Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
05/06

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II. URCHRISTENTUM UND MITTELALTER

I. URCHRISTENTUM
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1. Das vorchristliche Palästina.

Über alle Maßen tragisch gestaltete sich die politische Lage und der Seelenzustand der Juden in den letzten zwei Jahrhunderten. Nach ihrer Rückkehr aus dem babylonischen Exil konstituierten die Juden sich als religiöse Gemeinschaft. Die Verfassung war theokratisch, aber politisch bildete Palästina eine unansehnliche Provinz des Perserreiches, dann des mazedonischen Reiches, und nach dessen Zerfall einen Teil Syriens unter der Herrschaft der Seleukiden, die nach und nach eine Hellenisierung der Juden anbahnten. Aber als Antiochus Epiphanes (168) den Jahwedienst gewaltsam auszurotten versucht und viele Märtyrer gemacht hatte, erhob sich das Volk in einer nationalen Revolution, schlug die seleukidi-schen Truppen und errang unter Juda Makkabi die politische Selbständigkeit. Diese wenigen Jahre der tiefsten Erniedrigung und der wunderbaren Errettung stärkten das Judentum außerordentlich. Damals entstand das Buch Daniel, in dem die Vernichtung der imperialistischen Weltreiche und die Entstehung des Gottesreiches unter der Oberherrschaft der Juden geweissagt wird: „Die Gewalt der vier Raubtiere war zu Ende, und ich sah, es kam einer in des Himmels Wolken, wie eines Menschen Sohn, bis zu dem Alten, und der gab ihm Macht, Ehre und Reich ohne Ende... Und Reich, Ehre und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volke des Höchsten gegeben werden auf ewig" (Kapitel 7). Ein Reich der Menschheit soll unter jüdischer Oberherrschaft an Stelle der imperialistischen Raubreiche gegründet werden. Das war das Ideal.

Inzwischen regierten die Makkabäer. Es bildeten sich unter den Juden drei Richtungen: die Sadduzäer, die Pharisäer und die Essäer. Die Sadduzäer bestanden aus dem Priesteradel und sonstigen Aufgeklärten, die dem Hellenismus anhingen und an eine besondere Judenmission nicht glaubten. Es waren die staatsmännischen Realpolitiker, denen eine jüdische Weltherrschaft als unmöglich, als lächerlich erschien. Sie bildeten eine kleine Minderheit. Die Pharisäer umfaßten die Mittelklassen, die eine streng jüdische, gesetzliche Richtung beobachteten; die Juden sollen ein heiliges Volk, ein Priestervolk werden. Das war ihr Reich Gottes. Bei den Pharisäern verbanden sich nationale und religiöse Momente aufs innigste. Die dritte Richtung war die essäische: ein kleiner Teil der Juden wandte sich, wie bereits berichtet wurde, von allen nationalen und staatlichen Zielen ab: die Essäer lebten kommunistisch, strebten nach einem sittlich reinen Menschentum, nach einem wahren Gottesreiche ohne Staatszwang, ohne Regierungs- und Priestergesetze, sondern wo einzig und allein der soziale Dienst zum Wohle der Allgemeinheit freiwillig, aus innerem Drange, geleistet wird. Sie hielten sich von allem Parteigezänk, von allen Herrschaftsgelüsten fern und kümmerten sich nicht um den Hader zwischen Sadduzäern und Pharisäern.

Etwa ein Jahrhundert dauerte die politische Selbständigkeit Judäas. Das Wirtschaftsleben erstarkte, der Ackerbau blühte auf, Handwerk und Gewerbe wurden geachtet, auch die Schriftgelehrten hielten es für eine Pflicht, körperliche Arbeit als Grundlage ihrer Existenz zu leisten. Eine kleinbürgerliche Behäbigkeit, Frömmigkeit und Sittlichkeit herrschte vor. Bald sollte sich dieser Zustand ändern. Im Jahre 63 eroberte Pompejus Syrien, marschierte in Palästina ein, und inmitten eines priesterlichen Haders, der in Jerusalem tobte, erstürmten die römischen Kohorten die Stadt und — zum Entsetzen der Juden — betrat Pompejus das Allerheiligste des Tempels. Das Land verlor nunmehr seine Selbständigkeit, die jüdischen Könige wurden von Rom abhängig, römische Prokuratoren brandschatzten das Volk, das sich teils durch passiven Widerstand, teils durch Putsche und Aufstände gegen die römische Bedrückung wehrte. Die alte Hoffnung auf das kommende Gottesreich flammte leidenschaftlich auf. Haben die Propheten falsch geweissagt? Hat das Judentum nicht die Gebote Gottes aufs peinlichste gehalten? Und ist das Blut der jüdischen Märtyrer vergeblich geflossen? Nein! Der Messias, der von Gott gesalbte König, mußte bald erscheinen und die Weltherrschaft übernehmen. Volksführer traten auf, neue Parteiungen bildeten sich, darunter eine mit terroristischer Taktik — der nationale Boden wurde zerwühlt. Und nicht nur dieser allein. Auch sozial war die Nation zerklüftet. Von der Stimmung, die damals herrschte, gibt das Lukas-Evangelium Zeugnis, indem es Maria, die Mutter Jesu, bei der ersten deutlichen Empfindung der Schwangerschaft, Gott preisen und von ihm sagen läßt: „Er übt Gewalt gegen die Hoffartigen; er stürzt die Hohen und erhebt die Niedrigen; er sättigt die Armen mit Gütern und läßt die Reichen leer" (Kapitel i, 51—53). Nach außen und innen war Judäa ein Schmelzofen, in dem die erhabensten nationalen und sozialen Leidenschaften lohten. Wie so oft im jüdischen Leben, wenn schwere Bedrückungen auf dem Volke lasten, oder wenn erschütternde weltpolitische Ereignisse platzgreifen, war unter den Juden das Gefühl verbreitet: „Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen ist das Reich Gottes; die Ankunft des Messias kann nicht mehr fern sein."

2. Jesus.

In dieser erhitzten Atmosphäre erschien Jesus. Er entstammte einer Handwerkerfamilie aus Nazareth in Nordpalästina, besuchte dort eine Judenschule, las die Propheten, hörte den Gesprächen in der Synagoge zu, pilgerte jährlich zum Osterfeste nach Jerusalem, dem Mittelpunkte des intensiven Geisteslebens der Juden.

Seine Geistesrichtung wurde bald offenbar. Noch als Jüngling stand er mitten im heißen Ringen seines Volkes. Er liebte Jesaja und las die wunderbare Missionsstelle: „Der Geist des Herrn ist auf mir; er hat mich gesalbt und gesandt, den Armen die frohe Botschaft zu künden, die gebrochenen Herzen zu heilen, die Gefangenen zu trösten, den Blinden die Augen zu öffnen, die Niedergedrückten zu befreien und das Erlaßjahr Jahwes zu predigen" (Lukas 4, 17—20).

Das war der Prolog. Er enthält das Leben Jesu.

Bald zog er auf sich die Aufmerksamkeit seiner Volksgenossen. Seine Persönlichkeit ließ niemand gleichgültig, sein Auftreten war achtunggebietend. Manche erblickten in ihm einen der künftigen Führer im Befreiungskampfe gegen die Römer, und versuchten, ihn für einen der sich vorbereitenden Aufstände zu gewinnen. Zu welchem Zwecke sonst hätte ihm Gott so große Gaben verliehen? Und welches Ziel konnte erhabener sein als das, sein tiefgebeugtes Volk zu befreien?

Anfangs scheint Jesus diesen Versuchungen nicht unzugänglich gewesen zu sein. Die nationalen Leidenschaften brannten lichterloh und entflammten so viele hochherzige Männer für den Befreiungskampf gegen Rom. Warum nicht auch ihn? Aus dieser kurzen Zeit der politischen Solidarität mit seinem Volke mag der Ausspruch stammen: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu senden, sondern das Schwert", denn auf die spätere Periode, in die das Matthäusevangelium ihn setzt (Kapitel 10, 34), paßt er ganz und gar nicht. Nach und nach rang sich Jesus jedoch zu einer ganz anderen Anschauung durch. Nicht durch Schwert noch Gewaltsamkeit, sondern durch geistiges und friedliches Wirken, durch Aufopferung und innere Läuterung wird Judäa sowohl wie Rom vom Übel erlöst. Weltliche Macht versagt und muß auch versagen: Weltliche Macht entstammt dem Prinzip des Bösen, — eine Anschauung, die die ganze katholische Theologie bis spät ins Mittelalter hinein beherrschte.

Der ganze Auf standsplan erschien ihm sodann als eine Versuchung Satans. Vierzig Tage und vierzig Nächte rang er mit ihm in der Wüste: Und wenn wir die Römer besiegen und ihr Reich und ihre Herrlichkeit gewinnen — was dann? Ist der Menschheit geholfen, wenn sie ein Reich der Pharisäer, der Menschensatzungen und Priesterregeln dafür erhält ? Nein! Es steht geschrieben: Du sollst Gott anbeten und ihm allein dienen. Und was Gott will, haben die Propheten den Menschen verkündet:

Soziale Gerechtigkeit, Erlösung der Armen, Verachtung und Verurteilung des Reichtums, Beseitigung aller Gewaltherrschaft, Liebe zu allen Menschen, — ein Menschentum, das das Reich Gottes in sich, in seinem Innern, in seinem Seelenleben trägt.

Das ist das Geheimnis des Reiches Gottes.

Und all die Patrioten und nationalen Revolutionäre verließen ihn. Aber das einfache Volk strömte ihm zu. Er gewann an Anhang und an Jüngerschaft. Als die Menge um ihn versammelt war, bestieg er den Berg und sprach:

Selig sind die Armen, die Bedrückten und Sanftmütigen, die Versöhnlichen und Friedfertigen, die Märtyrer der Gerechtigkeit. Selig sind, die nicht kämpfen und dem Übel nicht widerstehen, sondern Gutes für Böses entgelten. Selig sind, die keine Gerichte haben, keine Strafgesetze kennen, sondern ihre Feinde lieben und für ihre Verfolger beten. Denn die Menschen haben alle nur einen Vater, der im Himmel ist. Sein Reich komme, sein Wille geschehe. Denn sein ist das Reich, sein die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Jesus sagte schien vielgeprüften Volksgenossen: Politische Kämpfe, revolutionäre Aufstände, nationale Kriege, Mord und Totschlag, innere Gesetzesreformen und staatliche Herrschaft werden ihnen nicht helfen, das Ideal der alten Prophetie zu verwirklichen. Das Reich Gottes heißt nicht Herrschaft und Gewalt der Juden über alle Völker; es heißt auch nicht Beobachtung des Tempeldienstes, der synagogalen Zeremonien, priesterlichen Reinigungen und juristischen Gesetze, noch Hochhaltung patriotischer Interessen und nationaler Farben. All das wird vergehen. Das Reich Gottes heißt vielmehr: Erneuerung des ganzen Lebens auf Grundlage uneingeschränkter Menschenliebe, — Barmherzigkeit mit allen Schwachen und Fehlgehenden, unendliches Mitleid mit allen Menschen, Ausgleichung aller Vermögensunterschiede, gemeinschaftliche Arbeit aller für alle. Nur das wird andauern und die Menschen von allem Übel erlösen.

Jesus war die geistige Quintessenz der prophetischen Kulturarbeit, wie wir sie oben (Abschnitt I, Kapitel 2 und 3) geschildert haben. Sein Wirken war offenbar antinational und — nach Ansicht der jüdischen Behörden — auch antireligiös. Seine Propaganda war eine anarchisch-kommunistische. Sie war die spätere stoische Ethik, allerdings vergeistigt, bereichert und vertieft durch die Ergebnisse der intensiven religiösen Kultur des exilischen und nachexili-schen Judentums. Kein Hellene hat je das Gefühl der Sünde und der Heiligkeit, der Gottesfurcht und der Gottfreudigkeit in dem Maße gehabt wie der Jude im Zeitalter Jesu. Es war dieses Gefühl, das die Juden befähigte, sich gegen die römischen Tyrannen zu erheben und jahrelang einen heldenhaften, äußerst opferreichen Kampf zu führen. Aber Jesus ging über das Judentum hinaus. Er zerbrach die nationalen Schranken und zertrümmerte den traditionellen religiösen Bau, der unter soviel Leiden und Herzensängsten von den großen Meistern aufgerichtet worden war. Er war ein „Umstürzler", allerdings ein friedlicher Umstürzler, aber das Friedliche war unerhört umstürzlerisch. Die Juden hätten ihm vielleicht alles verziehen, wenn er seine Popularität dazu benutzt hätte, die nationale Erhebung gegen Rom zu fördern. Sie erbaten sich das Leben Barabbas', der wegen Aufruhrs gegen die römische Herrschaft gekreuzigt werden sollte (Markus-Evangelium 15, 7). Aber Jesus und seine Anhänger waren bereits so weit entfernt vom jüdischen Leben, daß der Evangelist Markus die patriotisch-nationale Tat des Barabbas einen „Mord" nennt. Religiös, politisch und sozial stand Jesus außerhalb der jüdischen und römischen Zivilisation und mußte verurteilt und ans Kreuz geschlagen werden.

3. Kommunismus unter den Urgemeinden.

Unter den unmittelbaren Jüngern Jesu war kein einziger, der sich durch Persönlichkeit oder Wissen ausgezeichnet hätte und auch imstande gewesen wäre, das Werk des unsterblichen Meisters in dessen Sinne fortzusetzen. Die Zeit, in der Jesus seine entscheidende Wirksamkeit entfaltete und sich selber über seine Mission klar wurde, war auch zu kurz, um große Nachfolger heranbilden zu können. Diese Umstände gaben einige Jahre später Paulus die Gelegenheit, die Rolle des Organisators des Christentums zu übernehmen. Paulus stand dem jüdisch-proletarischen Fühlen und Denken fern. Er war Pharisäer, Schriftgelehrter, der durch theologische Skrupel, durch die Unmöglichkeit der Erfüllung der sich fortgesetzt häufenden Gesetze und Vorschriften in seinem Gewissen unsäglich gequält wurde. Das 7. Kapitel seines Sendschreibens an die Römer gewährt einen tiefen, geradezu erschütternden Einblick in seine inneren Kämpfe über Wesen und Wirkung des jüdischen Gesetzes. Es ist nicht unmöglich, daß er hierbei auch beeinflußt war von stoischen Auffassungen über die Gesetze als Symptome der Verderbtheit des vom Urzustände abgefallenen Menschen. Indes, soweit ein Schriftgelehrter durch Vernunft und Gewissen in die Lehre Jesu eindringen konnte, drang Paulus in sie ein. Seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Erziehung nach mußte er ihr jedoch einen konfessionell-dogmatischen Charakter geben. Seine starke Persönlichkeit, durch Heiligkeit, überströmende Menschenliebe und grenzenlosen Glaubenseifer ausgezeichnet, drängte die proletarischen und anarchischkommunistischen Elemente in den Hintergrund. Diese Elemente wehrten sich lange genug gegen Paulus, aber seine Willensstärke und selbstlose, opfervolle Propaganda sicherten ihm den Sieg. Der neue Glaube siegte über die kommunistischen Werke, die proletarische Tendenz des Urchristentums war beseitigt, das Christentum trat seinen Weg zur künftigen Staatsreligion an. Es erwies sich in der Folgezeit als ein so vortreffliches Mittel, die nationalen Tendenzen der römischen Kolonialbevölkerung auszugleichen, daß es sich von Seiten der herrschenden Nation bald einer immer größeren Duldung erfreute und den Sieg über alle anderen religiösen Strömungen, so über den grade unter den römischen Legionären stark verbreiteten Mithraskult davontragen konnte.

In den ersten Jahren nach dem Martyrium Jesu lebten jedoch die ersten Gemeinden, die fast vollständig aus jüdischen Proletariern bestanden, entweder kommunistisch oder im Geiste des kommunistischen Ideals. Sie waren stolz auf ihre Armut; sie waren die „Ebioniten", die Dürftigen und Elenden, die Träger der sozialen Gerechtigkeit. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", hatte Jesus in seiner schlichten, entschlossenen Weise den Jungem erklärt. Und da sie Gott dienen wollten, wandten sie sich vom Mammon ab. Die Urgemeinden lebten kommunistisch oder strebten nach kommunistischer Lebensweise: „Alle, die gläubig geworden, lebten zusammen und hielten alle Dinge gemeinsam... Ihre Güter und Habseligkeiten verkauften sie und teilten sie unter alle, je nachdem einer Not hatte" (Apostelgeschichte 2, 44—45). „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein Eigentum wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam" (a. a. O. 4, 32). Reichtum galt als eine Schande, die Armut aber trug einen fast heiligen Charakter. Alle waren überzeugt, daß der Dienst des Mammons, das Streben nach Besitz und Reichtum unvermeidlich mit Sündhaftigkeit verbunden sei, während die Armut einen Verzicht auf weltliche Annehmlichkeiten und weltliche Macht bedeute.

Die Zunahme der Zahl der Christen, die Ausbreitung der Gemeinden, die Überhandnahme der paulinischen Propaganda und Auffassung des Christentums schwächten den Kommunismus, und an dessen Stelle trat reichliches Almosengeben und eine liebevolle Fürsorge für die armen Brüder und Schwestern. Nach und nach traten jedoch Klassengegensätze im Christentum zum Vorschein; es gab unter den Christen reiche und arme, Unternehmer und Arbeiter, und die alte Brüderlichkeit verschwand. Der Klassengegensatz kam geistig zum Ausdruck im Kampfe zwischen „Glaube" und „Werke". Dieser Konflikt spiegelt sich wider im Jakobusbrief, dessen Verfasser die Lehren Jesu denen des Paulus gegenüberstellt: „Was hilft es, wenn jemand sagt, er habe den Glauben und hat doch die Werke nicht? Kann auch der Glaube ihn selig machen?" Der Jakobusbrief schildert den Stolz der Reichen auf ihren Glauben, ihre Ansprüche auf besondere Ehren in den Christenversammlungen, ihre Heuchelei gegenüber ihren armen Glaubensgenossen und erklärt: „Also auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist tot." Er erinnert die Reichen, daß Gott die Armen erwählt habe, die aber nunmehr von den Reichen ausgebeutet und vor die Gerichte gezogen werden. Deshalb, ihr Reichen, ruft der Verfasser, „weint und heult über das Elend, das euch bevorsteht. Euer Reichtum vermodert, eure Prunkgewänder sind mottenzerfressen; euer Gold und Silber ist verrostet. Ihr habt euch Schätze gesammelt an den letzten Tagen, während ihr den Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgeerntet, vorenthaltet; das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren Gottes" (5, i—4).

Die Klagen des Jakobusbriefes dürfen jedoch nicht verallgemeinert werden. In den ersten drei Jahrhunderten nach Christus war der kommunistische Geist in den Christusgemeinden noch kräftig. Wenn auch den römischen Reichsgesetzen und Einrichtungen passiver Gehorsam geleistet wurde, so waren doch die Christen im allgemeinen nichts weniger als geneigt, sie als gerecht anzuerkennen. Die griechischen und lateinischen Kirchenväter hielten wenigstens theoretisch an den antistaatlich-kommunistischen Lehren fest; sie verurteilten das Privateigentum, die staatlichen Machtansprüche, den Kriegsdienst und den Patriotismus.

4. Der Geist des Urchristentums und der Kirchenväter.

Die drei, vier Jahrhunderte der Jugendzeit des Christentums und das Wirken der griechischen und lateinischen Kirchenväter hinterließen dem Mittelalter eine soziale Überlieferung, die der Herrschaft des Mammons, der Überhandnahme privatwirtschaftlicher, weltlicher und staatlicher Interessen feindlich war und die eigentumslose, asketische (die sinnlichen Gelüste bekämpfende) und kommunistische Lebensweise begünstigte. Insbesondere war es der Bericht der Apostelgeschichte über die jerusalemische Urgemeinde, der bei den edleren Gemütern der neuen Religion die Sehnsucht nach einem Leben der Gemeinschaft wachhielt. Psychologisch trefflich und von tiefer Einfühlung in das jüdisch-christliche Leben zeugend, ist alles, was Ernest Renan über das apostolische Zeitalter schreibt: „Alle lebten daher gemeinschaftlich, ein Herz und eine Seele. Keiner besaß ein persönliches Eigentum. Indem man sich zum Jünger Jesu machte, verkaufte man seine Güter und gab den Ertrag der Gemeinde... Die Eintracht war vollkommen, kein dogmatischer Streit, kein Zanken um den Vorrang. Das zarte Angedenken an Jesus verlöschte alle Zwistigkeiten. Eine lebhafte und innige Freude herrschte in allen Herzen. (Nie hat eine Literatur das Wort „Freude" so oft wiederholt, wie die des Neuen Testaments.) Die Moral war streng ... man gruppierte sich den Häusern nach, um zu beten und sich den ekstatischen Übungen (den religiösen Verzückungen) hinzugeben. Die Erinnerung an diese ersten zwei, drei Jahrzehnte war wie die eines irdischen Paradieses, welches das Christentum nunmehr in allen seinen Träumen verfolgen und wohin es vergeblich zurückzukehren versuchen wird(1)." Wie das goldene Zeitalter das Ideal der antiken Dichter und Denker büdete, so leuchtete die jerusalemische Urgemeinde den Kirchenvätern und allen ernsten Christen als Vorbild voran. Mit diesem Ideal vermischten sich im Laufe der ersten Jahrhunderte die chiliastischen Erwartungen, sowie die wertvollsten Ergebnisse des hellenisch-römischen Denkens: der kommunistischen, religiös-ethischen und naturrechtlichen Lehren Platos, der Stoiker und Neu-platoniker, die sämtlich idealistisch waren, d. h. sie betrachteten die Idee, das Geistige, das Göttliche als die primäre, oberste Macht im menschlichen Leben, das sich ihr also unterordnen müßte: die Idee war das Reale und Vorbildliche. Die Kirchenväter: Barnabas (im ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts), Justin der Märtyrer (um die Mitte des zweiten Jahrhunderts), Clemens von Alexandria (im letzten Viertel des zweiten und ersten Viertel des dritten Jahrhunderts), sein Nachfolger Origines (gest. 244), Tertul-lian (Zeitgenosse Clemens' von Alexandria, wirkte in Nordafrika), sein Nachfolger Cyprian (Zeitgenosse des Origines), Laktanz (wirkte zu Anfang des vierten Jahrhunderts in Nordafrika, Kleinasien und Trier), Basilius von Cäsarea (gest. 379), Gregor von Na-zianz (jüngerer Zeitgenosse des Basilius), Johann Chrysostom (Bischof von Konstantinopel, gest. 407), Ambrosius (Bischof von Mailand, gest. 397), Augu-stinus (354—430, Bischof von Hippo, Nordafrika) waren die Träger dieses religiös-ethisch-philosophi-schen Wissens, und sämtlich waren sie teils mammon-feindlich, teils kommunistisch gesinnt, jedenfalls hielten sie in der Theorie die kommunistische Lebensweise für tugendfördernd und für das Ideal eines Christen. Barnabas, der dem apostolischen Zeitalter am nächsten stand, gebietet in dem ihm zuerkannten Sendschreiben an die Christen: „Du sollst in allen Stücken deinen Nächsten Gemeinschaft leisten und nicht von Eigentum sprechen; denn wenn ihr schon bezüglich der geistigen Güter Genossen seid, wieviel mehr auch hinsichtlich der vergänglichen materiellen Güter." Justin der Märtyrer beruft sich auf die Evangelien Matth. V, 42. 45; VI, 19. 20. 25. 31; Mark. VIII, 36; Luk. VI, 34; IX, 25; XII, 22. 31. 34 und erklärt in seiner „Apologie" (I, 14. 15): „Wir, die wir Reichtum und Besitz über alles liebten, bringen jetzt auch das, was wir bereits besitzen, der Gemeinschaft dar und teilen es mit jedem Bedürftigen." Clemens von Alexandria, der stark unter stoischem Einfluß stand, erklärt: „Nur die Guten können Güter besitzen, gut aber sind nur die Christen, mithin sind die Christen allein fähig, Güter zu besitzen" (Päda-gog III, 6). Aber was bedeutet Besitz? „Nicht wer besitzt und den Besitz hütet, sondern wer ihn mitteilt, der ist reich." Er prägt auch den Satz: „Die Geldgier ist die Burg der Sünde." Origines folgt ihm in diesen Anschauungen. Tertullian, obwohl Sohn eines römischen Hauptmanns in Karthago, ist unbedingter Gegner des römischen Staatswesens und hält es mit den Pflichten eines Christen unvereinbar, einen Posten in einem heidnischen Staate zu bekleiden: „Es lassen sich göttlicher und menschlicher Diensteid, die Fahne Christi und die Fahne des Satans, das Lager des Lichts und das Lager der Finsternis nicht miteinander verbinden" (De Idola-tria", Kap. 19). Er war auch kein Patriot und kein sogenannter Staatsmann; im Jahre 197 schreibt er: „Wir hingegen, die das Feuer der Ruhm- und Ehrsucht vollständig kalt läßt, haben durchaus kein Bedürfnis der Parteistiftung, und es ist uns nichts fremder als die Politik. Wir erkennen nur einen einzigen Staat für alle Menschen: die Welt" („Apologeticum", Kap. 38). In derselben Schrift, die eine Verteidigung der Christen gegenüber den heidnischen Römern darstellt, sagt er auch: „Nur das sind gute Menschen, die gute Brüder sind. Ihr haltet uns freilich vielleicht deshalb für weniger rechtmäßige Brüder, weil wir auch dann Brüder sind, wenn es sich um Familienvermögen handelt, das bei euch in der Regel die Brüderlichkeit zum Scheitern bringt. Und so haben wir, die wir uns nach Geist und Seele vereinigen, kein Bedenken hinsichtlich der Mitteilung unserer Habe. Wir haben alles gemein, nur nicht unsere Weiber." Cyprian begeistert sich an der Schilderung der jerusalemischen Urgemeinde und sagt: „Alles was von Gott kommt, ist unserer Benutzung gemeinschaftlich, keiner ist von seinen Wohltaten und Gaben ausgeschlossen, so daß das ganze Menschengeschlecht Gottes Güte und Freigebigkeit in gleicher Weise genießen darf... Wer auf Erden nach diesem Beispiel der Gleichmäßigkeit Einkommen und Ertrag seines Besitztums mit den Brüdern teilt, ist, indem er sich durch Spenden der Uneigennützigkeit gegen alle wohltätig erweist, ein Nachahmer Gottes des Vaters." Heftig bekämpft Cyprian das Hängen am Besitz: „Wie können die den Himmel erstreben, die durch irdische Begierden hinabgezogen werden! Sie wähnen zu besitzen und sind vielmehr besessen, Sklaven und nicht Herren ihres Geldes." Laktanz wurde stark von Platos „Politeia" beeinflußt und hielt den wirtschaftlichen Kommunismus für möglich, wenn seine Anhänger Gott, die Quelle der Weisheit und Religion, verehren. Nur war er entschieden gegen die Weibergemeinschaft. Wie Plato will auch Laktanz die glücklichen Zustände der Vorzeit in die Gegenwart zurückführen, jenes saturnische Zeitalter, als noch die Gerechtigkeit hienieden weilte, als noch die Erde ein gemeinsames Besitztum aller war, alle ein gemeinsames Leben führten und keiner an dem Mangel hatte, was allen wuchs (Epitome, Kap. 35 bis 38)(2). Basilius der Große (von Cäsarea) klagt in seinen Homilien: „Nichts widersteht der Gewalt des Reichtums, alles bückt sich vor seiner Tyrannei... Bist du nicht ein Habsüchtiger oder ein Räuber? Was du zur Verwaltung erhalten hast, das beanspruchst du als dein Eigentum? Dem Hungernden gehört das Brot, das du zurückhältst, dem Nackten das Gewand, das du in Kisten und Kasten hütest, dem, der barfuß geht, der Schuh, der bei dir verschimmelt, dem Bedürftigen das Geld, das du vergraben hältst." Sein Kampf gegen den Reichtum bleibt keine negative Kritik. Basilius verlangt gemeinschaftlichen Besitz: „Wir, die wir mit Vernunft begabt sind, sollten uns doch nicht grausamer zeigen als die unvernünftigen Tiere! Diese gebrauchen die natürlichen Erzeugnisse der Erde wie gemeinsame Dinge: die Herden der Schafe fressen auf ein und derselben Bergtrift, die Pferde weiden alle zusammen auf ein und derselben Wiese. Wir aber machen uns die Dinge zu eigen, die gemeinschaftlich sind, wir besitzen allein das, was der Gesamtheit gehört." Basilius fordert schließlich auf, nach den Lykurgischen Gesetzen zu leben: „Ahmen wir doch die Hellenen und ihre Lebensweise voller Humanität nach: es gibt Völker unter ihnen, wo eine treffliche Sitte alle Bürger in einem Gebäude um eine Tafel zu gemeinsamer Nahrung versammelt (3)." Gregor von Nazianz schreibt ganz im Sinne der kommunistischen und naturrechtlichen Tendenzen der Kirchenlehrer seiner Zeit. Freiheit und Knechtschaft, Armut und Reichtum sind eine Abkehr vom Urzustände als Folge der Habsucht, des Neides, der Zwistigkeiten, der Sünde. „Du aber, o Christ, schaue auf die ursprüngliche Gleichstellung, nicht auf die nachherige Zertrennung, unterstütze nach Kräften die Natur, ehre die ursprüngliche Freiheit, habe Achtung vor dir selbst, tröste die Armut (4)." Chrysostom befürwortete kommunistische Experimente und berief sich hierbei auf die jerusalemische Urgemeinde: „Denn nicht gaben sie bloß einen Teil und behielten einen ändern für sich, noch auch gaben sie alles gewissermaßen als ihr Eigentum. Sie hoben die Ungleichheit auf und lebten in großem Überfluß... Die Zersplitterung der Güter verursacht größeren Aufwand und dadurch die Armut. Nehmen wir ein Haus mit Mann, Frau und zehn Kindern. Sie betreibt Weberei, er erwirbt außer dem Hause seinen Unterhalt. Werden sie mehr brauchen, wenn sie in einem Hause gemeinsam oder wenn sie getrennt leben? Doch wohl offenbar, wenn sie getrennt leben. Wenn die zehn Kinder auseinandergehen, so brauchen sie zehn Häuser, zehn Tische, zehn Diener und alles andere in gleichem Verhältnis vervielfacht. Und wie steht es mit der Menge der Sklaven? Läßt man nicht diese zusammen an einem Tische essen, um die Kosten zu ersparen? Die Zersplitterung führt regelmäßig zur Abnahme des Vorhandenen, hingegen führen Eintracht und Einklang zu seinem Wachstum. So lebt man jetzt In den Klöstern wie einst die Gläubigen. Wer starb da vor Hunger, wer wurde nicht reichlich gesättigt? Und doch fürchten sich die Leute davor mehr als vor einem Sprung ins unendliche Weltmeer. Möchten wir doch einen Versuch machen und die Sache kühn in Angriff nehmen." So sprach Chrysostom in einer Predigt in Konstantinopel im Jahre 400. Ambrosius hält das Privateigentum für sündhaft; es wurde erst durch die Sünde hervorgerufen. Er verteidigt den stoischen Satz: „Die Natur gibt allen alles gemeinsam. Gott hat in der Tat alle Dinge geschaffen, daß der Genuß für alle gemeinsam sei und die Erde das gemeinschaftliche Besitztum aller werde. Die Natur schuf also das Recht des Kommunismus, die Gewaltsamkeit machte daraus das Recht des Privateigentums" ... „Unser Herrgott hat gewollt, daß diese Erde das gemeinsame Besitztum aller Menschen sei und ihren Ertrag allen darreichen sollte, aber die Habgier hat das Besitzrecht geteilt" (De Nabuthe I, 2; Expositio in Lucam XII, 15. 22—23). Auch Augustinus, der Schüler des Ambrosius, ist in der Theorie dem Kommunismus geneigt. „Wegen dessen, was die einzelnen besitzen, entsteht Streit, Feindschaft, Zwietracht, Krieg, Aufstand, leichte und schwere Sünden, Totschlag. Weshalb entsteht das alles? Wegen das, was wir einzeln (privat) besitzen... Enthalten wir uns also, Brüder, des Privateigentums, oder der Habsucht, wenn wir nicht imstande sind, auf den Besitz zu verzichten" (Kommentar zu Psalm 131, 5—6). Augustmus erklärt ferner: „Wir haben viel Überflüssiges, wenn wir mehr als das Notwendige behalten, ... sei zufrieden mit dem, was dir Gott gegeben hat, und entnimm dem, was du notwendig hast. Das Notwendige ist das Werk Gottes, das Überflüssige ist das Werk der menschlichen Habsucht. Der Überfluß der Reichen ist der notwendige Lebensunterhalt der Armen. Wer überflüssiges Gut besitzt, besitzt fremdes Gut" (Kommentar zu Psalm 147, 12). Das war übrigens Theorie, die man in Predigten benutzte. Im selben Jahrhundert (vom vierten bis zum fünften), als Ambrosius und Augustinus diesen Gedanken Ausdruck gaben, kämpften die Landarbeiter in Nordafrika um den Gemeinbesitz oder wenigstens um Gleichheit des Besitzes und um Freiheit und Gleichheit. Diese ländliche Arbeiterbewegung gegen die Großgrundbesitzer war unter dem Namen Zirkumzellionen bekannt und schloß sich an die donatistische Bewegung an, die ursprünglich eine rein religiös-sittliche oder reformatorische Strömung innerhalb der Kirche war und vom Bischof Donatus geführt und nach ihm benannt wurde. Die Donatisten wandten sich vornehmlich gegen die Mißstände in der kirchlichen Hierarchie (Priesterherrschaft) und verfolgten kirchlich-reformatorische Zwecke. Ihnen schlössen sich die ländlichen Proletarier an, die von dem konzentrierten Grundbesitz in Unterdrückung gehalten wurden. Die Zirkumzellionen griffen auch zur Gewalt. Kirche und Staat, dogmatische Gelehrsamkeit und römische Büttel vereinigten sich und schlugen schließlich die ackerbauenden Proletarier nieder. Augustinus schrieb (411) gegen die Donatisten und Zirkumzellionen, wobei er argumentierte, daß nur die Gerechten ein Recht auf Besitz hätten, während die Donatisten und die Zirkumzellionen dieses Recht nicht haben könnten, da sie sich gegen Kirche und zivile Autorität wandten.

Es war jedoch nicht irgendwelche Theorie, die Augustinus veranlassen konnte, die geistigen Waffen gegen das nach wirtschaftlicher Gleichheit strebende ländliche Proletariat Nordafrikas zu liefern. Er kannte das hellenisch-römische Naturrecht, ebenso den Geist des Urchristentums und der Gnosis. Er war überhaupt einer der gelehrtesten Bischöfe der katholischen Kirche. Aber der Kommunismus oder auch nur die wirtschaftliche Gleichheit gehörten nicht zu den offiziellen Dogmen der Kirche. Und das Offizielle hat seinen Ursprung nicht in der Theorie, son-. dern im praktischen Willen, der aber in der Regel von wirklichen oder vermeintlichen Klassen- oder Gesellschaftsinteressen geformt wird. Wir sehen hier den tragischen Konflikt zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem geistigen Ideal und dem materiellen Leben.

Die kommunistischen Auffassungen der Kirchenväter sind auch noch im kanonischen Recht deutlich spürbar. Dieses Recht, geschaffen von den kirchlichen Autoritäten und Rechtslehrern, liegt im Corpus juris canonici vor. Es entstand im spätem Mittelalter und setzt sich zusammen aus dem „Decretum Gratiani", einem Auszuge aus den Konzilienbeschlüssen, den der Mönch Gratian im 12. Jahrhundert verfertigte; dann aus einer Sammlung päpstlicher Entscheidungen, zusammengestellt im 13. Jahrhundert; schließlich aus späteren kirchlichen Entscheidungen und Gesetzen. Theoretisch wichtig sind das „Decretum Gratiani" und die Glossen (Bemerkungen und Erklärungen) seiner Kommentatoren, da sie dem Geiste des Naturrechts am nächsten stehen. In ihnen offenbart sich eine starke Opposition gegen die Überhandnähme des privatwirtschaftlichen Geschäftslebens. Mit Inniger Freude weisen sie auf die kommunistischen und freiheitlichen Elemente des Naturrechts und sie erklären: „Am süßesten ist der gemeinschaftliche Besitz der Dinge", und sie drücken ihre Ansicht aus, daß „Mein und Dein aus der Sündhaftigkeit entsprangen" (Decretum Gratiani, sec. pars, causa 12, questio I, cap. 2, gloß a). Nur aus der Teilung der Dinge, die gemeinschaftlich waren, kam die Spaltung unter den Menschen. Sondereigentum und Sklaverei sind — nach kanonischem Recht — widernatürliche Einrichtungen, da sie gegen das Naturrecht verstoßen. Gratian beruft sich auf die naturrechtlichen Lehren der Kirchenväter (Decretum D, VIII, i. Teil), wonach alle Dinge das Gemeineigentum aller Menschen sind. Dieser Grundsatz wurde nicht nur von der jerusalemischen Urgemeinde befolgt, sondern er ist auch die Lehre der Philosophen. Deshalb schloß Plato aus seiner Republik, dem gerechtesten Staate, das Privateigentum aus. Nur das Gewohnheitsrecht oder das konventionelle (von Menschen geschaffene) Recht bestimmte das Mein und Dein der Dinge, wie auch Augustinus erklärte, daß nur durch Menschenrecht man sagen kann: „diese Villa ist mein, jenes Haus ist mein, jener Diener ist mein." Das Sondereigentum, meint Gratian, gehörte nicht zur idealen oder vollkommenen Lebensführung; sein Ursprung müsse in den sündhaften Begierden gesucht werden und es stütze sich nur auf das Gewohnheits- oder bürgerliche Recht. Sodann unternimmt auch Gratian den üblichen Rückzug: Hiermit solle nicht gesagt werden, daß, wer Eigentum besitze, sündhaft sei; man müsse sich jedoch vor Augen halten, daß Sondereigentum eine sittlich minderwertige Einrichtung sei und daß man deshalb nicht mehr davon besitzen dürfe als zum Leben nötig sei. Auch Sklaverei sei gegen das Naturrecht, denn ursprünglich waren alle Menschen frei von jedem Zwange und jeder Beherrschung durch ihre Nebenmenschen. Erst die Sündhaftigkeit führte zu Zwang und Herrschaft von Menschen über Menschen (5).

So Gratian, der ganz in Übereinstimmung mit den Lehren der Kirchenväter, insbesondere des Augu-stinus, argumentiert. Die Frage ist nur: Wie kommt es, daß nur die Sklaven die Folgen der Sündhaftigkeit zu tragen haben? Sind die Sklavenhalter nicht sündhaft. Diese Fragen stellten auch die Ketzer, auf deren Geschichte wir eingehen werden, sobald der allgemeine geschichtliche Rahmen geschaffen ist.

5. Gnostische Sekten.

Am kräftigsten und längsten erhielten sich die urchristlichen Anschauungen und Überlieferungen in den ägyptischen und nordafrikanischen Urgemeinden. Alexandria war damals der Hauptsitz urchristlicher Gelehrsamkeit. Aus Alexandria und Karthago stammen die großen Kirchenväter Clemens, Origines und Tertullian. In jenen Ländern blühte auch der Gnosti-zismus — eine weitverbreitete ketzerische Richtung,, die die neue Religion als eine philosophische Wissenschaft (Gnosis heißt auf griechisch: Erkenntnis) auffaßte und sich von den Hauptsätzen des christlichen Glaubens entfernte, aber in ihrer Moral war sie meistens asketisch (gegen die Sinnlichkeit) und verachtete Besitz und Reichtum.

In Alexandria wirkten auch die Gnostiker Karpo-krates und sein durch Gelehrsamkeit ausgezeichneter Sohn Epiphanes (in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts), die eine christliche Sekte gründeten. Diese Sekte wurde — nach dem Namen ihres Urhebers — Karpokratianer genannt. Sie war vollständig kommunistisch und stark ketzerisch. Wie Clemens von Alexandria mitteilt, begründeten die Karpokratianer den Kommunismus auf folgende Weise:

Die Gerechtigkeit Gottes besteht im wesentlichen aus Gemeinschaft und Gleichheit. Im Weltall ist alles gemeinsam. Der Himmel ist nach allen Richtungen hin gleichheitlich ausgespannt und umfaßt die ganze Erde. Das Licht ist über alle gleich ausgegossen. Die Natur spendet ihre Gaben allen in ihr lebenden Wesen. Die Tiere leben ohne Gesetz und begatten einander ohne Vorschrift und ohne Gebote. Auch Gott gab alles allen. Erst durch die niederen abgefallenen Engel ist die Besonderung und die Unterschiedlichkeit entstanden. An die Stelle des gemeinsamen Besitzes trat das Sondereigentum und die Gesetzgebung zum Schütze dieses Eigentums: es wurden Gesetze gemacht gegen Diebstahl. Auch das Geschlechtsleben war gemeinschaftlich, dann erst kam die geschlechtliche Absonderung und das Verbot des Ehebruchs. Das meint Paulus (Römer, Kapitel 7, Vers 7): „Durch das Gesetz erkannte ich die Sünde." Die Karpokratianer legten diesen Vers so aus, daß durch die Absonderung von der Gemeinschaftlichkeit entstanden die Gesetze, welche alle Taten als Sünde brandmarkten, die gegen das Privateigentum gerichtet waren. Jesus sei gekommen, um das durch die niederen abgefallenen Engel gebrachte Unheil gutzumachen. Er brachte wieder das ursprüngliche Heil der Gemeinschaftlichkeit, das von Gott dem Weltall gegeben worden war, — ein Heil, das die Seele mit Gott vereinigte und alle Gesetze überflüssig machte.

Es gab in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära eine ganze Anzahl ähnlicher gnostischer Sekten, die der kommunistischen Lebensweise anhingen.

6. Das tausendjährige kommunistische Gottesreich.

Während der ersten drei Jahrhunderte war unter den Christen der Glaube fast allgemein verbreitet, daß Jesus bald wiederkehren und auf Erden ein Gottesreich aufrichten, in dem er als König regieren werde. Man stellte sich das Gottesreich sehr irdisch vor. Man dachte es sich als die Wiederkehr des goldenen, urkommunistischen Zeitalters, wo vollständige Gleichheit herrschen wird und wo die Natur, befreit vom Fluche des Sündenfalls oder von der harten Herrschaft Jupiters, wieder mühelos und in wunderbar gesteigerter Segensfülle ihre Gaben hervorbringen wird. Die Quellen dieses Glaubens sind für den, der unsere früheren Ausführungen aufmerksam gelesen, leicht zu finden: Jüdische Prophetie, Hesiod, Vergil. Die alten Propheten weissagten, daß die Juden, durch Leiden, Bedrückungen und Buße geläutert, zur Weltherrschaft unter Jahwes Leitung berufen würden, und diese Weltherrschaft würde die soziale Gerechtigkeit, den ewigen Frieden in Geschichte und Natur, und die Lebensfreude aller herstellen. Eine Anwendung dieses Glaubens auf die Christen macht die Offenbarung (Apokalypse) Johannis (Kapitel20, i—6), die nach den neronischen Christenverfolgungen niedergeschrieben wurde. Dort wird gesagt, daß Gott den Teufel (die weltliche Macht) für eine Periode von 1000 Jahren fesseln und in den Abgrund schleudern werde, worauf die Märtyrer wieder auferstehen und mit Christus dieses 1000 jährige Reich regieren werden. Dieses Reich Gottes heißt deshalb das 1000 jährige Reich, das Millenium, und der Glaube daran heißt Chiliasmus (chilioi heißt auf griechisch: 1000). Die hellenischen und römischen Christen verbanden den Chiliasmus mit der Wiederkehr des goldenen Zeitalters, wie es Hesiod und Vergil geschildert haben. Es ist deshalb nicht überraschend, daß man sich das Reich Gottes als eine Zeit großer materieller und geistiger Freuden vorstellte, als einen vollständig kommunistischen Staat, in dem die Christen, sündenrein wie die ersten Menschen, für alle ihre Leiden und Verfolgungen belohnt würden. Die Massen hingen diesem Glauben mit aller Zähigkeit an und dürften nicht verfehlt haben, in ihrer Phantasie das kommende 1000 jährige Reich mit allen Vorzügen auszustatten. Auch so bedeutende Kirchenväter wie Irenäus (Bischof von Lyon gegen Ende des 2. Jahrhunderts) und Lactanz (zu Anfang des 4. Jahrhunderts) hielten die phantasievollen Schilderungen des Gottesreiches für Glaubenswahrheiten. Insbesondere wurde die mühelose Produktionssteigerung der Erde gern geschildert.

Nach und nach entwich der chiliastische Glaube, ebenso bemühten sich die Theologen, den kommunistischen Geist der Evangelien und der Apostelgeschichte durch Auslegungen hinwegzuerklären. Das Christentum wurde im 4. Jahrhundert staatserhaltend. Der Kommunismus flüchtete sich in die Klöster und zu den Ketzern, aber bei allen Erhebungen im Mittelalter und in der Neuzeit lebten die kommunistischen und chiliastischen Bestrebungen wieder auf, so insbesondere bei den Wiedertäufern und in der englischen Revolution. Das Christentum war jedoch die einzige lebenskräftige Organisation des Reiches. Im 3. Jahrhundert verspürten die römischen Kaiser schon sehr deutlich seine Macht, aber sie kannten nicht seine innere Wandlung von einer Sozialrevolutionären Bewegung zu einer staatserhaltenden Macht. Sie versuchten es noch einmal mit umfassenden Verfolgungen der Christen. Bald aber gaben sie die unzeitgemäße Taktik auf und gewährten dem Christentum die Gleichberechtigung mit den anderen Religionen (313). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts wurde das Christentum zur Staatskirche. Es siegte, weil es sich den privatwirtschaftlichen und staatspolitischen Einrichtungen des Reiches angepaßt hatte. Es strebte nicht mehr nach kommunistischen Idealen, sondern es stritt um Dogmen, um metaphysische Glaubenssätze: die Massen verstummten, die Theologen führten das Wort.

Anmerkungen

1) Ernest Renan, „Die Apostel" (Reclam-Ausgabe), S. 100—101. Vgl. auch den Artikel von Friedrich Engels „Zur Geschichte des Urchristentums" (1894, Neue Zeit XIII i, S. 4ff., 3611.).

2) Vergleiche oben Teil I, Seite 78.

3) Sommerlad, Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters, Leipzig 1903, Seite 126—135.

4) Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche, 1882, Seite 292; Bruno Bauer, Christus und die Cäsaren, Berlin 1877 (das Christentum als jüdische Form des Stoizismus).

5) Vgl. R. W. und S. ]. Carlyle, History of Mediaeval Political Theory, Edinburg 1903—07, Band 3; ebenso Troeltsch, Gesammelte Werke, Band I.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 125 - 145

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html