Der Mordfall Hatun Sürücü und die Debatte um "Ehrenmorde"
von Justus Leicht
05/06

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Der Mord an der 23-jährigen Hatun Sürücü im Februar 2005 hat über ein Jahr später ein Urteil des Landgerichts Berlin nach sich gezogen - und eine heftige Kampagne von Teilen der Politik und der Medien ausgelöst. Die Tat ist unter breiten Schichten der Bevölkerung auf Entsetzen gestoßen.

Das Landgericht verurteilte den zur Tatzeit 18-jährigen Ayhan, den jüngsten Bruder Hatuns, wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von neun Jahren. Die Höchststrafe liegt bei zehn Jahren. Seine beiden mitangeklagten Brüder, Alpaslan und Mutlu, wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt.

Von welcher Grausamkeit die Tat geprägt war, zeigen die Urteilsgründe:

Hatun Sürücü war 1998 als 15-Jährige vom Gymnasium genommen und in der Türkei mit einem Cousin verheiratet worden. Nach der Geburt ihres Kindes in Berlin weigerte sie sich, in die Türkei zurückzukehren. Ein halbes Jahr später zog sie aus der elterlichen Wohnung aus und begann eine Lehre als Elektrotechnikerin. Sie war dann noch zweimal verheiratet und hatte mit ihrer Familie kaum Kontakt.

Am Tag der Tat hatte Ayhan sie besucht und sie dann auf dem Weg zur Bushaltestelle mit drei Kopfschüssen umgebracht. Er habe die Familienehre aufrechterhalten wollen und sei eiskalt vorgegangen, urteilte das Gericht. Es entschied deshalb auf Mord aus niederen Beweggründen und aus Heimtücke. Ayhan nahm alle Schuld auf sich, die anderen Familienmitglieder bestritten eine Beteiligung, zwei Geschwister von Hatun traten als Nebenkläger auf.

Eine Mitschuld er beiden älteren Brüder konnte die Anklage nicht nachweisen. Der Aussage der Hauptbelastungszeugin, einer früheren Freundin von Ayhan, maß das Gericht als einer "Zeugin vom Hörensagen" (ihre Aussage bezog sich im Wesentlichen auf das, was Ayhan ihr angeblich erzählt hatte) nicht mehr Gewicht bei, als den Angaben der beiden Angeklagten, auch weil ihre Aussage Ungereimtheiten aufwies.

Die Ermordung einer jungen Mutter durch ihren minderjährigen Bruder ist eine schreckliche Tat, die komplexe Fragen nach den sozialen, kulturellen und politischen Hintergründen und Ursachen aufwirft. Doch weder Medien noch Politik zeigten Interesse, diese Fragen differenziert zu klären. Stattdessen wurden Tat und Gerichtsurteil von rechten und klerikalen Kräften für eine ausländerfeindliche Stimmungsmache und den Ruf nach dem starken Staat genutzt.

Als erstes wurde die Behauptung in die Welt gesetzt, die gesamte Familie habe die Tat geplant und ausgeführt, obwohl das Gericht dies ausdrücklich für nicht erwiesen erachtet hatte.

Der Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, erklärte im Boulevardblatt Bild, für ihn stehe "fest", dass die freigesprochenen Brüder "an dieser Tat beteiligt waren". Man müsse annehmen, es habe sich "um ein kollektives Verbrechen einer ganzen Familie" gehandelt.

Ins selbe Horn stieß der Europaabgeordnete der Grünen, Cem Özdemir, der den Gerichtsentscheid mit den Worten kritisierte: "Wenn man weiß, dass solche Mordurteile im Familienrat gefällt werden und der Jüngste ausgesucht wird, weil man bei ihm das geringste Strafmaß erwartet, dann sendet dieses Urteil das falsche Signal in die Gesellschaft."

Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt, das Verbrechen auf den Islam im Allgemeinen und die mangelnde Integrationsbereitschaft von Ausländern im Besonderen zurückzuführen.

Bischof Huber räumte zwar ein, dass "weder die Mordtat noch das Familienbild zwangsläufig mit dem Islam" zusammenhängen, fügte aber hinzu, man müsse "die Unterschiede [zwischen Christen und Moslems] deutlich beim Namen nennen und für unsere eigenen Werte überzeugend einstehen". Huber hatte schon den Karikaturenstreit genutzt, um vor "gewalttätigen Kräften im Islam" zu warnen.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) regierte auf das Berliner Urteil mit seiner altbekannten Forderung, Einwanderer sollten die "deutsche Alltagskultur" akzeptieren. Dazu gehörten die Sprache, die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wer sich nicht integriere, dem solle man Sozialleistungen kürzen und er sollte in seine Heimat zurückkehren, sagte Stoiber der Zeitschrift Focus.

Der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), verlangte - unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens - die kollektive Bestrafung der ganzen Familie. In den Stuttgarter Nachrichten forderte er die Berliner Ausländerbehörde dazu auf, "die Beteiligten an diesem vorsätzlich und kaltblütig geplanten Mord unabhängig vom Strafmaß der Revision auszuweisen". Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU), forderte im Fernsehsender RTL sogar die Schaffung eines Straftatbestands der "Integrationsverweigerung" für Ausländer.

Es ist angesichts des Mangels an objektiven Beweisen kaum möglich, ein abschließendes Urteil über den Mord an Hatun Sürücü zu fällen. Dennoch gibt es genügend Hinweise, die zeigen, wie absurd und verlogen die Kampagne ist, die dieses schreckliche Verbrechen als Ausfluss des Islams oder der Integrationsverweigerung von Ausländern darzustellen versucht.

Als erstes ist anzumerken, dass der Islam die Ermordung von Familienmitgliedern ebenso wenig sanktioniert wie das Christentum. Patriarchalische Familienverhältnisse sind ein soziokulturelles Phänomen. Sie sind sowohl im christlichen wie im islamischen Kulturbereich in Gesellschaften weit verbreitet, die von Rückständigkeit und Armut geprägt sind.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist als Folge der Aufklärung gegen den Einfluss der christlichen Kirche erkämpft worden und hat sich bis heute nicht voll durchgesetzt. Gerade in Gebieten, in denen die Kirche über starken Einfluss verfügt, haben sich patriarchalische Strukturen erhalten. Es ist schon absurd, wenn der Ministerpräsident des stockkatholischen Bayerns sich als Vorreiter der Frauenemanzipation aufspielt. Die katholische Kirche lässt Frauen bis heute weder zum Priesterberuf zu, noch darüber entscheiden, ob sie ein Kind austragen wollen.

Was die "Integrationsverweigerung" betrifft, so müsste ein solcher Straftatbestand tatsächlich eingeführt werden, aber ausschließlich für deutsche Behörden und Politiker, die Immigranten systematisch ausgrenzen und sozial diskriminieren.

Gerade der Fall Sürücü zeigt, dass Ausgrenzung und Diskriminierung wesentlich dazu beitragen, dass längst überwunden geglaubte rückständige Traditionen in der zweiten oder dritten Einwanderergeneration wieder aufleben. Die erste Einwanderer-Generation hatte sich über Arbeitsplatz und Teilnahme an der Arbeiterbewegung relativ schnell integriert. Ihren Nachkommen fällt dies aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und des Niedergangs der offiziellen Arbeiterbewegung wesentlich schwerer.

Von einem in sich geschlossenen Clan, vom allmächtigen Patriarchen beherrscht und nach islamischem Recht lebend, kann bei der Familie Sürücü keine Rede sein. Der Vater war 1974 aus Ostanatolien nach Deutschland eingereist, die kurdische sunnitische Familie bekam insgesamt zehn Kinder, von denen eines durch einen Unfall starb. Die Bäcker-Familie soll "hoch angesehen" gelebt haben. Die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder, auch die Mädchen, wurden laut dem Gutachter des Gerichts zum Schulbesuch ermutigt.

Zu dieser Zeit entwickelte sich die neue Umgebung jedoch nicht zu einer zweiten Heimat, sondern zu einem zunehmend feindlichen Ort. Unter der Regierung von Helmut Kohl stieg die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Ausländern, während die herrschende Politik ständig betonte, Deutschland sei "kein Einwanderungsland". Sie gab unmissverständlich zu verstehen, dass, wer aus der Türkei gekommen war, immer Türke und damit Bürger zweiter Klasse bleiben würde.

Gleichzeitig verabschiedete sich die SPD von ihren Wurzeln in der Arbeiterbewegung. Gewerkschaften und Betriebsräte agierten zunehmend als Ordnungsfaktor und lehnen es ab, selbst die elementarsten sozialen Errungenschaften zu verteidigen.

Die Kinder der Familie Sürücü, Täter und Opfer, sind nicht nur Kinder eines strenggläubigen Vaters, sie sind auch Kinder der deutschen Gesellschaft. Während sie aufwuchsen, erlebten sie die ausländerfeindlichen Kampagnen zu Beginn der 90er Jahre, die in den mörderischen Brandanschlägen von Mölln und Solingen gipfelten, und die Kampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und für eine "deutsche Leitkultur" Ende der 90er Jahre. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 entstand erst recht ein Klima, das Muslime zunehmend mit Terroristen gleichsetzt und sie ständig unter Generalverdacht stellt. Damit ging ein Arbeitsplatz-, Bildungs- und Sozialabbau einher, der Einwanderer als erste und am härtesten trifft.

Die Mitglieder der Familie Sürüncü reagierten, wie viele andere eingewanderte Familien auch. Ihre Reaktion schwankte zwischen dem Versuch, sich anzupassen und auf irgendeine Weise - vom Studium bis zur kriminellen Laufbahn - in der Gesellschaft zu bestehen, und dem Rückzug auf Religion und überkommene Traditionen.

So lebt Zeitungsberichten zufolge der Vater der Sürücüs mittlerweile die meiste Zeit in der Türkei. Der älteste Sohn wurde wegen Drogenhandels verurteilt und saß zum Zeitpunkt des Mordes im Gefängnis. Ein anderer studiert Jura in Köln, fern von Berlin. Seine Frau trägt kein Kopftuch. Mutlu, einer der Angeklagten, soll Kontakte zu radikalen Islamisten unterhalten haben. Ein weiterer Bruder lebt von seiner Frau getrennt.

Arzu, die Schwester Hatuns, lebt noch zuhause, macht das Fachabitur. Sie trat als Nebenklägerin auf und erklärte nach dem Prozess, der geständige und verurteilte Ayhan gehöre nicht mehr zur Familie. Ihr Antrag, für den sechsjährigen Sohn Hatuns zu sorgen, löste bei Politikern, Kirchenfürsten und Medien hysterische Reaktionen aus.

Die älteren Brüder erklären übereinstimmend, seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Hatun gehabt zu haben, ihre Schwester sei ihnen "egal" gewesen. Ayhan, der Todesschütze, behauptet, sich darüber ebenso wie über Hatuns "unmoralischen" Lebenswandel geärgert zu haben. Er hatte eine kaufmännische Ausbildung abgebrochen und suchte Anerkennung in islamistischen Kreisen und durch ein albernes Macho-Gehabe nach dem Vorbild von Mafia-Filmen aus Hollywood. Seine Brüder, aber auch ein Gutachter, bescheinigen dem mittlerweile 20-Jährigen erhebliche Unreife.

Offenbar sah Ayhan in der deutschen Gesellschaft weder eine soziale Perspektive noch Halt und suchte diese - vergeblich - in barbarischen Ideologien von Blut und Ehre. Eine solche Reaktion scheint unter Immigrantenkindern nicht ungewöhnlich zu sein. Sie könnte auch erklären, dass Ayhan tatsächlich ohne Mitwissen der Familie gehandelt hat.

Der Soziologe Werner Schiffauer schreibt dazu: "Neu ist die Betonung der Ethnizität, das zur Schau getragene Bewusstsein, Türke, Araber, ‚Ausländer’ zu sein. Männliche Jugendliche an Kreuzberger Schulen, so wird berichtet, mobben junge Türkinnen, wenn sie kein Kopftuch tragen. Auch die Äußerungen nach dem Mord an Hatun Sürücü deuten in diese Richtung. An der Thomas-Morus-Oberschule in der Nähe des Tatortes sagten Jugendliche, dass man die Täter verstehen könne: ,Die hat doch selber Schuld. Die Hure lief rum wie eine Deutsche.’

Dies korrespondiert mit einem neuen Selbstverständnis jugendlicher Migranten. Je mehr sie in Deutschland heimisch werden, desto mehr nimmt das Bewusstsein von Ausgrenzung zu. [...] Ausschlaggebend waren Erfahrungen von wirtschaftlicher Ausgrenzung, sozialer Diskriminierung und kulturellem Anpassungsdruck. [...] Die Mischung einer gesellschaftlichen Randlage in den Einwanderervierteln und dem Bewusstsein von Differenz kann ein gewaltsames Gebräu ergeben."

Die Antwort von Bosbach, Stoiber und Konsorten besteht darin, diese Entwicklung zuzuspitzen. Die Diskriminierung von Einwanderern wird verschärft. Dem sozialen Niedergang gerade in Einwanderervierteln wird nichts entgegengesetzt, den Folgen mit Zwang und Gewalt begegnet. Am liebsten würde die herrschende Politik wohl alle, für deren Armut und Verwahrlosung sie selbst politisch verantwortlich ist, abschieben oder einsperren.

Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht in der Lage, die meistunterdrückten Schichten zu integrieren und den Einwanderern eine echte Perspektive zu bieten. Das Ergebnis ist die Zunahme von Kriminalität, rechtem Nationalismus und religiösem Fundamentalismus. Einhalt geboten werden kann dem nur, wenn die Arbeiterklasse die Verantwortung für die Einwandererfamilien übernimmt und im Kampf für eine demokratische und sozialistische Perspektive Menschen aller Nationalitäten und Religionen vereint.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel ist eine Spiegelung von
www.wsws.org/de/2006/mai2006/hatu-m11.shtml