und Dienstleistungssektors zu mobilisieren. 

In den zurückliegenden 15 Jahren waren es vor allem die öffentlich Bediensteten, die aktiv in Form von Arbeitsniederlegungen an größeren gesamtgesellschaftlichen Protestbewegungen teilnehmen konnten. Da auf ihnen der Druck des drohenden Jobverlusts nicht so drastisch lastet wie auf den Privatbeschäftigten, galten sie als relativ «geschützter Sektor». Im Streikherbst 1995, als alle wichtigen öffentlichen Dienste lahmgelegt wurden, erfanden Soziologen und Kommentatoren dazu das Wort vom «Stellvertreterstreik» ( grève par procuration ): Die Lohnabhängigen im Privatsektor konnten es sich zwar kaum erlauben, selbst zu streiken, aber erklärten in sämtlichen Umfragen ihre massive Unterstützung für die Ausständischen. Obwohl sie durch das vier Wochen dauernde Ausfallen sämtlicher Züge, öffentlicher Nahverkehrsmittel, des Postverkehrs und des Schulunterrichts für ihre Kinder doch ziemlich massiv beeinträchtigt wurden, bröckelte diese Sympathie kaum.  

Doch diese «Rollenaufteilung» konnte im diesjährigen Protest erstmals nach Jahren aufgebrochen werden. Obwohl viele Privatbeschäftigte aus Angst um den Arbeitsplatz nicht explizit streikten, sondern sich oftmals einen Tag freinahmen oder nach der Frühschicht zur nachmittäglichen Demo kamen, kamen sie doch in großer Zahl zu den Mobilisierungen. Und sie ließen sich auch identifizieren, indem sie gemeinsam mit ihren Kollegen auftraten und ihre Arbeitsplätze durch gemeinsame Transparente kenntlich machten. Da zugleich im öffentlichen Sektor die Mobilisierung dieses Mal nicht wirklich durchschlagend war (je nach betroffenem öffentlichen Dienst betrug die Streikbeteiligung anlässlich der Höhepunkte der Anti-CPE-Mobilisierung, an den beiden Aktionstagen vom 28. März und 04. April, zwischen 20 % und 50 %) lag damit keine riesige Kluft mehr zwischen den öffentlichen Diensten und der Privatindustrie bzw. dem privaten Dienstleistungssektor. Der "Schlüsselsektor", der die gesamte übrige Mobilisierung wie eine Mobilisierung zog, waren anlässlich der letzten großen Streikwellen von 1995 und 2003 die Eisenbahner/innen im erstgenannten Fall, die Lehrer/innen im zweiten Falle gewesen, also jeweils bestimmte Beschäftigtenkategorien in den öffentlichen Diensten. Dieses Mal hingegen waren die Jugendbewegung und die Studierenden der am stärksten mobilisierte "Schlüsselsektor", und die Ausstrahlung ihrer Aktivitäten auf den Privatsektor einerseits und die öffentlichen Diensten andererseits fiel nicht sooo dramatisch unterschiedlich aus. 

Im studentischen Teil der Proteste und in der Jugendbewegung wurde das Einsetzen eines Politisierungsprozess offenkundig. Auch wenn die Inhalte anfänglich vielfach an ihrem vorab schon politisierten «harten Kern» hingen, so konnte es dennoch zum allgemeinen Konsens erhoben werden, dass die Forderungen auch auf die Abschaffung des CNE und des gesamten Gesetzespakets «zur Chancengleichheit» erstreckt wurden. Das Bewusstsein, dass nicht nur die Studierendenschaft von den angesprochenen Problemen betroffen war, konnte breite Verankerung finden. Von Anfang an ging es nicht nur um Interessenpolitik für die Studierenden, sondern wurde um Solidarität mit anderen und oft noch schlechter gestellten Gesellschaftsklassen und –schichten gerungen.  

Ansätze für (allgemeinere) Politisierung  

Insgesamt bildete die Anti-CPE-Bewegung überwiegend einen Abwehrkampf gegen eine drohende gravierende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Im Kern stand die Abwehr dieser sozialen Regression, die durch das Negativsymbol des CPE verkörpert wurde, ohne sich in ihm zu erschöpfen – und nicht die Durchsetzung einer positiv ausformulierten, allgemeinen sozialen Utopie. Aber innerhalb dieses Interessenkampfs fanden die ganze Zeit über auch andere Anliegen, die mit sozialer Emanzipation zusammenhängen, Anküpfungspunkte. 

Seit Mitte März dauert beispielsweise die, noch immer anhaltende, gemeinsame Besetzung eines öffentlichen Gebäudes durch Studierende und Sans papiers – illegalisierte Einwanderer – im südlichen 13. Pariser Bezirk. «Gegen die Prekarisierung der Jugend, gegen die Prekarisierung der Lebensbedingungen von Einwanderern» lautet die gemeinsame inhaltliche Grundlage. Im Kontext der Protestmobilisierung gegen den CPE nahm auch die Mobilisierung gegen den neuen Entwurf für eine verschärfte Ausländergesetzgebung, die Innenminister Nicolas Sarkozy am 02. Mai 2006 im Parlament einbringen wird, ihren Aufschwung. In den vorigen Wochen fing dieser Protest gegen das neue Zuwanderungsgesetz an, sich zu formieren -und die massive Verbreitung von Handzetteln in den Demos gegen den CPE machte das erste Politkonzert gegen die Sarkozy-Vorlage am 02. April in Paris zum vollen Erfolg. Über 10.000 vorwiegend junge und sehr junge Leute kamen. 

Politisch engagierte Schwulenverbände wie die «Rosa Panther», die mit ihrem eigenen Demoorchester – das sich anlässlich der Krawalle im Anschluss mutig vor die uniformierten Ränge der CRS stellte - unterwegs waren und große Aufmerksamkeit erregten, gehören ebenfalls zum Bild der Demonstrationen. Sie und die militante AIDS-Hilfevereinigung «Act up!» zogen auch inhaltliche Verbindungen zum gemeinsamen Anliegen sämtlicher Demonstranten. Act Up! entwickelte etwa eine spezifische Argumentation. Die Organisation wies darauf hin, dass willkürliche Entlassungen, die im Rahmen des CPE oder CNE nicht länger begründet werden müssen – und gegen die also der Rechtsschutz entfällt – die Tür für Homophobie und sexuelle Erpressungen am Arbeitsplatz öffnen. 

In Lyon kam es am Samstag, 18. März dieses Jahres zu einem Zusammenstoßzwischen einer größeren Anti-CPE-Demo und einem Aufmarsch türkischer oder türkischstämmiger Rechtsradikaler und Nationalisten, die dagegen protestieren, dass in der Stadt ein Denkmal für die Opfer des Völkermords an den Armeniern errichtet wird. Der gegen die Genozidopfer gerichtete Zug von 3.000 türkischstämmigen Rechten wurde aus der Anti-CPE-Demo heraus militant angegriffen. 

Auch ohne falsche Parallelen zum französischen Mai 1968 und seiner revolutionären Begleitmusik zu ziehen, lässt sich doch feststellen, dass sich relevante Teile einer neuen Generation in dieser Protestbewegung politisiert haben dürften.  

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 30.4.2006 vom Autor.